Der lange Schatten der Diktatur

Von Jochen Stöckmann |
Die Erfahrungen von Zensur, Repression und Ausgrenzung und die ungebrochene Suche nach einer nationalen Identität zeichnen das zeitgenössische Kunstgeschehen Argentiniens aus. In einer Ausstellung im Museum Morsbroich bei Leverkusen stehen jetzt Werke im Mittelpunkt, die politische Umwälzungen thematisieren und gesellschaftliche Veränderungen sichtbar machen sollen.
Wie mit einem Kamerazoom fährt der Maler Fabián Marcaccio an das Gesicht des Generals Jorge Videla heran. Im Mittelpunkt der Porträtserie steht der dunkle Schnauzbart des Diktators, der sich zur abstrakten Form wandelt und schließlich als kantiges Rechteck die Leinwand dominiert. Kunsthistoriker mögen das als Anspielung aufs schwarze Quadrat des russischen Avantgardisten Malewitsch deuten. Wer mit dem politischen Alltag Argentiniens in den 70er-Jahren vertraut ist, wird darin einen Zensurbalken sehen oder jene Streifen, die auf Pressefotos über Gesichter von Polizisten und Militärs montiert werden mussten. Niemand sollte die Handlanger der Diktatur identifizieren können.

Diese anspielungsreiche Arbeit hätte Museumsdirektor Markus Heinzelmann gerne als Plakat- und Covermotiv für seine Ausstellung "Radical Shift" verwendet:

"Das hat gerade bei den argentinischen Künstlern sehr große Irritation und Widerstand ausgelöst, weil Videla verantwortlich war für die systematischen Folterungen, Entführungen, Ermordungen von Systemgegnern. Videla in Argentinien ist zu vergleichen mit Hitler in Europa. Und selbst auf diese sehr kritische Art und Weise wie Marcaccio das behandelt hat kann man das nicht sozusagen dekorativ umdeuten und auf einen Katalogumschlag nehmen."

So übermächtig die Erinnerung an die Person eines Diktators heute noch ist, so plakativ und vordergründig fällt die künstlerische Reflektion der Jahrzehnte von Gewalt, Bürgerkrieg und Terror aus: Skulpturen aus blutroten Mullbinden, gemarterte Körper und deformierte Skelette gemahnen an Folteropfer. Mit dem Schriftzug "Violencia", "Gewalt" tapeziert Juan Carlos Romero 1973 schlagwortartig das Zentrum für Kunst und Kommunikation Buenos Aires, den Nukleus politischer Konzeptkunst.

All das wird nun in Morsbroich rekonstruiert. Selbst eine jüngere Arbeit wie Gabriela Golders Videomontage aus Amateuraufnahmen der eigenen Kindheit und Archivmaterial aus der Zeit der Diktatur kommt nicht ohne Symbolik aus: Mit dem metaphorischen Titel "Im Gedenken an die Vögel" erinnert sie an entführte Regimegegner, die unter Drogen gesetzt und aus Flugzeugen in den Rio de la Plata geworfen wurden.

" Die Gewalt, die mit der argentinischen Geschichte verbunden ist, wird, glaube ich, in allen Arbeiten verstehbar und spürbar. Aber aus argentinischer Sicht, da werden die Ikonen dieser Ausstellung gesehen: León Ferrari, Bony und andere. Das sind Ikonen der lateinamerikanischen Kunst, die sind vergleichbar mit Gerhard Richter in Europa."

Kaum vergleichbar ist der Weg, den die argentinischen Künstler nahmen, im aufgeheizten Klima von gewalttätiger Unterdrückung und Gegenterror, der sogenannten "Stadtguerilla", nehmen mussten. Bei dieser Gratwanderung zwischen einem bloßen Nachbeten politischer Parolen und dem Versuch, die Kunst selbst, den Prozess ihres Zustandekommens zu politisieren, entwickelte Oscar Bony bereits 1968, was ein Santiago Sierra heute als umwälzende Institutionenkritik verkauft:

Bony zahlte einer dreiköpfigen Arbeiterfamilie für eine Porträtsitzung das Doppelte des durchschnittlichen Monatslohns. Es kam zum Eklat, die Ausstellung wurde zensiert, der Künstler warf seine Foto-Installation aus Protest hinaus auf die Straße. Kuratorin Heike van den Valentyn erläutert:

"Dass man da einen Bruch hatte, der so massiv war, mit den Institutionen, dass die Künstler viele Jahre gar nicht mehr gearbeitet haben, auch Ausstellungen verweigert haben. Insofern führte das starke politische Engagement in eine künstlerische Sackgasse - und das galt es, erst einmal zu überwinden. Aber im Exil hat zum Beispiel León Ferrari wieder begonnen zu arbeiten, Bony genauso, sogar sehr abstrakt oder malerisch teilweise."

Zu sehen ist davon wenig: Bonys "Arbeiterfamilie" besteht jetzt aus einem klassischen Schwarz-Weiß-Foto im Großformat, edel gerahmt und mit einem Messingschildchen versehen. Keine Spur mehr von der einst so gewalttätigen Kunstgeschichte. Obwohl es Museumsdirektor Markus Heinzelmann doch genau darum geht:

"Dies ist eine dokumentarische Ausstellung. Wir haben nicht, wie wir das sonst im Museum Morsbroich tun, Künstler eingeladen hier neue Arbeiten zu schaffen. Und wir sind ganz stark der Meinung, dass wir die Kunst aus sich heraus wirken lassen müssen und nicht zugekleistert mit erklärenden Texten."

Und so ist nun Jorge Maccis Installation "Still Song" von 2005 auf dem Katalog-Umschlag zu sehen: Unter einer Discokugel an der Decke sind die grauen Wände mit Löchern gesprenkelt, als seien die Lichtblitze mit voller Wucht eingeschlagen und hätten sämtliche Besucher von der Tanzfläche gefegt. Gewalt ist unmittelbar zu spüren, als universelle Bedrohung. Und Diktatoren wie Videla, so denkt sich der Betrachter, lauern überall.

Service:
Die Ausstellung "Radical Shift" ist bis zum 22. Mai im Museum Morsbroich bei Leverkusen zu sehen.