Der lange Schatten der Diktatur
Fast 30 Jahre lebten die Haitianer unter der Diktatur der Familie Duvalier. Nun muss die nachgeborene, jüngere Generation damit fertig werden, dass ihre Eltern Mörder oder Gejagte sind. Edwidge Danticat gibt den Kindern von Tätern und Opfern eine Stimme.
Edwidge Danticat wurde 1969 in Haiti geboren. Seit 1981 lebt sie in den USA. Für ihr in mehrere europäische Sprachen übersetztes literarisches Werk erhielt sie unter anderem den American Book Award, den Premio Flaiano und den LiBeraturpreis. Auf deutsch erschienen die Romane "Atem, Augen, Erinnerungen" und "Die süße Saat der Tränen" sowie der von Ilja Trojanow in der Reihe "Weltlese" herausgegebene Kurzgeschichtenband "Der verlorene Vater".
Die neun Erzählungen kreisen um verlorene Väter, die heimtückisch oder sadistisch getötet wurden, die ihre Kinder verleugneten, obwohl sie in derselben Straße wohnten oder erst nach Jahrzehnten den Mut fanden, zu gestehen, dass sie Jäger und nicht Gejagte waren.
Man kann Danticats Geschichten unabhängig voneinander lesen und entdecken, wie die haitianische Diasporagemeinde in den USA lebt. Mehr noch erfährt man über die seelische Verfasstheit junger Haitianer, die nicht verstehen, warum ihre Eltern über Taten schweigen, die Menschen das Leben kosteten oder in den Wahn trieben.
Liest man die Erzählungen chronologisch, so schält sich allmählich das Porträt eines einzigen Vaters heraus, der lange im Dienst des 'Papa Doc' genannten Diktators und Arztes Francois Duvalier stand. Dass aber auch Kinder auf Haiti ihren Eltern abhanden kommen konnten, wenn sie zu den den 'Tontons Macoutes' des Diktators und seines Sohnes 'Baby Doc' stießen, zeigt Edwidge Danticat ebenso.
Die Duvaliers ließen die freiwilligen Milizen schwören, für das Regime auch Vater und Mutter zu töten. Schätzungsweise 30.000 Menschen wurden während der Duvalier-Ära (1957-1986) auf Straßen, im Gefängnis Fort Dimanche und in der berüchtigten, durch das Erdbeben im Januar 2010 zerstörten Kaserne Dessalines ermordet. Der blutigen Jagd auf die Tontons Macoutes nach Baby Docs Flucht 1986 widmet Danticat eine eigene Geschichte.
Edwidge Danticats Eltern waren zu Beginn der 70er-Jahre in die USA emigriert. 1981 zog die Tochter nach. Dass die Autorin im Nachwort ihrem Vater ausdrücklich dankt, weil er in "Der verlorene Vater" nicht vorkommen musste, begreift jeder, der die Schwere der erzwungenen Enthüllungen und tröpfelnden, verbrämten Geständnisse, die Kinder ihren Vätern und Müttern in diesem Band abgerungen haben, auch nur ansatzweise ermisst.
37 Jahre nach seinem letzten Mord gesteht ein in Brooklyn als Friseur lebender Folterer seiner Tochter, dass er kein Geschundener des Regimes war, sondern im Gefängnis von Port-au-Prince Zivilisten verhörte und umbrachte. Plötzlich begreift sie, warum der Vater nicht gestattete, ihn jemals zu fotografieren, warum die Eltern keinen Besuch zu Haus empfingen und die Exilgemeinde mieden.
Sie versteht nun, warum er schwieg, als sie während einer Weihnachtmesse glaubte, Emmanuel Constant entdeckt zu haben. Dass Constant als Gründer einer paramilitärischen Todesschwadron einst auf der Gehaltsliste der CIA stand, in Brooklyn lebt und bis heute nicht nach Haiti ausgeliefert wurde, muss der Leser selber herausfinden.
Für Danticats Figuren brechen Welten zusammen, doch lässt die Autorin sie nie an den umstürzenden Entdeckungen verzweifeln. Gefasst und kühl stellen die Nachkommen von Tätern wie die Kinder Ermordeter Fragen. Es ist schlicht und ergreifend nachzuvollziehen, wie sie davor zurückschrecken, Rache zu üben und im Extremfall "die falsche Frau zur Witwe und das falsche Kind zur Waise zu machen".
Dass Sühne und Wiedergutmachung jedem Menschen zustehen sollten, mag – so Danticat – als "nutzloses Klischee" erscheinen. Die Kunst dieser Schriftstellerin, die als Stimme der karibisch-amerikanischen Literatur längst ein Gewicht hat, besteht darin, die Alternativlosigkeit dieses Klischees in literarisch überzeugenden Miniaturen auszuloten.
Besprochen von Sigrid Brinkmann
Edwidge Danticat: Der verlorene Vater
Erzählungen
Edition Büchergilde, Frankfurt / Main 2010
240 Seiten, 19,90 Euro
Deutschlandradio Kultur ist Medienpartner bei www.litprom.de - der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. mit der Weltempfänger-Bestenliste, auf der Sie derzeit auch dieses Buch finden.
Die neun Erzählungen kreisen um verlorene Väter, die heimtückisch oder sadistisch getötet wurden, die ihre Kinder verleugneten, obwohl sie in derselben Straße wohnten oder erst nach Jahrzehnten den Mut fanden, zu gestehen, dass sie Jäger und nicht Gejagte waren.
Man kann Danticats Geschichten unabhängig voneinander lesen und entdecken, wie die haitianische Diasporagemeinde in den USA lebt. Mehr noch erfährt man über die seelische Verfasstheit junger Haitianer, die nicht verstehen, warum ihre Eltern über Taten schweigen, die Menschen das Leben kosteten oder in den Wahn trieben.
Liest man die Erzählungen chronologisch, so schält sich allmählich das Porträt eines einzigen Vaters heraus, der lange im Dienst des 'Papa Doc' genannten Diktators und Arztes Francois Duvalier stand. Dass aber auch Kinder auf Haiti ihren Eltern abhanden kommen konnten, wenn sie zu den den 'Tontons Macoutes' des Diktators und seines Sohnes 'Baby Doc' stießen, zeigt Edwidge Danticat ebenso.
Die Duvaliers ließen die freiwilligen Milizen schwören, für das Regime auch Vater und Mutter zu töten. Schätzungsweise 30.000 Menschen wurden während der Duvalier-Ära (1957-1986) auf Straßen, im Gefängnis Fort Dimanche und in der berüchtigten, durch das Erdbeben im Januar 2010 zerstörten Kaserne Dessalines ermordet. Der blutigen Jagd auf die Tontons Macoutes nach Baby Docs Flucht 1986 widmet Danticat eine eigene Geschichte.
Edwidge Danticats Eltern waren zu Beginn der 70er-Jahre in die USA emigriert. 1981 zog die Tochter nach. Dass die Autorin im Nachwort ihrem Vater ausdrücklich dankt, weil er in "Der verlorene Vater" nicht vorkommen musste, begreift jeder, der die Schwere der erzwungenen Enthüllungen und tröpfelnden, verbrämten Geständnisse, die Kinder ihren Vätern und Müttern in diesem Band abgerungen haben, auch nur ansatzweise ermisst.
37 Jahre nach seinem letzten Mord gesteht ein in Brooklyn als Friseur lebender Folterer seiner Tochter, dass er kein Geschundener des Regimes war, sondern im Gefängnis von Port-au-Prince Zivilisten verhörte und umbrachte. Plötzlich begreift sie, warum der Vater nicht gestattete, ihn jemals zu fotografieren, warum die Eltern keinen Besuch zu Haus empfingen und die Exilgemeinde mieden.
Sie versteht nun, warum er schwieg, als sie während einer Weihnachtmesse glaubte, Emmanuel Constant entdeckt zu haben. Dass Constant als Gründer einer paramilitärischen Todesschwadron einst auf der Gehaltsliste der CIA stand, in Brooklyn lebt und bis heute nicht nach Haiti ausgeliefert wurde, muss der Leser selber herausfinden.
Für Danticats Figuren brechen Welten zusammen, doch lässt die Autorin sie nie an den umstürzenden Entdeckungen verzweifeln. Gefasst und kühl stellen die Nachkommen von Tätern wie die Kinder Ermordeter Fragen. Es ist schlicht und ergreifend nachzuvollziehen, wie sie davor zurückschrecken, Rache zu üben und im Extremfall "die falsche Frau zur Witwe und das falsche Kind zur Waise zu machen".
Dass Sühne und Wiedergutmachung jedem Menschen zustehen sollten, mag – so Danticat – als "nutzloses Klischee" erscheinen. Die Kunst dieser Schriftstellerin, die als Stimme der karibisch-amerikanischen Literatur längst ein Gewicht hat, besteht darin, die Alternativlosigkeit dieses Klischees in literarisch überzeugenden Miniaturen auszuloten.
Besprochen von Sigrid Brinkmann
Edwidge Danticat: Der verlorene Vater
Erzählungen
Edition Büchergilde, Frankfurt / Main 2010
240 Seiten, 19,90 Euro
Deutschlandradio Kultur ist Medienpartner bei www.litprom.de - der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. mit der Weltempfänger-Bestenliste, auf der Sie derzeit auch dieses Buch finden.