Der Kurfürstendamm
Zwischen Gedächtniskirche und S-Bahnhof Halensee liegt, dreieinhalb Kilometer lang, der berühmteste Boulevard der Hauptstadt: Der Kurfürstendamm, einst Magnet für elegantes Publikum und Weltbürger wird 1982 von dem bekannten Reiseschriftsteller Horst Krüger in einem Buch porträtiert, das zum melancholischen Abgesang gerät: Drogenszene, Peepshows, Hütchenspieler und Spekulationsleerstand, Krüger findet wenig Erfreuliches.
"Der Kudamm hat eine großartige Vergangenheit leider gehabt und er hat auch eine großartige Zukunft, aber wir sind im Moment so etwas dazwischen. Es ist ein Werden ...Wir sind in einer Entwicklung."
"Die Männer in der Mittagspause, die sind natürlich hochelegant, aber alle gleich, dadurch, dass das meist alles Banker sind aus irgendwelchen Büros, haben alle Maßanzüge an, dolle Schlipse, dolle Hemden, wunderbare Schuhe, und dann diese neue Frisur die son bisschen wie´n Hahnenkamm ist, als ich als Frau muss sagen, die sehen ziemlich gleich alle aus."
"Auf dem Kurfürstendamm werden sie so gut wie niemals eine elegante Frau sehen, also manchmal wenn Ärztekongress ist oder ITB kann ab und zu mal eine teuer angezogenen Dame wirklich Aufsehen erregen, was früher jeder trug, selbst die Hausangesellten, es fällt auf, wenn jemand elegant gekleidet ist."
"Die Sonne, die nachmittags auf der Kempinski ... Publikum, das offenbar fest entschossen ist, sein Vergnügen am bloßen Dasein schamlos zu zelebrieren… Dazu sage ich, als alte Berlinerin: Wir zelebrieren überhaupt nichts, das gibts bei uns nicht und hat es bei uns nie gegeben, da irrt er total. Jetzt, in den 80er Jahren, redet man nur noch vom Kudamm. Wir treffen uns morgen um fünf am Kudamm-Eck, ja? ... Treffen wir uns nie! … In der Joachimsthaler Straße."
Wenn man Ellionor Germer zwingt, einige Passagen aus dem 1982 erschienenem Kurfürstendammbuch des Reiseschriftstellers Horst Krüger vorzulesen, tut sie dies, erstens widerwillig, und zweitens unterbricht sie sich ständig selbst, denn unkommentiert kann man nicht lassen, was in ihren Augen doch offensichtlicher Unsinn ist.
Da mag er ja noch so schön formulieren können, ehemals Penmitglied und mit Preisen überhäufter Autor gewesen sein, vom Kurfürstendamm sagt Frau Germer, versteht sie mehr. Schließlich beobachtet seit mehr als einem halben Jahrhundert bei ihren täglichen Spaziergängen, was sich zwischen Gedächtniskirche und S-Bahnhof Halensee ändert oder dringend ändern sollte. Ellionor Germer ist so etwas wie ein Seismograph der Straße.
"Um 1900 galt der Kurfürstendamm als der Boulevard mit den bestangezogenen Frauen der Welt. Der Ruhm der Champs Elysees, der Via Veneto, alles verblasste unter dem Schick der Berliner, das war eine einzige Modenschau. Ich weiß es aus Berichten meiner Großmutter und meiner damals noch jungen Mutter. Selbst nach dem Krieg, als alles in Schutt und Asche lag, als die Straßenbahn durch Berge von Trümmerschutt fuhr, verstanden es die Berliner, aus Stoffresten sich todschick anzuziehen. Es war eine Modenschau, es lag ein Hauch von Parfum in der Luft, und die Damen hatten Lippenstifte."
Zwischen schweren Teppichen und stuckverzierten Decken sitzt blond gefärbt mit rotem Mund Frau Germer, ärmelfrei, im blumengemusterten Kleid und erzählt, während sie von der Apfelschorle nachschenkt, wort- und gestenreich über den Niedergang des Kurfürstendamms. Wenn es um Berliner Geschichte, insbesondere die des Kurfürstendamms geht, weiß kaum jemand soviel darüber wie Frau Germer. Nicht nur der Teehändler Schmidt nennt sie ein wandelndes Lexikon.
"Die haben auch gar nicht alle Bildung hier, aber sie kriegen hier eine Bildung, auf ihre Weise, kriegen sie, wenn sie hier leben, die Bildung so mit. Nicht, so durch Hörensagen, durch Mundpropaganda."
Und gehört hat sie eine ganze Menge. Die 78-jährige wohnt in der Fasanenstraße, etwa 100 Meter von dem Boulevard entfernt, der einst das Gütesiegel der Stadt war. Hier, in seiner feinsten Nebenstraße lebt sie seit dem Tod ihres Mannes allein auf 167 Quadratmetern Altbau. Mehr als ein halbes Jahrhundert in derselben Wohnung.
In letzter Zeit ist sie zu Fuß etwas schlecht, aber sie muss den Kurfürstendamm gar nicht betreten, um in die Welt seiner Geschichten einzudringen. Sie haben sich in ein Gedächtnis gebrannt, dem die Zeit nichts anhaben konnte.
Wahrscheinlich gibt es keinen besseren Platz, um die veränderten Befindlichkeiten des 53 Meter breiten und dreieinhalb Kilometer langen Boulevards zu erspüren, als das Wohnzimmer von Ellionor Germer.
"Wir gehen mal auf den Balkon… Sehen Sie mal, ich empfange sie. Ein anderer Spießer aus Westdeutschland hätte seine Wäsche weggenommen, ich sage, wen störts. Nicht wahr, so wat, wen störts. Ich trockne mein Badehandtuch und so weiter. Badetücher - und da bleiben se hängen - und das stört ja auch niemand. Genauso wenig wie ich mich an den Sachen, die da manchmal drüben am Fenster hängen, dran störe. Man lebt und lässt leben, und wir leben unseren Stil!"
Wenn er sich im Laufe der Zeit auch ein bisschen verändert hat. Undenkbar hätte sie es früher gefunden, mit einem Rucksack über den Kurfürstendamm zu schlendern, aber mit ihren Krücken hat sie keine andere Wahl. Mit Hüten kennt man sie hier noch, aber seit der Mauerfall der Eleganz des Boulevards den Todesstoß versetzte, kleidet auch sie sich heute legerer. Teure Kleider könnte sie sich ohnehin nicht mehr leisten. Von ihrer Hinterbliebenenrente kriegt sie kaum die Miete für die Wohnung zusammen. Das Meißner Porzellan ist längst verkauft.
"Und sie stören sich nicht, dass ich da meine Badesachen trockne. Da trockne ich sie eben, und das ist nun mal so. (Tür geht auf.) So jetzt klemmen wir mal das olle Kissen wieder ein, so... Also hier war eine Kastanie, als wir einzogen, die ist vor vier Jahren gefällt worden, weil sie angeblich krank war. Ich habe jetzt eine bessere Aussicht. An der linken Ecke liegt Serin und Kühn, dann dieser dänische Laden, der verrückte Kindermode hat. Dann kommt ein alter Juwelenhändler, Tochter und Frau beide erschossen worden - das war was ganz Furchtbares, also sowas kann hier passieren!"
Aber meistens ist es ja ruhig. Das Publikum des Kurfürstendamms schwappt nicht mehr so stark in die Straße wie früher. Meist drehen sie auf Höhe des Literaturhauses wieder um. Frau Germer, zwischen den Geranien, kann, wenn sie den Hals streckt, immer die Marathonläufer beobachten. Und auch diese merkwürdigen Paraden, bei denen sich halbnackte junge Menschen zu lauter Musik ekstatisch bewegen. Den Kurfürstendamm, dem sich Frau Germer verbunden fühlt, gibt es nicht mehr.
"Dort, wo jetzt Gosch Sylt drin ist, war der Modesalon Nolte, die hatten sehr schicke Sachen, und einmal im Jahr kaufte mir mein Mann dort ein Kleid. Nolte ist weg, Horn ist nicht mehr da. Was da jetzt ist, ist mir zu pret-a-porter-haft: Junge Mode, die nur noch avantgardistisch ist - also, ich trage keine Bermudashorts in meinem Alter. Das habe ich früher getragen, als ich im Grunewald gejoggt bin oder Rad gefahren, das ist nicht mehr unser Stil."
So ähnlich mit dem Essengehen.
"Manchmal setze ich mich schon zu Reinhards und trinke da eine Tasse Schokolade, das kommt vor. Manchmal hole ich mir vom Bäcker Wiedemann am Adenauerplatz ein Stück Kuchen. Einen Punkt, den ich regelmäßig aufgesucht habe, auch noch nach dem Tod meines Mannes, war Kopenhagen, Ecke Knesebeckstraße, eines der ältesten Kurfürstendammrestaurants nach dem Krieg: Man aß fantastisch, wenn auch dänische Küche, gemischt mit Berliner und nicht allzu teuer. Und als das Kopenhagen ging, haben wir Berliner gesagt, eines der letzten guten Stücke altes Berlin ist nun weg. Auch ‘Mampes gute Stube‘. Kranzler schon lange, war schon lange nicht mehr gut, der Name ist ja immer wieder verkauft worden, hat mit dem alten gediegenen Kranzler gar nichts mehr gemein. Ja, und da sind es nur wenige Punkte, die mich noch zum längeren Verweilen einladen."
"Also, eine Tüte Vivaldi und eine Tüte Liszt, getrennt. Und alles andere in der Tasche."
"Ich habe ja zwei Körbe. Gott, jetzt hat er schon alles eingepackt ..."
Es gibt Ausnahmen. Eine davon: das Teefachgeschäft von Werner Schmidt, "Kings Teagarden", wo der Hausherr stets wie aus dem Ei gepellt mit sonorer Stimme und einnehmendem Wesen lange über die Kunst des richtigen Brühens und die Unmöglichkeit von Teebeuteln reden kann. Am Nachmittag hat sich Frau Germer zu ihm aufgemacht. Herr Schmidt ist gerade dabei, Pakete für den Versand fertig zu machen:
"Mein Name ist Werner Schmidt, ich bin Teekaufmann, studierte Kaufmann, im Unterschied zu vielen, die Geschäfte machen. Warenkunde ist ein Grundprinzip meines Erfolgs. Um das, was ich hier erarbeitet habe, um das an dem Mann zu bringen, bin ich aufgebrochen von Bremen an den Kudamm, weil das die Straße ist. Ich stehe zu der Straße, ohne Wenn und Aber."
Werner Schmidt - der auch Vorsitzender der Kurfürstendammgesellschaft ist, nichts dagegen hat, wenn man ihn einen Paradiesvogel nennt und all jene verflucht, die schlecht über den Kurfürstendamm reden - er hat das Buch des 1999 verstorbenen Horst Krüger natürlich im Regal. Er blättert ein wenig in den Seiten, betrachtet die alten Fotos, und beginnt, da außer Frau Germer gerade kein Kunde im Geschäft ist, zu lesen:
"Im Sommer haben die Cafes, Stühle, Veranden, Menschen draußen, das Schaufenster, diese glanzvolle Erfindung... Wird man hier kaum finden… Ich denke, dass die Veranden durch politische Machenschaften weitgehend weggefallen sind, dass Schaufenster aber zum Teil internationale Klasse darstellen. Was allerdings fehlt, dass es zum Flanieren kommt."
Krügers Buch ist ein melancholischer Abgesang auf das Berlin der Groß- und eleganten Weltbürger. Auf dem Höhepunkt der Kurfürstendammkrise trauert er dem alten Glanz hinterher - befremdet über Nachkriegsbausünden, Peepshows und Hütchenspieler. Der heutige Kurfürstendamm hat sich, so scheint es, von schwerer Krankheit erholt: Eine Drogenszene gibt es nur noch an der Gedächtniskirche, Peepshows und Hütchenspieler sind verschwunden, und auch der Senat zahlt keine Prämien mehr an Hausbesitzer, die an ihren Fronten den Stuck abschlagen.
Viele alteingesessene Läden wurden ein Opfer der Mietexplosionen und von Ketten verdrängt. Aber auch die Luxusmarken haben hier in den letzten Jahren überdimensionierte Flagship-Stores eröffnet, die die Straße zwar nicht verschönern, aber immerhin ein Gefühl der Hochwertigkeit vermitteln. Natürlich hat Schmidt eine Reihe von Ideen, wie man das Erscheinungsbild verbessern könnte:
"Wenn wir alles wegräumen und dann neu aufbauen, und zwar zeitgerecht - Lichtbauten, damit es hell wird, gleichzeitig Informationszentren. Was ist gemacht worden? Man hat Vitrinen kleiner gemacht, die sind schlechter zu dekorieren, man könnten sie abräumen ohne Verlust.
Ich möchte einen Radweg haben auf beiden Seiten, ich möchte auch Ständer haben, Sitzgelegenheiten, die nicht von Rabauken zerstört werden. Die BVG macht diese Zeitanzeige, wieder ein Extraständer… Wieso man das nicht in die Wartehäuschen integriert, versteh ich überhaupt nicht. Dieser ganze Schilderwall - auch was sie hier sehen mit den Busspuren, das braucht man alles nicht."
Nachdem Frau Gerner noch eine Weile über den allgemeinen Verlust der Eleganz geredet hat, verabschiedet sie sich. Nur nicht in die Mittagshitze reinkommen, nicht an einem solchen Tag.
"Herr Schmidt, wenn ich Ihnen zwei Euro gebe, Sie sollen doch nicht rausgeben."
"Und Sie wollten einen Vivaldi extra."
200 Meter weiter, Richtung Gedächtniskirche, Ecke.... Das Atelier des Herrenmaßschneiders Arnulf, 62, ist eines der ältesten Geschäfte der gesamten Straße. Volkmar Arnulf im dunkelblauen Jackett mit Goldknöpfen, hellblauweißgestreifter Krawatte und Budapester Schuhen, sitzt in einem schweren englischen Ledersessel vor großen Spiegelwänden und Stoffballen, die sich säuberlich in schweren Holzregalen stapeln. Aus dem Nebenraum dringen die Werkstattgeräusche seiner drei Angestellten, die zuschneiden, nähen, bügeln.
"Der Kudamm hat ja mehrere, man kann fast sagen, Kulturschocks hinter sich. Ich will jetzt nicht mit 1945 beginnen, wenn man jetzt die Sache in den 60ern betrachtet, als ich mich selbstständig machte, gab es am Kudamm noch 25 echte Maßschneiderbetriebe, die zum Teil noch 20 Leute beschäftigten. Heute sind wir die einzigen."
Und einige Kunden kommen jetzt aus Westdeutschland. Viele ehemalige Kudammbewohner, die das einst elegante Publikum der Straße bildeten, hätten irgendwann die Nase voll gehabt: Chruschtschow-Ultimatum, die 68er, so viele Unwägbarkeiten. Irgendwann ist man eben nach Sylt gezogen oder in den Harz, oder wo man sonst ungestört leben kann, wenn man Geld hat. Und die, die noch da wären, würden sich ganz bewusst nicht mehr elegant kleiden, weil sie damit nur anecken und den Neid einer Gesellschaft auf sich ziehen, in der man nicht mehr zeigen darf, was man hat, wer man ist. Ein anderes Problem:
"Dass viele Häuser einfach zum Spekulationsobjekt werden, das hat sich verstärkt. Im Grunde begann es damit, als der Kudamm sein Niveau verlor, in den 70er Jahren, könnte man sagen. Da haben natürlich Leute, die Geld hatten, Häuser aufgekauft und die einfach gehalten, wie ein Krämer seine Ware hält, und haben auf den günstigen Moment gewartet, bis sie weiterverkaufen konnten.
Andere haben Steuersparmodelle entwickelt, Abschreibungsobjekte. Das hat dem Kudamm auch sehr geschadet, dass eben zu wenig echte Hausbesitzer mit Herzblut hier haushalten. Hier wurde teilweise nicht mit Herzblut, sondern, man kann schon sagen, kaltem Herz verwaltet."
Auch das hat Horst Krüger in seinem Buch beschrieben, das der Schneidermeister Arnulf, wie fast alle der älteren Kurfürstendamm-Anrainer, vor rund einem Vierteljahrhundert gelesen hat. Er blättert langsam durch die Seiten, bis sein Blick haften bleibt an einer Passage, die sich der Architektur des Boulevards widmet:
"Er ist ganz unverkennbar ein Werk der Preußen ... Stimmt, Breite, die Grundstruktur, vollkommen richtig... Großspurigkeit war nie Berliner Art... Stimmt überhaupt nicht, der Berliner hat schon immer zur Großspurigkeit geneigt... Stolze Fontänen wie in Rom haben ihn nie geziert…. Da muss ich ihm Recht geben, da hat man zu Fuße der Gedächtniskirche den Klops, so eine Fußwaschanlage installiert ... Es gibt kein einziges Denkmal auf dieser Straße... Na ja, in erster Linie ist die Straße selbst ein Denkmal, wo sich viele dran versucht haben, ha, ha."
Ein recht lebendiges Denkmal, wenn es nach Frau Germer geht, die am Nachmittag wieder in ihrer Wohnung in der Fasanenstraße angekommen ist und sich noch einmal, mit unverhohlener Angriffslust dem Werk Krügers widmet. Sie schaut durch die Lesebrille mit dem abgebrochenen Bügel und liest:
"Das ist die Fluchtlinie, das solide Rückrat sozusagen. Alle Liebhaber der Region wissen, dass erst die Querstraßen, die Rippen sozusagen, der Straße das besondere Aroma geben. Nebenstraße sind wie Nebenflüsse, hier wird es heimeliger, poetischer. Hier kann man Entdeckungen machen… Stimmt … Nebenstraßen sind die Hauptstraßen des Lebens… Stimmt nicht … Hier sitzen nicht die kapitalkräftigen Konzerne, die der Hauptstraße heute den Glanz des Besonderen immer mehr zu nehmen drohen… Falsch …
Hier ist alles noch kleiner, überschaubarer, individueller. Im Schatten des großen Boulevards, der wenigstens tagsüber immer noch so tut, als sei hier bürgerliche Wohlanständigkeit … Völlig falsch … Ist ein Hauch von Verworfenheit möglich … War in Berlin immer überall möglich … Kenner wissen sie als Brutstätten sensibler Gelüste zu schätzen …
Quatsch, unberlinerischer kann das nicht sein. Ich kann nur sagen, unberlinerischer kann das nicht sein … So denken wir Berliner nicht, so sehen wir das auch nicht. Das Prestigebedürfnis, das die Provinzstadt hat, hat die Weltstadt Berlin nie nötig gehabt!"
Ellionor Germer klappt das Buch zu, zieht ihren Mantel über und geht noch einmal vor zu jener Straße, die ihr Leben war.
"Die Männer in der Mittagspause, die sind natürlich hochelegant, aber alle gleich, dadurch, dass das meist alles Banker sind aus irgendwelchen Büros, haben alle Maßanzüge an, dolle Schlipse, dolle Hemden, wunderbare Schuhe, und dann diese neue Frisur die son bisschen wie´n Hahnenkamm ist, als ich als Frau muss sagen, die sehen ziemlich gleich alle aus."
"Auf dem Kurfürstendamm werden sie so gut wie niemals eine elegante Frau sehen, also manchmal wenn Ärztekongress ist oder ITB kann ab und zu mal eine teuer angezogenen Dame wirklich Aufsehen erregen, was früher jeder trug, selbst die Hausangesellten, es fällt auf, wenn jemand elegant gekleidet ist."
"Die Sonne, die nachmittags auf der Kempinski ... Publikum, das offenbar fest entschossen ist, sein Vergnügen am bloßen Dasein schamlos zu zelebrieren… Dazu sage ich, als alte Berlinerin: Wir zelebrieren überhaupt nichts, das gibts bei uns nicht und hat es bei uns nie gegeben, da irrt er total. Jetzt, in den 80er Jahren, redet man nur noch vom Kudamm. Wir treffen uns morgen um fünf am Kudamm-Eck, ja? ... Treffen wir uns nie! … In der Joachimsthaler Straße."
Wenn man Ellionor Germer zwingt, einige Passagen aus dem 1982 erschienenem Kurfürstendammbuch des Reiseschriftstellers Horst Krüger vorzulesen, tut sie dies, erstens widerwillig, und zweitens unterbricht sie sich ständig selbst, denn unkommentiert kann man nicht lassen, was in ihren Augen doch offensichtlicher Unsinn ist.
Da mag er ja noch so schön formulieren können, ehemals Penmitglied und mit Preisen überhäufter Autor gewesen sein, vom Kurfürstendamm sagt Frau Germer, versteht sie mehr. Schließlich beobachtet seit mehr als einem halben Jahrhundert bei ihren täglichen Spaziergängen, was sich zwischen Gedächtniskirche und S-Bahnhof Halensee ändert oder dringend ändern sollte. Ellionor Germer ist so etwas wie ein Seismograph der Straße.
"Um 1900 galt der Kurfürstendamm als der Boulevard mit den bestangezogenen Frauen der Welt. Der Ruhm der Champs Elysees, der Via Veneto, alles verblasste unter dem Schick der Berliner, das war eine einzige Modenschau. Ich weiß es aus Berichten meiner Großmutter und meiner damals noch jungen Mutter. Selbst nach dem Krieg, als alles in Schutt und Asche lag, als die Straßenbahn durch Berge von Trümmerschutt fuhr, verstanden es die Berliner, aus Stoffresten sich todschick anzuziehen. Es war eine Modenschau, es lag ein Hauch von Parfum in der Luft, und die Damen hatten Lippenstifte."
Zwischen schweren Teppichen und stuckverzierten Decken sitzt blond gefärbt mit rotem Mund Frau Germer, ärmelfrei, im blumengemusterten Kleid und erzählt, während sie von der Apfelschorle nachschenkt, wort- und gestenreich über den Niedergang des Kurfürstendamms. Wenn es um Berliner Geschichte, insbesondere die des Kurfürstendamms geht, weiß kaum jemand soviel darüber wie Frau Germer. Nicht nur der Teehändler Schmidt nennt sie ein wandelndes Lexikon.
"Die haben auch gar nicht alle Bildung hier, aber sie kriegen hier eine Bildung, auf ihre Weise, kriegen sie, wenn sie hier leben, die Bildung so mit. Nicht, so durch Hörensagen, durch Mundpropaganda."
Und gehört hat sie eine ganze Menge. Die 78-jährige wohnt in der Fasanenstraße, etwa 100 Meter von dem Boulevard entfernt, der einst das Gütesiegel der Stadt war. Hier, in seiner feinsten Nebenstraße lebt sie seit dem Tod ihres Mannes allein auf 167 Quadratmetern Altbau. Mehr als ein halbes Jahrhundert in derselben Wohnung.
In letzter Zeit ist sie zu Fuß etwas schlecht, aber sie muss den Kurfürstendamm gar nicht betreten, um in die Welt seiner Geschichten einzudringen. Sie haben sich in ein Gedächtnis gebrannt, dem die Zeit nichts anhaben konnte.
Wahrscheinlich gibt es keinen besseren Platz, um die veränderten Befindlichkeiten des 53 Meter breiten und dreieinhalb Kilometer langen Boulevards zu erspüren, als das Wohnzimmer von Ellionor Germer.
"Wir gehen mal auf den Balkon… Sehen Sie mal, ich empfange sie. Ein anderer Spießer aus Westdeutschland hätte seine Wäsche weggenommen, ich sage, wen störts. Nicht wahr, so wat, wen störts. Ich trockne mein Badehandtuch und so weiter. Badetücher - und da bleiben se hängen - und das stört ja auch niemand. Genauso wenig wie ich mich an den Sachen, die da manchmal drüben am Fenster hängen, dran störe. Man lebt und lässt leben, und wir leben unseren Stil!"
Wenn er sich im Laufe der Zeit auch ein bisschen verändert hat. Undenkbar hätte sie es früher gefunden, mit einem Rucksack über den Kurfürstendamm zu schlendern, aber mit ihren Krücken hat sie keine andere Wahl. Mit Hüten kennt man sie hier noch, aber seit der Mauerfall der Eleganz des Boulevards den Todesstoß versetzte, kleidet auch sie sich heute legerer. Teure Kleider könnte sie sich ohnehin nicht mehr leisten. Von ihrer Hinterbliebenenrente kriegt sie kaum die Miete für die Wohnung zusammen. Das Meißner Porzellan ist längst verkauft.
"Und sie stören sich nicht, dass ich da meine Badesachen trockne. Da trockne ich sie eben, und das ist nun mal so. (Tür geht auf.) So jetzt klemmen wir mal das olle Kissen wieder ein, so... Also hier war eine Kastanie, als wir einzogen, die ist vor vier Jahren gefällt worden, weil sie angeblich krank war. Ich habe jetzt eine bessere Aussicht. An der linken Ecke liegt Serin und Kühn, dann dieser dänische Laden, der verrückte Kindermode hat. Dann kommt ein alter Juwelenhändler, Tochter und Frau beide erschossen worden - das war was ganz Furchtbares, also sowas kann hier passieren!"
Aber meistens ist es ja ruhig. Das Publikum des Kurfürstendamms schwappt nicht mehr so stark in die Straße wie früher. Meist drehen sie auf Höhe des Literaturhauses wieder um. Frau Germer, zwischen den Geranien, kann, wenn sie den Hals streckt, immer die Marathonläufer beobachten. Und auch diese merkwürdigen Paraden, bei denen sich halbnackte junge Menschen zu lauter Musik ekstatisch bewegen. Den Kurfürstendamm, dem sich Frau Germer verbunden fühlt, gibt es nicht mehr.
"Dort, wo jetzt Gosch Sylt drin ist, war der Modesalon Nolte, die hatten sehr schicke Sachen, und einmal im Jahr kaufte mir mein Mann dort ein Kleid. Nolte ist weg, Horn ist nicht mehr da. Was da jetzt ist, ist mir zu pret-a-porter-haft: Junge Mode, die nur noch avantgardistisch ist - also, ich trage keine Bermudashorts in meinem Alter. Das habe ich früher getragen, als ich im Grunewald gejoggt bin oder Rad gefahren, das ist nicht mehr unser Stil."
So ähnlich mit dem Essengehen.
"Manchmal setze ich mich schon zu Reinhards und trinke da eine Tasse Schokolade, das kommt vor. Manchmal hole ich mir vom Bäcker Wiedemann am Adenauerplatz ein Stück Kuchen. Einen Punkt, den ich regelmäßig aufgesucht habe, auch noch nach dem Tod meines Mannes, war Kopenhagen, Ecke Knesebeckstraße, eines der ältesten Kurfürstendammrestaurants nach dem Krieg: Man aß fantastisch, wenn auch dänische Küche, gemischt mit Berliner und nicht allzu teuer. Und als das Kopenhagen ging, haben wir Berliner gesagt, eines der letzten guten Stücke altes Berlin ist nun weg. Auch ‘Mampes gute Stube‘. Kranzler schon lange, war schon lange nicht mehr gut, der Name ist ja immer wieder verkauft worden, hat mit dem alten gediegenen Kranzler gar nichts mehr gemein. Ja, und da sind es nur wenige Punkte, die mich noch zum längeren Verweilen einladen."
"Also, eine Tüte Vivaldi und eine Tüte Liszt, getrennt. Und alles andere in der Tasche."
"Ich habe ja zwei Körbe. Gott, jetzt hat er schon alles eingepackt ..."
Es gibt Ausnahmen. Eine davon: das Teefachgeschäft von Werner Schmidt, "Kings Teagarden", wo der Hausherr stets wie aus dem Ei gepellt mit sonorer Stimme und einnehmendem Wesen lange über die Kunst des richtigen Brühens und die Unmöglichkeit von Teebeuteln reden kann. Am Nachmittag hat sich Frau Germer zu ihm aufgemacht. Herr Schmidt ist gerade dabei, Pakete für den Versand fertig zu machen:
"Mein Name ist Werner Schmidt, ich bin Teekaufmann, studierte Kaufmann, im Unterschied zu vielen, die Geschäfte machen. Warenkunde ist ein Grundprinzip meines Erfolgs. Um das, was ich hier erarbeitet habe, um das an dem Mann zu bringen, bin ich aufgebrochen von Bremen an den Kudamm, weil das die Straße ist. Ich stehe zu der Straße, ohne Wenn und Aber."
Werner Schmidt - der auch Vorsitzender der Kurfürstendammgesellschaft ist, nichts dagegen hat, wenn man ihn einen Paradiesvogel nennt und all jene verflucht, die schlecht über den Kurfürstendamm reden - er hat das Buch des 1999 verstorbenen Horst Krüger natürlich im Regal. Er blättert ein wenig in den Seiten, betrachtet die alten Fotos, und beginnt, da außer Frau Germer gerade kein Kunde im Geschäft ist, zu lesen:
"Im Sommer haben die Cafes, Stühle, Veranden, Menschen draußen, das Schaufenster, diese glanzvolle Erfindung... Wird man hier kaum finden… Ich denke, dass die Veranden durch politische Machenschaften weitgehend weggefallen sind, dass Schaufenster aber zum Teil internationale Klasse darstellen. Was allerdings fehlt, dass es zum Flanieren kommt."
Krügers Buch ist ein melancholischer Abgesang auf das Berlin der Groß- und eleganten Weltbürger. Auf dem Höhepunkt der Kurfürstendammkrise trauert er dem alten Glanz hinterher - befremdet über Nachkriegsbausünden, Peepshows und Hütchenspieler. Der heutige Kurfürstendamm hat sich, so scheint es, von schwerer Krankheit erholt: Eine Drogenszene gibt es nur noch an der Gedächtniskirche, Peepshows und Hütchenspieler sind verschwunden, und auch der Senat zahlt keine Prämien mehr an Hausbesitzer, die an ihren Fronten den Stuck abschlagen.
Viele alteingesessene Läden wurden ein Opfer der Mietexplosionen und von Ketten verdrängt. Aber auch die Luxusmarken haben hier in den letzten Jahren überdimensionierte Flagship-Stores eröffnet, die die Straße zwar nicht verschönern, aber immerhin ein Gefühl der Hochwertigkeit vermitteln. Natürlich hat Schmidt eine Reihe von Ideen, wie man das Erscheinungsbild verbessern könnte:
"Wenn wir alles wegräumen und dann neu aufbauen, und zwar zeitgerecht - Lichtbauten, damit es hell wird, gleichzeitig Informationszentren. Was ist gemacht worden? Man hat Vitrinen kleiner gemacht, die sind schlechter zu dekorieren, man könnten sie abräumen ohne Verlust.
Ich möchte einen Radweg haben auf beiden Seiten, ich möchte auch Ständer haben, Sitzgelegenheiten, die nicht von Rabauken zerstört werden. Die BVG macht diese Zeitanzeige, wieder ein Extraständer… Wieso man das nicht in die Wartehäuschen integriert, versteh ich überhaupt nicht. Dieser ganze Schilderwall - auch was sie hier sehen mit den Busspuren, das braucht man alles nicht."
Nachdem Frau Gerner noch eine Weile über den allgemeinen Verlust der Eleganz geredet hat, verabschiedet sie sich. Nur nicht in die Mittagshitze reinkommen, nicht an einem solchen Tag.
"Herr Schmidt, wenn ich Ihnen zwei Euro gebe, Sie sollen doch nicht rausgeben."
"Und Sie wollten einen Vivaldi extra."
200 Meter weiter, Richtung Gedächtniskirche, Ecke.... Das Atelier des Herrenmaßschneiders Arnulf, 62, ist eines der ältesten Geschäfte der gesamten Straße. Volkmar Arnulf im dunkelblauen Jackett mit Goldknöpfen, hellblauweißgestreifter Krawatte und Budapester Schuhen, sitzt in einem schweren englischen Ledersessel vor großen Spiegelwänden und Stoffballen, die sich säuberlich in schweren Holzregalen stapeln. Aus dem Nebenraum dringen die Werkstattgeräusche seiner drei Angestellten, die zuschneiden, nähen, bügeln.
"Der Kudamm hat ja mehrere, man kann fast sagen, Kulturschocks hinter sich. Ich will jetzt nicht mit 1945 beginnen, wenn man jetzt die Sache in den 60ern betrachtet, als ich mich selbstständig machte, gab es am Kudamm noch 25 echte Maßschneiderbetriebe, die zum Teil noch 20 Leute beschäftigten. Heute sind wir die einzigen."
Und einige Kunden kommen jetzt aus Westdeutschland. Viele ehemalige Kudammbewohner, die das einst elegante Publikum der Straße bildeten, hätten irgendwann die Nase voll gehabt: Chruschtschow-Ultimatum, die 68er, so viele Unwägbarkeiten. Irgendwann ist man eben nach Sylt gezogen oder in den Harz, oder wo man sonst ungestört leben kann, wenn man Geld hat. Und die, die noch da wären, würden sich ganz bewusst nicht mehr elegant kleiden, weil sie damit nur anecken und den Neid einer Gesellschaft auf sich ziehen, in der man nicht mehr zeigen darf, was man hat, wer man ist. Ein anderes Problem:
"Dass viele Häuser einfach zum Spekulationsobjekt werden, das hat sich verstärkt. Im Grunde begann es damit, als der Kudamm sein Niveau verlor, in den 70er Jahren, könnte man sagen. Da haben natürlich Leute, die Geld hatten, Häuser aufgekauft und die einfach gehalten, wie ein Krämer seine Ware hält, und haben auf den günstigen Moment gewartet, bis sie weiterverkaufen konnten.
Andere haben Steuersparmodelle entwickelt, Abschreibungsobjekte. Das hat dem Kudamm auch sehr geschadet, dass eben zu wenig echte Hausbesitzer mit Herzblut hier haushalten. Hier wurde teilweise nicht mit Herzblut, sondern, man kann schon sagen, kaltem Herz verwaltet."
Auch das hat Horst Krüger in seinem Buch beschrieben, das der Schneidermeister Arnulf, wie fast alle der älteren Kurfürstendamm-Anrainer, vor rund einem Vierteljahrhundert gelesen hat. Er blättert langsam durch die Seiten, bis sein Blick haften bleibt an einer Passage, die sich der Architektur des Boulevards widmet:
"Er ist ganz unverkennbar ein Werk der Preußen ... Stimmt, Breite, die Grundstruktur, vollkommen richtig... Großspurigkeit war nie Berliner Art... Stimmt überhaupt nicht, der Berliner hat schon immer zur Großspurigkeit geneigt... Stolze Fontänen wie in Rom haben ihn nie geziert…. Da muss ich ihm Recht geben, da hat man zu Fuße der Gedächtniskirche den Klops, so eine Fußwaschanlage installiert ... Es gibt kein einziges Denkmal auf dieser Straße... Na ja, in erster Linie ist die Straße selbst ein Denkmal, wo sich viele dran versucht haben, ha, ha."
Ein recht lebendiges Denkmal, wenn es nach Frau Germer geht, die am Nachmittag wieder in ihrer Wohnung in der Fasanenstraße angekommen ist und sich noch einmal, mit unverhohlener Angriffslust dem Werk Krügers widmet. Sie schaut durch die Lesebrille mit dem abgebrochenen Bügel und liest:
"Das ist die Fluchtlinie, das solide Rückrat sozusagen. Alle Liebhaber der Region wissen, dass erst die Querstraßen, die Rippen sozusagen, der Straße das besondere Aroma geben. Nebenstraße sind wie Nebenflüsse, hier wird es heimeliger, poetischer. Hier kann man Entdeckungen machen… Stimmt … Nebenstraßen sind die Hauptstraßen des Lebens… Stimmt nicht … Hier sitzen nicht die kapitalkräftigen Konzerne, die der Hauptstraße heute den Glanz des Besonderen immer mehr zu nehmen drohen… Falsch …
Hier ist alles noch kleiner, überschaubarer, individueller. Im Schatten des großen Boulevards, der wenigstens tagsüber immer noch so tut, als sei hier bürgerliche Wohlanständigkeit … Völlig falsch … Ist ein Hauch von Verworfenheit möglich … War in Berlin immer überall möglich … Kenner wissen sie als Brutstätten sensibler Gelüste zu schätzen …
Quatsch, unberlinerischer kann das nicht sein. Ich kann nur sagen, unberlinerischer kann das nicht sein … So denken wir Berliner nicht, so sehen wir das auch nicht. Das Prestigebedürfnis, das die Provinzstadt hat, hat die Weltstadt Berlin nie nötig gehabt!"
Ellionor Germer klappt das Buch zu, zieht ihren Mantel über und geht noch einmal vor zu jener Straße, die ihr Leben war.