Hilfe für Suchtkranke
Drogen-Utensilien im Konsumraum des Drob Inn in Hamburg - der Hilfeverein ist auch für Notfälle gerüstet. © picture alliance / Christophe Gateau/dpa
Der lange Weg ins cleane Leben
29:49 Minuten
Eine warme Mahlzeit, saubere Spritzen, ärztliche Versorgung - das Drob Inn ist Hamburgs bekannteste Drogenhilfeeinrichtung. Geholfen wird auch denen, die raus wollen aus der Sucht. Mit Therapie, klaren Regeln und dem Glauben, dass es jeder schaffen kann.
(Wiederholung vom 10. Juli 2022)
„Hallo! Einen großen Löffel, bitte. Zwei Dreier-Tanks, bitte. Eine Dreizehner und ein Becher bitte. Und ich nehme Methaddict und Kokain.“
Ibo ist seit 37 Jahren abhängig, kennt das Drob Inn, Hamburgs bekannteste Drogenhilfeeinrichtung schon seit den 1980er-Jahren. Ein Mitarbeiter reicht ihm alle Utensilien für seinen Schuss über den schmalen Tresen. Ibo setzt sich an einen der drei langen Edelstahltische im weiß gekachelten Konsumraum. Am Nebentisch hat sich ein anderer Drob Inn-Klient schon den Unterarm abgebunden, präpariert seine Spritze. Ibo holt eine Opioid-Tablette aus der Tasche, legt ein Papiertütchen mit Kokain daneben.
„Ich kann die Methaddict jetzt in vier Teile teilen, tue das in eine Spritze rein und Wasser drauf. Und dann muss ich das einen Moment schütteln, damit der Wirkstoff in die Flüssigkeit geht. Dann mache ich Kokain auf den Löffel, spritze die Flüssigkeit da rauf. Verrühre das, ziehe das durch einen Filter wieder auf und dann kann ich mir das spritzen.“
Im Ernstfall ist sofort Hilfe da
Fünf Minuten braucht Ibo für die Zubereitung. Seinen Schuss setzt er sich gleich hinter einem der Paravents. Froh darüber, dass im Ernstfall sofort Hilfe da ist. So ganz sicher kann er sich nie sein, was er sich spritzt.
„Wenn ich bei einem Fremden kaufe, weiß ich ja nicht, wie sein Heroin oder sein Stoff, sein Kokain ist. Und wenn ich das hier mache und eine Überdosis hab, hab ich gleich ärztliche Hilfe hier. Und das hätte ich draußen ja nicht“, sagt er und verschwindet hinter einem Sichtschutz, Ibo will jetzt seine Ruhe haben.
Geleitet wird das Drob Inn von Lisa Kunzelmann, braungelockte Haare zum Zopf gebunden, hellblauer Kapuzenpulli und Turnschuhe. Lisa Kunzelmann zeigt die dicken Turnmatten in einer Ecke gleich am Eingang zum Konsumraum. Die kommen in Notfällen, zum Beispiel bei einer Überdosis zum Einsatz.
„Sobald festgestellt wird, dass jemand einen Atemstillstand hat, werden sie auf die Matten gelegt und dann wird mit Hilfe der Sauerstoffflasche beatmet. Die Mediziner werden dazu geholt, die übernehmen in der Regel dann tagsüber die Notfallmaßnahmen. Unsere Hilfskräfte wissen, dass sie die RTW rufen müssen. Da gibt es ganz feste Ablaufstrukturen, um die jeder weiß, sobald er anfängt, hier zu arbeiten.“
Spritzentausch durch Sicherheitsglas
Alle diese Fälle werden dokumentiert. 2019 gab es 156 Drogennotfälle, in denen das Drob Innn-Team suchtkranken Menschen das Leben gerettet hat. Lisa Kunzelmann weicht mir bei meinem Besuch im Drob Inn nicht von der Seite. Sie stellt Kontakt zu den Klienten her, fragt nach, ob ein kurzes Interview möglich ist, beantwortet misstrauische Fragen, wenn jemandem mein Mikrofon auffällt. Nach dem Konsumraum zeigt sie mir den kleinen Bereich für den Spritzentausch. Über einen Schieber im Sicherheitsglas versorgt ein Drob Inn-Mitarbeiter die Menschen draußen auf dem Vorplatz. Vor allem, aber nicht nur mit neuen Spritzen.
„Eine Person kommt ans Fenster und wirft in die eine Seite des Abwurfs die benutzte Spritze rein. Eine Kanüle und einen Kolben und erhält im Gegenzug, eins zu eins, sauberes Material. Bei uns bekommen sie alles für den Konsum. Bis auf den Stoff. Den müssen sie selber mitbringen“, erklärt er.
Auf dem Vorplatz stehen die Menschen allein oder in kleinen Gruppen zusammen. Rund 200 an diesem Morgen. Einige gehen unruhig von einen zum anderen, ein Mann hockt auf dem Pflaster, hantiert mit Alufolie, einem kleinen Gasbrenner und Spritze. Ein Ort, um den viele Hamburgerinnen und Hamburger lieber einen Bogen machen.
Schlafen, Waschen, Ausruhen
Lisa Kunzelmann hat das Beratungs- und Gesundheitszentrum St. Georg als Praktikantin im Sozialpädagogik-Studium kennengelernt. Sie wusste gleich: Hier will sie mal arbeiten.
Heute, mit Ende 20, leitet sie das Gesundheitszentrum. Unten ist das Drob Inn untergebracht, oben die Büros, aber auch die Drogenberatung und Schlafstätte des Projekts Nox.
Heute, mit Ende 20, leitet sie das Gesundheitszentrum. Unten ist das Drob Inn untergebracht, oben die Büros, aber auch die Drogenberatung und Schlafstätte des Projekts Nox.
„Dort gibt es Betten für die gleiche Zielgruppe, die auch das Drob Inn nutzen. Das heißt: volljährige Konsument*innen illegaler Drogen. Und die haben in der Regel keinen festen Wohnsitz und können da im Projekt Nox ihre Hilfeplanung vorantreiben.“
Zentraler Anlaufpunkt für die Drob Inn-Klienten ist der große Aufenthaltsraum. Spartanisch eingerichtet, mit Tischen und Stühlen zum Ausruhen, zum Warten und Mittagessen, hinten im Raum ein langer Empfangstresen und die Küche.
„Die Klient*innen können da essen und trinken. Es wird als Warteraum genutzt, beispielsweise, wenn sie auf die Drogenkonsumräume warten, um dort aufgerufen zu werden. Sie können dort einen Termin zum Wäschewaschen vereinbaren, können sich da zum Duschen anmelden. Dafür ist der Tresen der Dreh- und Angelpunkt", sagt Kunzelmann. "Und im Café kann man sich einfach aufhalten, wenn man möchte. Man muss dort nichts tun, kann da einfach sein und ein bisschen zur Ruhe kommen.“
Nahtlose Behandlungskette für Suchtkranke
Der Trägerverein hinter dem Drob Inn ist der Jugendhilfe e.V.. 1955 hatten Hamburger Jugendrichter den Verein gegründet. Heute organisiert Jugendhilfe e.V. in ganz Hamburg auch Hilfs- und Beratungsangebote für wohnungslose Menschen. Bei den meisten Vereinsprojekten und Einrichtungen von Jugendhilfe e.V. geht es aber um Projekte für suchtkranke Menschen.
Es gibt zwei so genannte Krisenwohnungen mit stationärer Betreuung. Zwei Clean WGs, die auf ein unabhängiges und dauerhaft cleanes Leben vorbereiten. 2012 eröffnete der Verein die Fachklinik Hamburg-Mitte. Das Ziel ist klar: Mit einer nahtlosen Behandlungskette soll suchtkranken Menschen geholfen werden. Ihnen Schritt für Schritt der Weg zum Cleansein geebnet werden. Im Drob Inn geht es aber erst einmal um das Nötigste. Um sicheren Konsum, eine warme Mahlzeit, einen Moment Ruhe. Und um medizinische Versorgung.
Der Weg ins Krankenpflegezimmer führt durch eine dicke Stahltür, dann rechts den Gang runter. Hier arbeitet Amadeus von der Oelsnitz. Breite Schultern, kahler Schädel, weißer Kittel. Gelernter Krankenpfleger mit Zusatzausbildung in moderner Wundversorgung. Verbandswechsel gehören zum Tagesgeschäft. Auch Thorsten ist deshalb hier.
„Thorsten hat eine uralte Schusswunde im Rücken gehabt. Nicht wahr, Thorsten? Die ist inzwischen aber einigermaßen verheilt. Er ist ein Konsument harter illegaler Drogen, intravenös. Das verschlimmert seine Situation natürlich. Er ist nach wie vor obdachlos. Und die chronischen Wunden werden dadurch natürlich nicht besser. Auch, wenn wir uns Mühe geben, die so fachgerecht wie irgend möglich zu behandeln.“
Kaum ein Patient ist krankenversichert
Amadeus von der Oelsnitz nimmt vorsichtig den alten Verband ab, desinfiziert die Wunde. Die meisten seiner Patienten seien nicht „wartezimmerfähig“, kaum jemand ist krankenversichert.
Dann geht der Krankenpfleger ans Haustelefon. Vorn im Drob Inn gibt es einen Notfall. Keine Minute später ist er vor Ort. Mitten im Aufenthaltsraum steht der Verletzte. An einem der Metallzäune hat er sich die Handfläche aufgerissen. Blut tropft auf den Boden, die Wunde muss genäht werden. Aber erstmal muss Amadeus von der Oelsnitz den Verletzten beruhigen. Eigentlich hat er Hausverbot, wegen aggressivem Verhalten. Jetzt, mit provisorisch verbundener Hand, will er im Drob Inn erst mal essen und nicht draußen auf den Rettungswagen warten. Freundlich aber bestimmt wird er nach draußen begleitet.
Zurück im Krankenpflegezimmer bekommt Thorsten neue Verbände, eine Salbe für die durchgelaufenen, schuppigen Füße. Thorsten gehört zu denen, die gut mitmachen, erzählt der Krankenpfleger später. Dass er vielen Klienten nicht helfen kann, damit muss er genauso leben wie mit ab und zu verwirrten oder aggressiven Patienten.
„Dafür muss man gemacht sein. Dass ist eine von Zeit zu Zeit anstrengende und auch schwierige Arbeit. Oft stinkt es hier ganz schrecklich, wir sehen hier sehr schlimme Elendssituationen: Menschen mit Parasiten, Menschen mit Mangelernährung, Menschen mit extremen Infektionen, die mit dem Weiterleben oft schwierig einhergehen. Dafür muss man gemacht sein, dass muss man wollen und mögen.“
Vom Entzug in die Clean WG
Im Drob Inn und im Beratungszentrum Nox geht es darum, möglichst viele drogenkranke Menschen zu erreichen. Ein akzeptierendes, niedrigschwelliges Hilfsangebot für alle, die es nicht schaffen, abstinent zu leben. Und eine Anlaufstelle für die, die erst mal wissen wollen, welcher Weg aus der Sucht herausführt.
Sechs Männer und vier Frauen sitzen im Stuhlkreis, vorn nimmt Andreas Kibbel sie mit auf eine Meditation im dritten Stock der so genannten Clean WG.
„Ich gehe jetzt alle für eine Entspannung wichtigen Muskeln wie bei einer Reise durch meinen Körper nacheinander durch. Und versuche, sie durch reine Konzentration zu lockern.“
Mitten in Hamburg-Rothenburgsort, etwas abseits der Innenstadt, sind in vier Neubauten die Clean WG und die Fachklinik Hamburg-Mitte untergebracht. Wer hier einen großen Schritt raus aus der Sucht machen will, hat schon einiges hinter sich: zum Beispiel drei Wochen in einer Entzugsklinik. Die Meditationsübung von Andreas Kibbel gehört zum „SKT“, zum „Sozialen Kompetenztraining“. Hier sollen in der Gruppe alte Verhaltensmuster hinterfragt werden. Es geht um Misstrauen und Vertrauen gegenüber den Mitmenschen. Und um die Frage: was ist überhaupt soziales Verhalten? Gibt es das in der Drogenszene?
"Man muss lügen, man muss betrügen"
Jusef, sportlich und durchtrainiert, mit algerischen Wurzeln, hat eine Antwort.
„Es ist gar nichts sozial an der Drogenszene. Da kannst Du auch gar nicht sozial sein. Die Leute sind alle desozial. Man muss lügen, man muss betrügen, man muss Sachen machen, um zu überleben. Da kann man gar nicht so ehrlich und sozial sein. Das funktioniert nicht. Dann wird man für einen Idioten gehalten oder ausgenutzt!“
Jusef hat mit sechzehn zum ersten Mal harte Drogen genommen. Kokain und Crack, später Heroin. Er war schon Klient im Drob Inn, hat immer neue Anläufe gemacht und es jetzt in die Clean WG geschafft.
Nach dem Sozialen Kompetenztraining ist Mittagspause. Kati und Jusef, beide Mitte 40, entspannen am Holztisch auf der braungrünen Rasenfläche im Garten. Jusef erzählt von seinem letzten Absturz. Er hatte einen Job als Dolmetscher. Eine Frau, zwei Kinder. 2019 dann der Rückfall. Kurz nach dem Tod seines Sohns, erst zwei Jahre alt.
15 Monate auf der Straße
„Da konnte ich nicht mehr. Ich konnte auch nicht clean bleiben. Da ist meine Welt zusammengebrochen, alles kaputtgegangen. Ich war dann fast 14 oder 15 Monate so richtig unterwegs mit dem ganzen Programm. Auf der Straße. Ich wollte das ganze Leben nicht mehr. Ich wollte einfach nur noch weg!“
Vor dem Drob Inn hat ihn der damalige Leiter angesprochen, hat gefragt, ob er Hilfe will. So wie Jusefs Tochter für ihn Antrieb für einen neuen Anlauf ist, ist es für Kati ihr 12-jähriger Sohn. Die Haare streng zurückgebunden, hellblaue künstliche Nägel, steckt sie sich eine Zigarette an. Beim ersten Schuss war sie erst 14.
„Bei mir war das damals so: Ich fand Junkies, die haben immer schon angezogen. Ich hab immer das Gefühl gehabt, die sind so in ihrer eigenen Bubble, die sind so abgehärtet, denen kann niemand mehr irgendwas anhaben. Mit elf ist mein Vater gestorben. Und ich glaube, das war so ein unbewusster Wunsch, so abgebrüht zu werden, zu sein. Ich wollte einfach, dass mir nie wieder was weh tut.“
Rückfall beim Straßenfest
Der letzte Rückfall ist bei Jusef und Kati nicht lange her. Bei Kati war es ein harmloses Straßenfest ganz in der Nähe. Kein Problem, dachte sie, ich bin schon monatelang clean, was soll schon passieren? „Ich hab mich einfach überschätzt. Hab gedacht: Kann mir nichts anhaben. Und dann ging das doch schneller als ich gucken konnte. Es fing mit Alkohol an und Benzos. Und dann kam noch Kokain dazu, ganz zum Schluss auch Heroin. Bei mir ist so: Wenn ich mal rückfällig bin, dann geb ich mir auch alles, was ich kriegen kann.“
Kati steckt sich die nächste Zigarette an. Ihren Rückfall hat sie selbst gemeldet, hat gar nicht erst versucht, herumzutricksen. Hat nicht gewartet bis zur nächsten Urinkontrolle, die das Clean WG-Personal regelmäßig, aber ohne Vorwarnung durchführt. Kati weiß: Wer ein, zwei Mal rückfällig wird und offen damit umgeht, darf bleiben.
„Viele denken auch glaube ich, man macht sich keine Gedanken drüber – Hauptsache breit sein. Aber so ist es ja nicht. Man weiß schon, dass man Scheiße baut irgendwie. Und man ist auch nicht stolz drauf!“
Kati bläst den Rauch aus, Kopf im Nacken, drückt die Zigarette in den Ascher. Irgendwann will sie ganz stabil sein, clean ohne Rückfälle. Und vielleicht, wenn er will, kann dann auch wieder ihr Sohn zu ihr ziehen. Jetzt lebt er bei Verwandten, er hat es dort gut und ist ein toller Kerl. Kati steckt Zigaretten und Feuerzeug ein, macht sich auf den Weg zum Training mit Jusef.
Wenn Jusef tanzt
Vorher zeigt Jusef noch sein Zimmer im dritten Stock. Ein spartanisch eingerichteter Raum, pflegeleichter Boden, ein Kleiderschrank, ein Tisch, ein Stuhl, ein kleines Bad. Viel braucht er nicht, aber die große Bluetooth-Box in der Ecke ganz bestimmt.
„Ich brauch Musik. Ist sehr wichtig für mich. Internet, soziale Kontakte, manchmal Blödsinn auf TikTok machen, so für gute Laune“, sagt er.
Jusef hantiert mit dem Smartphone, verbindet es mit dem Lautsprecher. Bevor es losgeht, lässt er noch die Jalousien runter. Dunkel muss es sein, damit die kleine Lichtorgel oben auf der Box auch gute Stimmung macht. Oben an der Decke wandern bunte Flecken, blinken auf, Jusef wippt im Takt, ist begeistert. Wenn die Therapeuten sehen würden, wie er manchmal hier tanzt, sagt er, würden sie ihn sofort zum Urintest zitieren.
„Die werden sofort denken, ich hab Drogen genommen. Aber das ist ja nicht so. Es ist für Drogenabhängige ganz wichtig, dass man etwas findet. Was macht mir denn gute Laune, was macht mir denn Spaß.“
Jusef nickt rüber zu Kati. Der Sport wartet. Zehn Minuten später stehen die beiden im Trainingsdress im Fitnessraum. Zum Aufwärmen: Seilspringen, danach Liegestütz, zum Schluss kommt das Boxtraining gegen einen massiven, gut gepolsterten Poller mitten im Raum.
Strategien gegen den Suchtdruck
Ganz oben, in den Büroräumen der Clean WG, hat Andreas Kibbel seinen Schreibtisch. Kibbel nimmt die Klienten nicht nur mit auf eine Traumreise beim Sozialen Kompetenztraining. Er leitet die Clean WG und die KriWo, die Krisenwohnung in Hamburg-Wandsbek. Beide Angebote gehören zum Jugendhilfe e.V., zum Trägerverein des Drob Inn.
„Wir begreifen uns ja so ein bisschen wie eine Therapiekette", sagt Kibbel. "Es fängt an im Drob Inn, dann die Übernachtungsstätte Nox. Dann kommt vielleicht auch zwischengeschaltet noch die Krisenwohnung Wandsbek oder Thedestraße. Und dann die Clean WG. Und wir bereiten dann auch wieder auf die Therapie vor. Und dann ziehen die Klienten die Therapie durch.“
Und die findet gleich nebenan, in der Fachklinik Hamburg-Mitte statt. Dort gibt es Gruppen- und Einzeltherapien. Und für jeden Klienten, für jede Klientin geht es um eine zentrale Frage: Welche Funktion hat die Droge für mich? In welcher Situation bin ich anfällig für einen Rückfall? Welche Strategien gibt es, wenn die Sehnsucht nach dem Rausch mich packt?
Sechs Monate Fachtherapie
Sechs Monate dauert die Therapie in der Fachklinik. Plus drei Monate Adaption. Eine Gewöhnungsphase ans Leben, ohne enge stationäre, therapeutische Begleitung, ohne Betreuer, für ein Leben auf den eigenen Beinen. Nach Rückfällen von Klienten rät Andreas Kibbel ihnen, lasst euch nicht entmutigen. Auch er selbst hält sich an diesen Rat. „Ich verliere eigentlich selten die Hoffnung. Ich ermutige die Klienten immer wieder: ‚Komm, guck noch mal, mach weiter! Du schaffst das!‘ Es lohnt sich auch! Es lohnt sich wirklich. Und das lohnt sich auch für uns Mitarbeiter!“
Mut macht den Teams der Clean WG, der Fachklinik und dem Drob Inn ein Blick nach Hamburg-Harburg. Dort steht eine zumindest von außen etwas heruntergekommene Villa von Jugendhilfe e.V. Dicht an dicht rauscht der Verkehr über die Ausfallstraße in Richtung Buxtehude. Durch die alte, eiserne Gartenpforte führt der Weg durch den kleinen Vorgarten. Hier wohnen gerade vier Männer und zwei Frauen in der Außenwohnung der Clean WG. Am frühen Abend flutet die Sonne ins Wohnzimmer mit seiner hohen Decke. Auf dem Sofa sitzt Elias, die Gitarre auf dem Knie.
„Grundsätzlich singe ich den auch. Hab aber erst vor knapp einem Jahr zu singen angefangen. Aber da arbeite ich auf jeden Fall drauf hin. Und wenn wir uns in einem Jahr nochmal sehen, dann bin ich bestimmt so weit“, sagt Elias.
Aussicht auf einen Arbeitsvertrag
Elias ist 25 und gerade neu eingezogen. Er hat einen Job in Aussicht, hat Angst davor, dass ihn jemand an seiner Stimme erkennt. Auch Elias hat eine Therapie in der Fachklinik Hamburg-Mitte hinter sich. Sein Problem war das Kiffen, später der Alkohol.
Damit konnte er wegdrücken, was ihn belastet hat, erzählt Elias. Drei Mal pro Woche kommt jetzt sein Betreuer vorbei. Einmal pro Woche gibt es ein Gruppengespräch.
Damit konnte er wegdrücken, was ihn belastet hat, erzählt Elias. Drei Mal pro Woche kommt jetzt sein Betreuer vorbei. Einmal pro Woche gibt es ein Gruppengespräch.
Auf der Terrasse hinter der Villa erzählt Elias von der Aussicht auf einen Arbeitsvertrag. Fünf Jahre, nachdem er seine Ausbildung hingeschmissen hat, nach endlosem Kiffen und Trinken, nach einer schweren Depression und der Therapiezeit.
„Ist Wahnsinn. Manchmal habe ich so Momente, wo ich gar nicht glauben kann, das ich hier bin. Weil sich alles so unwirklich anfühlt. Es ist Realität, aber, wenn ich fünf Jahre zurückblicke, geht’s mir dagegen heute blendend. Und ich hätte mir vor fünf Jahren oder vor eineinhalb Jahren niemals vorstellen können, heute hier zu sitzen. Und deshalb hab ich ab und zu mal wieder Momente, wo ich einfach total fröhlich bin und mich einfach nur darüber freue, hier zu sein.“
Sechs Jahre in der Clean WG
Aus dem Souterrain der Villa zieht das Aroma von gut gewürztem Eintopf bis auf die Terrasse. Unten in der großen Küche steht Carlos am Küchentresen, schneidet Paprika und Staudensellerie. Auf dem kahlen, kantigen Schädel ein langgestrecktes Tattoo, braungebrannt, mit Flipflops zum Sportdress. Das Rezept stammt aus Kuba, erzählt Carlos. Jeden Donnerstag kocht er für die Clean WG. Aus alter Verbundenheit. Sechs Jahre hat er hier gelebt, kennt das Haus in und auswendig. Mit 50 ist er ausgezogen. Er selbst hatte hier in der Villa eine tolle Zeit, erzählt er. Eine stabile Zeit ohne Drogen. Die Zigaretten ausgenommen. Andere haben das nicht geschafft.
„Wir haben das öfter mal erlebt, dass dann Leute aus Rothenburgsort kamen. Von der vollstationären Einrichtung hier in dieses, man nennt es: Teilstationäre. Die waren am zweiten Tag rückfällig.“
Wem das passiert, muss die Konsequenzen tragen. Dass die Mitbewohner dann dichthalten, dass der Rückfall nicht rauskommt, darauf kann in der Clean WG niemand hoffen. „Das Gute hier: Es gibt eine Regel, die konstant und für alle gilt und fest ist: dass kein Rückfall von irgendwem gedeckelt wird. Und wenn derjenige drauf hingewiesen wird, dass er halt konsumiert hat, wird er von den Mitbewohnern genötigt, das aufzumachen bei den Sozialpädagogen. Er wird vor die Wahl gestellt. Ansonsten machen das die Mitbewohner. Ich sag mal: In so einer Art fast Alleinverwaltung und ohne wenigstens diese eine klare und gesetzte Regel, wird das nicht funktionieren!“
Clean und stabil seit acht Jahren
Seit acht Jahren lebt Carlos ohne Kokain, ohne Chrystal Meth, ohne Beruhigungsmittel und Alkohol. Sein Laster ist das Rauchen. Selbstgestopfte Zigaretten. Für die Harburger Clean WG-Bewohner ist Carlos ein Vorbild. Einer, der es geschafft hat. Clean und stabil, eine Neubauwohnung ganz in der Nähe. Erbaut und vermietet vom Jugendhilfe e.V. - für Menschen mit Problemen auf dem Wohnungsmarkt. Wegen einer Behinderung, wegen psychischer Probleme, wegen einer Drogen- oder Knastvergangenheit.
Carlos ist Frührentner, mit Anfang 50. Mit Boxtraining hält er sich fit, beim Angeln kommt er runter und auf andere Gedanken. Eine Passion. Morgens früh um sechs sind wir zum Raubfischangeln in den Harburger Kanälen verabredet. Carlos sieht müde aus, brüht in seiner Wohnküche Kaffee auf, sucht die richtigen Köder aus seinem gut sortierten Angelregal. Im Flur hängen Fotos berühmter Boxer. Auch Carlos geht zum Boxtraining, als Jugendlicher war er erfolgreicher Judokämpfer in der DDR.
Hundert Meter die Straße runter, rüber über eine breite, vierspurige Straße. Betonstufen nach oben, über die Güterzuggleise, auf der anderen Seite wieder runter. Fünf Minuten später ist der Lärm fast verschwunden. Carlos schaut runter ins trübbraune Wasser im Harburger Kaufhauskanal. Er hakt den ersten Köder ein, wirft die Angel aus, fast bis ans grünbewachsene Ufer gegenüber.
Wertschätzung trotz Rückschlägen
„Die Faszination ist, dass Du die Möglichkeit hast, bei jedem Wurf einen Fisch zu fangen. Die Anspannung bei jedem Wurf ist auf einem so hohen Niveau. Das ist vergleichbar mit dem Adrenalinschub, den ich früher vor Wettkämpfen hatte. So kann man das wirklich vergleichen. Und ich hab ein paar Meter weiter im Januar eine Meerforelle gefangen. Und das ist was richtig Besonderes!“
Carlos geht ein paar Meter weiter, wirft den Angelköder, rollt langsam die Spule auf, zieht den silbrigblitzenden Plastikköder durchs Wasser. Und wartet konzentriert auf den ersten Biss. Drei Anläufe hat er gebraucht, um clean zu werden. Ohne die Drogenberater, die Sozialpädagogen und Psychologen von Jugendhilfe e.V., ohne ihre Wertschätzung trotz der Rückschläge, hätte er es nicht geschafft.
„Und ich glaube, das ist ungemein wichtig. Dass man eben nicht der Versager ist, der man ja im Prinzip sein halbes Leben lang ist, seit man Drogen nimmt. Denn das ist in der Gesellschaft so: Wenn man sagt, ‚Ich trinke Alkohol‘, ist das alles in Ordnung. Wenn man sagt, ‚Ich nehme Drogen‘, dann ist man der Bodensatz dieser Gesellschaft. So geartet ist das Denken der Gesellschaft. Hier. Und wenn man dann nach einem Rückfall sofort rausfliegen würde, hat man ja wieder dieses Gefühl von ‚Man hat versagt‘, ‚Man hat es wieder nicht auf die Reihe gekriegt‘. Und das macht es ja nicht besser. Das macht’s ja keinesfalls besser.“
Irgendwann verblasst die Erinnerung
Carlos wechselt den Köder. Hakt diesmal einen buschigen, dunklen Gummifisch an die Angelschnur. Acht Jahre ist er jetzt clean. Und trotzdem gibt es noch Momente und Situationen, in denen der Suchtdruck da ist. „Ich hab das oft abends. Wenn’s dunkel wird. Im Sommer. Wenn’s erst um 22 Uhr dunkel wird. Man hört irgendwo laute Musik. Das sind so Sachen, wo bei mir der Schalter angeht.“
Dann geht er zum Sport oder greift sich die Angelausrüstung, kommt wieder runter. Oder er besucht die alte Clean WG, hat dort Menschen, die wissen, wovon er redet. Carlos behält auch beim Reden den Köder im Blick, eine Kippe im Mundwinkel. Dann endlich: Der erste Fisch beißt an und befreit sich blitzschnell wieder, verschwindet im trüben Kanalwasser.
An diesem Morgen will kein Fisch mehr beißen. Die Köder kommen zurück in den Angelkoffer. Auch, wenn es dauert, ist Carlos sich sicher: Langsam, ganz langsam verblasst die Erinnerung an den Rausch.