Besuch in der Long-Covid-Klinik

Der lange Weg zurück ins Leben

29:43 Minuten
Nordic Walking an der Ostseepromenade.
Die Median-Klinik in Heiligendamm hat eine lange Geschichte als Lungenklinik. Mittlerweile hat sie sich auch auf Long Covid spezialisiert. © Philipp Lemmerich
Von Philipp Lemmerich |
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Mehrere Hunderttausend Menschen in Deutschland leiden an den Spätfolgen einer Corona-Infektion. Durch die Krankheit nach der Krankheit ist für viele von ihnen ein normaler Alltag unmöglich geworden.
Morgenkreis an der Promenade. Blick über die Seebrücke Richtung Ostsee, links und rechts Sandstrand. Die Wellen brechen sanft. 20 Armpaare drehen gleichzeitig nach hinten und vorne. Auf der anderen Seite das Fünfsterne-Grand-Hotel mit den berühmten Strandkörben, in denen Angela Merkel 2007 die Mächtigen der Welt zum G-8-Gipfel lud. Der Hintereingang ist mit Adventskugeln beleuchtet. Reha-Gymnastik vor edler Kulisse.
Also fangen wir noch mal von vorne an. Wir drehen noch mal den rechten Arm nach hinten. Er macht jetzt einfach weiter, dreht und dreht und dann nehmen wir den Linken nach vorne mit dazu.“

Patienten, die gar nicht krank aussehen

Viele der Patientinnen und Patienten, die hier Übungen machen, sehen gar nicht krank aus. Zu ihrem Leidwesen, werden mir viele von ihnen später erzählen, denn so nimmt man ihnen zu Hause, auf Arbeit, in der Nachbarschaft die Krankheit nicht richtig ab. Aber Long Covid macht ihnen einen normalen Alltag unmöglich.
Viele sind ständig erschöpft, etliche sind arbeitsunfähig, manche bangen um ihre Existenz. Auch Micha, 39 Jahre alt, Sportlehrer und Fußballtrainer aus Köln, sieht nicht krank aus. Sportlich, drahtig, modische Joggingjacke, die Fußballstutzen bis zu den Knien hochgezogen. Trotzdem fühlt er sich als Schatten seiner selbst.
„Ich habe letztes Jahr im Januar eine Studie mitgemacht, Ergometer gefahren. Da bin ich 260 Watt gefahren mit dem Fahrrad in Intervallen. Und das bin ich über eine halbe Stunde gefahren. Und hier fahre ich 100 Watt, 15 Minuten, und muss danach zwei Stunden schlafen. Das ist Wahnsinn, wirklich. Richtig erschreckend, dass der Körper so abbaut. Kann nicht joggen gehen auf einmal. Vorher 20 km gelaufen. Ich kann keine 400 Meter laufen.“

"Wie ein vernebeltes Gehirn"

Neben Micha macht Katharina ihre Übungen. Sie ist 33 Jahre alt, Sozialarbeiterin aus Hannover, eigentlich zu jung für eine Reha-Klinik. Eigentlich. Ich bin vor meiner Erkrankung auch regelmäßig gelaufen und habe auch im Fitnessstudio Sport gemacht. Aber seitdem geht das nicht mehr.“
Katharina Sozialarbeiterin aus Hannover steht vor einer Bushaltestelle mit Handgepäck.
„Am Anfang, als ich dann wieder auf der Arbeit war, hatte ich wie so ein vernebeltes Gehirn", sagt Katharina.© Philipp Lemmerich
„Seitdem“, das heißt seit ihrer Corona-Infektion. Katharina hat sich an Weihnachten 2020 angesteckt, und das, obwohl sie sich an alles gehalten hat, woran man sich halten sollte: Abstand und Maske und Social Distancing. Eine Impfung, die vor Long Covid schützt, gab es damals noch nicht. „Seitdem“ bedeutet auch, dass Katharinas Leben nicht mehr so ist, wie es einmal war.
„Am Anfang, als ich dann wieder auf der Arbeit war, hatte ich wie so ein vernebeltes Gehirn. Ich konnte das alles nicht auffassen, was geschrieben stand oder was ich jetzt machen müsste. Ich habe ganz lange gebraucht, war ganz langsam. Das ist jetzt schon ein bisschen besser geworden. Aber bei den Übungen merke ich das halt auch.“

Wenig wissenschaftliche Studien

Zu Long Covid gibt es noch wenige wissenschaftliche Studien. Wahrscheinlich handelt es sich um eine falsche Immunantwort des Körpers auf eine Covid-19-Infektion. Antikörper, die gegen das Virus gebildet werden, richten sich dann auch gegen den eigenen Körper und rufen überall Entzündungen hervor.
Die Median-Klinik in Heiligendamm bietet keine Therapie gegen die Krankheit. Sie will den Patienten das Leben mit der Krankheit erleichtern. Mit Gymnastik und Krafttraining, mit Ergotherapie und psychologischer Betreuung. Oder eben mit Stoffwechselgymnastik an der Ostsee-Promenade. Der Therapeut lächelt, wirkt zufrieden. Ist er auch: „Eindruck heute: alle fröhlich. Es waren aber alle motiviert, es haben alle mitgemacht. Es wurde gelacht. Das ist eigentlich eher selten.“

Die Reha-Gruppe im Gänsemarsch

Zurück zur Klinik geht es einmal quer über das Hotelgelände. Die Reha-Gruppe geht im Gänsemarsch.
„Darf ich fragen, wie dein Tagesplan ist?“, frage ich. „Ich habe jetzt gleich noch ein Einzelgespräch mit der Psychologin. Dann habe ich einen Vortrag über gesunde Ernährung. Aber ansonsten gibt es dann um Viertel nach 12 Mittag und um 14.30 Uhr dann Nordic Walking", sagt Katharina. „Sind die Tage eher vollgepackt?“, möchte ich noch wissen.
„Das kann man sich auch so ein bisschen selbst mitbestimmen. Am Anfang waren meine Tage überhaupt nicht vollgestopft, dass es mir zu wenig war. Und dann konnte ich halt mit den Schwestern oder auch mit der Ärztin sprechen. Die haben mir dann noch mehr Angebote reingepackt, sodass ich mich gefördert fühle, aber auch nicht überfordert.“
In der Klinik angekommen, mache ich einen ersten Zwischenstopp am Kaffeeautomaten im Erdgeschoss. Dünner Klinikkaffee, wie er wahrscheinlich in ganz Krankenhaus-Deutschland getrunken wird. Mein Termin im Anschluss: Ergotherapie mit Marina.

Buchstabensalat ordnen in der Ergotherapie

„Jetzt können Sie mal Anagramme machen. Schwer. Also nicht Kinder-Variante", erklärt Katrin Helm. „Muss ich alle Buchstaben verwenden?“, fragt Patientin Marina. „Ja, also alle Buchstaben ergeben ein Wort und auch ein sinnvolles Wort.“
Ein kleiner fensterloser Raum im Untergeschoss. Marina, 31 Jahre alt, eigentlich Assistenzärztin für Innere Medizin in einem Klinikum bei Köln, sitzt vor einem alten Computermonitor, der ihr einen Buchstabensalat anzeigt. AGWAE. „Waage“ tippt sie vorsichtig in das Eingabefeld. Ein grüner Haken erscheint. „MAKREM“ zeigt der Bildschirm. „Kammer“ tippt sie. REBSTH. Herbst.
Gymnastikraum im Souterrain.
Mit Gymnastik und Krafttraining soll unter anderem den Patienten geholfen werden.© Philipp Lemmerich
Mit Corona infiziert hat sich Marina im September 2020 während der Arbeit im Klinikum.
„Danach habe ich dann auch die ersten Symptome bekommen. Ich hatte hohes Fieber, am Anfang über 39 Grad, Schüttelfrost, mir taten alle Glieder und Gelenke weh. So ein bisschen wie eine Nasennebenhöhlenentzündung. Also man fühlt sich krank, aber ich war damals 30, keinerlei Vorerkrankungen, dass man so am Anfang gedacht hat, ja, das wird jetzt alles gut werden. Aber dann irgendwie so an Tag acht ging es los mit Husten, stärkste Luftnot, eigentlich schon bei der kleinsten Belastung.“
Vier Wochen blieb Marina damals in Quarantäne, bis die Symptome etwas nachließen.

Kein Raumgefühl und Schwindel

„Und dann durfte ich zum Glück irgendwann wieder raus und habe mich dann auch total gefreut und gedacht: So, Mensch, jetzt gehst du mal Müll wegbringen, ist nur eine Etage runter. Und ich habe schon gemerkt die ersten Meter, dass mir sehr schwindelig wurde, ich irgendwie so ein bisschen dieses Gefühl für den Raum verloren habe. Und auf der Treppe bin ich hingefallen und habe gemerkt körperlich, das geht gar nicht.“
Marina bei der Inhalation.
In ihrem früheren Job in der Inneren Medizin kann Marina nicht mehr arbeiten. © Philipp Lemmerich
15 Monate ist das inzwischen her. Viele Probleme von damals hat Marina auch heute noch. Sie ist sehr schnell erschöpft, muss viel schlafen, hat Konzentrationsstörungen, Probleme mit der Feinmotorik. Die Ergotherapie soll ein Baustein sein für Marina auf ihrem Weg zurück in die Normalität. Die nächste Übung heißt „Augenzeuge“.
Auf dem Bildschirm wird eine animierte Straßenszene gezeigt. Die Patientin soll die Augenzeugin mimen, muss im Anschluss Fragen beantworten. Wie viele Fahrzeuge fuhren vorbei? Wohin wies der Wegweiser? Wie viele Personen standen vor der Kneipe?
„Links, oben und unten und drei standen davor. Aber das ist, das sind ganz viele Informationen", sagt Katrin Helm. „Welches Gebäude war der Supermarkt?“, fragt Marina zurück.

"Ist halt alles weg"

Marina tut sich sichtlich schwer, sich alle relevanten Informationen zu merken. Aber zugegeben: Die Übung ist auch nicht leicht. Ich zähle still mit, wie viele Fragen ich richtig beantwortet hätte.
„Ja, aber es ist schon zu merken, dass die Kondition nachlässt", sagt Katrin Helm.
„Aber das ist genau das, was ich auch merke in meinem Alltag, dass mehrere Sachen so entschwinden, wo ich denke, die sind eigentlich total klar und die muss ich wissen und hatte auch vorher überhaupt keine Probleme damit, mir Dinge zu merken. Also ich mache ja viel mit dem Kopf bei der Arbeit. Und das ist halt alles weg", erzählt Marina.
„Wenn sie Ruhe haben, Zeit haben, dann kriegen sie auch alles gut hin. Nur viele Dinge gleichzeitig, was ja immer für jeden auch schwer ist, aber das konnten sie wahrscheinlich vorher sehr gut. Und jetzt ist da eins nach dem anderen, erst mal wieder schrittweise lernen und aufarbeiten. Für Sie auch die Empfehlung, dass die Ärzte das in den Bericht schreiben. Ergotherapie, Weiterbehandlung, denn sie würden davon auch profitieren, glaube ich", erklärt Katrin Helm.
Nach der Ergotherapie setze ich mich gemeinsam mit Marina in den Aufenthaltsraum im Erdgeschoss. Ein halb leerer Raum mit einer Couch, Bücherregalen und einem 1000-Teile-Puzzle zum Zeitvertreib. Hier können wir ungestört reden.

Kein Weg zurück in den alten Job

„Also ich bin ja Ärztin, sprich ich mache viel über den Kopf. Man denkt viel, man muss viel immer parat haben, es kommen immer von außen neue Reize. Ruft da mal einer an, der hat mal was. Das überfordert mich komplett.“
In ihrem früheren Job in der Inneren Medizin kann Marina nicht mehr arbeiten. Sich einzugestehen, nicht mehr so leistungsfähig zu sein wie vorher, Abstriche machen zu müssen im Beruf war für sie der wohl schwierigste Teil der Krankheit. Ihr Arbeitgeber hat sie bislang unterstützt und ihr eine andere Stelle angeboten: Auf der Palliativstation, wo die Arbeit geregelter ist als im Klinikalltag und der Notfallmedizin.
Doch ihr Wunsch, weiterhin arbeiten zu können, hat eine Kehrseite: Das Privatleben leidet. „Im Alltag ist das halt so: Ich komme nach Hause, so gegen fünf und spätestens um 18 Uhr schlafe ich und das ganze Wochenende schlafe ich mehr oder weniger durch, weil ich das so zur Regeneration brauche.“

Für soziale Kontakte fehlt die Kraft

Ihr Freund schmeißt den Haushalt, kümmert sich um das Essen. Soziale Kontakte, private Treffen nach Feierabend, Ausflüge, das alles ist kaum möglich.
„Und ich habe auch viele Hoffnungen in diese Reha gesetzt. Die Reha ist auch gut. Es war aber, glaube ich, von mir selber zu naiv gedacht. Also irgendwie ist es ganz klar: Drei Wochen Reha können einen nicht gesund machen, wenn man es vorher in 15 Monaten nicht geworden ist.“
Als nächste Anwendung steht für Marina Inhalation auf dem Programm. In einem Raum im Kellergeschoss hängen weiße Geräte an der Wand, aus denen jeweils ein blauer Schnabel aus Gummi ragt. Dort strömt mit Kochsalz befeuchtete Luft heraus. Marina setzt sich das Mundstück auf die Lippen und atmet tief ein. Das soll helfen, die Lungenfunktion wiederherzustellen.

Post-Covid Therapie wurde umgestellt

Die Median-Klinik in Heiligendamm hat eine lange Geschichte als Lungenklinik. 1997 gegründet, lag der Schwerpunkt auf der Behandlung von Asthma und anderen Lungenerkrankungen. 2020, als die Pandemie gerade ein paar Wochen alt war, kamen die ersten Patienten mit Corona-Langzeitfolgen nach Heiligendamm. Menschen, die mit schweren Verläufen auf der Intensivstation gelegen haben und beatmet werden mussten. Post Covid also. Darauf hatte sich die Klinik mit entsprechenden Therapieplänen schon eingestellt.  
Median-Klinik, Klinikgarten.
Die Warteliste der Median-Klinik für Long-Covid-Patienten ist lang.© Philipp Lemmerich
„Aber es war dann tatsächlich erst ein paar Monate später, wo wir gemerkt haben: Mensch, hier sitzen auf einmal junge Menschen vor allem, die überhaupt nicht in ihren Symptomen ernstgenommen werden und die keinerlei Anlaufpunkte haben", sagt Jördis Frommhold, Chefärztin der Abteilung für Atemwegserkrankungen, in ihrem Büro in Heiligendamm.
„Und wir mussten natürlich auch lernen. Wir haben dann erst diese Long-Covid-Patienten auch ähnlich behandelt wie die Post-Covid-Patienten und stellten fest, dass wir da mit den ursprünglichen Therapieoptionen gar nicht weiterkommen, sondern dass wir da wirklich umdenken müssen.“

Die Klinikleiterin schlägt früh Alarm

Damals beschäftigte sich noch kaum jemand mit diesem neuen Krankheitsbild. Frommhold begann Alarm zu schlagen, bei Kollegen und auch medial. Sie hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das Thema in Deutschland überhaupt erst bekannt wurde. Heute ist sie so etwas wie die Pionierin der Long-Covid-Szene.
„Was ich immer sehr schade finde, wenn dann diesem neuartigen Krankheitsbild Long Covid so ein bisschen die Daseinsberechtigung abgesprochen wird. Natürlich wissen wir die Ursache noch nicht, aber diese Menschen sind krank, die haben Beschwerden, auch wenn wir keine pathologischen Befunde finden. Aber es geht ihnen nicht gut und sie sind nicht arbeitsfähig. Und das müsste eigentlich für die Ärzteschaft genug Grund sein, sich auch um diese Patienten zu kümmern, auch wenn wir jetzt noch nicht die wegweisenden Studien haben.“

Bis zu 200 verschiedene Symptome

Es ist Jördis Frommhold anzumerken, dass sie schon viele Interviews zum Thema geführt hat. Sie nickt wissend, wenn ich meine Fragen stelle, beantwortet sie routiniert. Trotzdem wirkt sie nicht wie ein kühler Medienprofi. Sie sieht das Leid, das Long Covid anrichtet, ja jeden Tag in den Patientengesprächen.

„Mir persönlich sind tatsächlich so die wirklich jungen Patienten hängen geblieben. Es kommt häufig vor, dass Patienten weinend hier sitzen, und ich denke im ersten Moment: Oh Gott, was habe ich jetzt gemacht? Und die Patienten sind einfach nur glücklich, weil sie sagen: Endlich hört mir einer zu und endlich muss ich mich nicht mehr rechtfertigen für meine Erkrankung.“

Jördis Frommhold

Viele der Patienten in Heiligendamm haben eine lange Odyssee hinter sich. Long Covid ist extrem schwer zu diagnostizieren. Bis zu 200 verschiedene Symptome gibt es. Die mit einer überstandenen Corona-Infektion in Verbindung zu bringen, ist gar nicht so leicht.

"Ein großes ökonomisches Problem"

Wissenschaftliche Daten zum Krankheitsbild gibt es noch nicht viele. Eine aktuelle Studie der Universität Mainz zeigt alarmierende Ergebnisse: 10.000 Menschen zwischen 25 und 88 Jahren wurden untersucht. 40 Prozent der Studienteilnehmer, die sich mit Covid-19 infiziert hatten, klagten über Müdigkeit, Gedächtnisstörungen oder Kurzatmigkeit.
Und 15 Prozent fühlten sich gar dauerhaft in ihrem Leben eingeschränkt. Jördis Frommhold geht von zehn Prozent aller Infizierten aus, die mit chronischen Spätfolgen zu kämpfen haben. Das wäre weit über eine halbe Million Betroffener in Deutschland.
„Und wenn man sich vorstellt, was das möglicherweise auch für ökonomische Auswirkungen Vorerkrankungen hatten häufig, die auch nicht einen schlechten Lebenswandel geführt haben oder irgendwas, sondern die Leistungsträger unserer Nation sind und waren und hoffentlich auch wieder sein wollen – wenn die wegfallen und nicht arbeitsfähig wieder werden oder erwerbsunfähig bleiben, dann haben wir ein verdammt großes ökonomisches Problem auch irgendwann.“
Das Gesundheitssystem muss sich stärker als bislang auf Long Covid einstellen. Genauere Diagnosen, mehr Therapieplätze, mehr Forschung. Die Sorgen der Betroffenen ernst nehmen. Das ist die Forderung von Jördis Frommhold. Damit hat die junge Chefärztin durchaus Erfolg. Auf ihrem Schreibtisch stapeln sich die Medienanfragen. Und sie schreibt gerade ein Buch über Long Covid. Ein großer Verlag hat sie dafür angefragt.

Infektion bewältigt, die Krankheit ist geblieben

Mittagszeit in der Reha-Klinik. Bulgur mit Gemüse steht auf dem Speiseplan. Wegen der Corona-Bestimmungen hat jeder Patient einen eigenen Sitzplatz. Gäste müssen leider draußen bleiben. Ich schaue dem Trubel zu und begnüge mich mit einer mitgebrachten Stulle.
Es ist 14.30 Uhr. Auf dem Therapieplan von Katharina – der jungen Sozialarbeiterin aus Hannover, die ich heute Morgen kennengelernt habe – steht Nordic Walking. Treffpunkt: Hinterausgang der Reha-Klinik.
Katharina ist die fitteste Patientin, die ich hier in Heiligendamm treffe. Sie scheint den Leidensweg seit ihrer Corona-Infektion vor ziemlich genau einem Jahr recht gut bewältigt zu haben. Die Techniken, die ihr bei der Reha mitgegeben werden, helfen ihr dabei: In sich hineinhören. Die eigenen Grenzen kennenlernen und respektieren. Frühwarnsignale des Körpers erkennen. Aber abschließen mit der Krankheit kann Katharina trotzdem noch nicht.
„So ganz hinter mir lassen kann ich, glaube ich, gar nicht sagen. Also die Krankheit hinter mir lassen. Es bleibt ja immer noch ein Teil da. Es ist einfach nur so, dass ich diese Krankheit jetzt so ein bisschen besser bewältigen sollte und auch das, was ich durchgemacht habe, einfach ein bisschen verarbeiten kann.“

Jeder kämpft für sich allein

Strammen Schrittes geht die Nordic-Walking-Gruppe einen Waldweg entlang, biegt dann links ab und erreicht die Ostsee-Promenade. Katharina bewegt beim Gehen konzentriert Arme und Stöcke auf und ab. Sie steckt die Geschwindigkeit mit Leichtigkeit weg – oder lässt sich zumindest nichts anmerken. Ich haste mit meinem Aufnahmegerät hinterher.
Hier und da quatschen ein paar Läuferinnen miteinander. Aber generell lässt mich der Eindruck nicht los, dass hier jeder für sich allein gegen die Krankheit kämpft. Freundinnen, Leidensgenossen, die sie auf ihrem weiteren Weg begleiten könnten, hat Katharina bislang nicht kennengelernt.
"Dadurch, dass es so viele sind und immer so ein ständiges Kommen und Gehen. Eher weniger. Also nur halt in den Gruppen kommt man vielleicht mal so ins Gespräch. Mit einer älteren Patientin habe ich noch Hula-Hoop gemacht in der Fitnesshalle unten. Das war noch ganz cool, aber ansonsten eher weniger.“

Erschöpft nach einer Viertelstunde Gymnastik

Am nächsten Tag treffe ich Micha wieder, den Sportlehrer. Seine Erkrankung liegt nur drei Monate zurück. Weil seine Symptome nicht besser wurden, fasste er sich ein Herz und rief in der Klinik an. Er hatte Glück: Eine Woche später konnte er auf einen frei gewordenen Platz nachrücken. Jetzt steht er in gewohnt sportlichem Outfit im Gymnastikraum und macht Dehnübungen.
Heute lässt sich freundlicherweise die Sonne mal blicken. Orangefarbenes Licht fällt durch die Souterrainfenster und strahlt die bunten Gymnastikmatten an. Die Patienten liegen auf dem Bauch, den Blick Richtung Boden, die Unterschenkel abgehoben, die Arme ausgestreckt. Micha muss sich sichtlich anstrengen.
Die Zähne sind zusammengebissen, auf der Stirn perlt der Schweiß. Im Anschluss noch eine Übung auf dem Rücken: die Beine aufgestellt, die Hüfte angehoben – eine Brücke. Nach einer guten Viertelstunde ist der Kurs auch schon wieder vorbei. Micha ist erschöpft.
„Das ist normalerweise nicht mein Anspruch. Also ohne irgendwem zu nahe zu treten, aber hier an mein Limit zu kommen in einer Viertelstunde Gymnastik, wo ich mich vorher kaputt gelacht habe, da brauche ich ein bisschen Galgenhumor für, wirklich. Es ist schon hart.“

"Ich bin wie ein Hundertjähriger"

Der 39-Jährige brennt für den Sport. Er ist nicht nur Sportlehrer, sondern auch Fußballtrainer einer Oberliga-Mannschaft, geht laufen, fährt Fahrrad. Ein Mensch mit hohen Ansprüchen an seine Fitness. Eigentlich. Denn Long Covid macht ihm das seit ein paar Monaten unmöglich. „Körperlichkeit, Sportlichkeit ist schon ein wichtiger Bestandteil in meinem Leben. Der fällt so weg. Das ist schon deprimierend und traurig.“
Micha, Sportlehrer und Fußballtrainer aus Köln, steht am Wasser und schaut auf das Wasser hinaus.
Micha fühlt sich nach seiner Covid-Erkrankgung jetzt oft wie ein Hundertjähriger.© Philipp Lemmerich
Dabei hatte auch Micha – wie die meisten anderen hier – keinen schweren Verlauf. Er hatte keine Vorerkrankungen, gehörte keiner Risikogruppe an, musste nicht stationär behandelt werden. Aber die Symptome, die bei seiner Covid-Infektion auftraten, sind einfach geblieben. Bis heute.
„Also ich sage das immer so sehr lapidar zu Freunden, zur Familie: Ich bin wie ein Hundertjähriger. Also ich bin einfach platt. Für mich ist alles anstrengend. Ich bin mega Musikfreund. Ich liebe Musik, spanische Beats machen mir große Lebensfreude. Ich kann, seit ich Corona hatte, keine Musik mehr hören. Ist einfach zu anstrengend. Muskulatur tut sehr weh. Einen starken Tinnitus. Geschmacks- und Geruchsverlust, sage ich mal so, das kleinste Übel, dass ich gar nichts mehr schmecke und rieche.“

Der Körper rächt sich bei Überbelastung

Als Sportler hat Micha gelernt, seine eigenen Grenzen zu verschieben. Aber genau das ist jetzt der falsche Weg, das sagen sie ihm hier auf Reha jeden Tag. Eine Überbelastung macht alles noch schlimmer. Der Körper rächt sich mit stundenlangen, mit tagelangen Talphasen. Trotzdem will sich Micha mit der Krankheit nicht abfinden. In ein paar Tagen wird er hier abreisen und kann doch bis jetzt keinen Fortschritt erkennen. Das frustriert ihn.
Später am Nachmittag kommt dann doch noch mal ein ehrgeiziger, ein gut gelaunter, ein hoffnungsfroher Micha zum Vorschein. „Wo sind wir denn jetzt gelandet? Erzähl mal!", sage ich. "
Jetzt sind wir an so einen kleinen Geheimtipp gelandet, wo man etwas Gutes für die Seele tun kann und fürs Herz, für den Geist. Und zwar hier bei sieben Grad in die Ostsee zu gehen", meint Micha. „Und du willst es jetzt wirklich machen?“, frage ich.

"Irgendwelche Highlights brauche ich ja. Ich muss mich ja irgendwie wieder fühlen, dass ich irgendwas schaffe. Das ist ein ganz tolles Gefühl wirklich, weil der Körper einfach dann richtig arbeitet. Dann wird der Körper wieder warm und man lebt irgendwie. Man sieht ja, man ist doch nicht ganz am Ende. Das ist ganz gut.“

Micha

Der Wind pfeift, die Sonne ist schon hinter den Bäumen verschwunden. Das kann Micha nichts anhaben. Zielstrebig watet er ins Wasser, taucht ein bis zum Hals, jubelt, als er wieder rauskommt. Ich kann einfach nicht anders und mache es ihm nach. Das Wasser brennt wie Nadelstiche auf der Haut, die Kieselsteine bohren sich in die Fußsohlen. Ich tauche unter und fühle mich so lebendig wie seit Tagen nicht mehr.
Bad in der Ostsee bei sechs Grad Wassertemperatur.
Das Bad in der Ostsee bei sechs Grad Wassertemperatur weckt wieder die Lebensgeister.© Philipp Lemmerich
Am Abend schreibt mir Micha eine Nachricht auf Whatsapp: „Eiskalt nach dem Duschen einen Einbruch gehabt und bis jetzt geschlafen. Ich sage dir, wie ein Greis.“

Hunderte auf der Warteliste für die Reha

"Long Covid zu haben, das kann man gar nicht anders in Worten fassen, außer dass man halt sagt: Ja, mein Leben hat die letzten 15 Monate nicht wirklich stattgefunden, also zumindest nicht auf irgendeine Art und Weise, dass man sagt, es war jetzt großartig schön.“
Am nächsten Morgen treffe ich Marina noch mal, die Ärztin aus der Nähe von Köln. Mit gepackten Koffern steht sie vor den Schiebetüren der Klinik und verabschiedet sich von ihren Mitpatientinnen. Drei Wochen Reha sind nun für Marina vorbei. Eine Reha, für die sich Hunderte Menschen in Deutschland auf eine Warteliste haben setzen lassen. Auf die sie zum Teil ein ganzes Jahr mit Bangen warten, weil sie sich endlich Linderung erhoffen.
Marina geht nun zurück in ihr echtes Leben. „Gehst du jetzt eher hoffnungsvoll oder eher sorgenvoll nach Hause?“, frage ich sie.
„Ich glaube, ich werde mehr hoffnungslos. Nicht, weil die Reha an sich irgendwas gemacht hat, was mich hoffnungsloser stimmt. Aber es war natürlich auch so ein bisschen ein Hoffnungsanker hier, dass man doch so ein bisschen mehr vielleicht eine Besserung verspürt. Ich habe vorher immer gedacht: bis zur Reha. Und viele negativen Gedanken ein bisschen ausgeblendet.
Long Covid Ostsee Heiligendamm Marina, Assistenzärztin in der Nähe von Köln.
Marina weiß, dass sie sich wohl von ihrem alten Leben verabschieden muss.© Philipp Lemmerich
Na dieses, was ist, wenn es nicht besser wird? Was machst du dann beruflich? Was machst du generell auch so? Na ja, sagen wir mal Familiengründung oder so. Ich kann mich jetzt nicht mal um mich selber kümmern, geschweige denn wie soll ich mich um ein Kind kümmern. Und vielleicht muss man es als neues Normal akzeptieren. Nur dann kann man halt seinen vorher gewohnten Alltag, den man halt auch sehr gerne hatte, nicht mehr leben. Und das macht Angst.“

Eine Lotterie, wen es trifft und wen nicht

Nach drei Tagen in der Reha-Klinik in Heiligendamm fahre ich jetzt wieder nach Hause. Ich werde Freunde treffen am Wochenende, zum Glühwein trinken. Eigentlich das normalste der Welt, aber für Marina und Micha und die anderen oder viele andere hier geht das nicht einfach so.
Denn diese Krankheit, Long Covid, hat ihr Leben komplett durchkreuzt. Ich glaube, wer sich mit Long Covid beschäftigt, der denkt anders über diese Pandemie. Der merkt, dass es einfach eine Lotterie ist, wen es trifft und wen nicht. Ich glaube, ich habe mich in eineinhalb Jahren Pandemie wirklich selten so verletzlich gefühlt wie nach diesen Tagen hier.

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