Der letzte Lenin

Von Alexa Hennings |
Seit 1985 steht Lenin in voller Größe in Schwerin. Abreißen oder als Rankhilfe für Pflanzen benutzen, ab ins DDR-Museum oder mit einer Erklärung versehen stehen lassen? Um diese Frage ist in der mecklenburgischen Landeshauptstadt ein heftiger Streit entbrannt, der die Seelenlage der Ostdeutschen widerspiegelt. Schandmal, Ehrenmal oder Denkmal? Immerhin geht es um das letzte Lenin-Standbild in ganz Westeuropa.
Schwerin, Hamburger Allee. Früher: Leninallee. Früher gibt es nicht mehr, die Leninallee wurde umbenannt, ebenso wie der Leninplatz, aber Lenin selbst steht noch aufrecht am Straßenrand. Lässig sieht er aus, beide Hände tief in den Manteltaschen vergraben, breitbeinig, der Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Unter ihm kein hoher Sockel, nur eine kleine Plattform, nicht höher als zwei Fischkisten. Man kann sich ihm zu Füßen setzen. Und warten, ob mal jemand vorbei kommt.

Passant: "Lenin? Das war ein, ein, ein, ein ehemaliges Staatsoberhaupt in der Sowjetunion! Wladimir Iljitsch Uljanow hieß er richtig. Er hat irgendwie den Aufstand mit geplant, um die Weißrussen zu enteignen und den sozialistischen Staat aufzubauen. So 17. Jahrhundert, so um 1717 ist er gestorben – genau weiß ich es jetzt nicht mehr. Ist schon so lange her!"

Wladimir Iljitsch Lenin, Urheber des "Dekrets über den Grund und Boden" und des "Dekrets über den Frieden" ist am Denkmal zu lesen. Es war 1985, als der lettische Bildhauer Jaak Soans die Statue schuf und sie in der größten Schweriner Plattenbausiedlung aufgestellt wurde. Die Wende überstand der in Erz gegossene Kommunist unbeschadet – als letztes übrig gebliebenes Lenin-Standbild in ganz Westeuropa.

Und das, fand Herr Priesemann, wäre nicht mehr länger tragbar, startete seinen alterschwachen PC und formulierte einen Beschlussvorschlag.

Denn Christoph Priesemann ist nicht nur einfach Bürger Schwerins, sondern Abgeordneter in der Stadtvertretung. Und als solcher ist man antragsberechtigt.

"So, das ist der Beschlussvorschlag: ‚Der Oberbürgermeister wird beauftragt, das Lenin-Standbild zu einem möglichst schnellen Zeitpunkt entfernen zu lassen.’ So, und dann habe ich hier die Begründung: ‚Das Leninstandbild stellt einen der schlimmsten Tyrannen des 20. Jahrhunderts dar. Lenin war ein Diktator, der alle, die nicht seinem Kurs folgten, erschießen oder auf andere Weise umbringen ließ. So fielen in den Jahren, in denen er an der Macht war, etwa 13 Millionen Menschen seinen Säuberungsaktionen zum Opfer...’""

Christoph Priesemann ist ein pensionierter Mathe-Lehrer und FDP-Abgeordneter. Sein Vater wurde 1950 aus Schwerin nach Moskau verschleppt und dort erschossen. 40 Jahre lang erfuhr die Familie nichts vom Schicksal des Vaters. Im Jahr 2005 fuhr Christoph Priesemann nach Moskau und erlebte, wie ein Gedenkstein für die dort zwischen 1950 und 1953 Erschossenen eingeweiht wurde. Er hörte in Moskau die Vorträge vieler Historiker, die sich mit Lenin und den Auswirkungen seiner Politik befassten. Und so begann Lehrer Priesemann auf seine alten Tage extra noch mal Lenin zu studieren, um den Antrag auch wasserdicht zu machen.

"”Wie soll man den Wettbewerb führen, Januar 1918. Aus: Lenin, Ausgewählte Werke, Band 4, Dietz-Verlag 1974. Können wir mit diesem Wissen diesen Diktator weiter ehren? Ich glaube, dass das nicht möglich ist.""

Christoph Priesemann ist ein besonnener, grauhaariger, älterer Herr mit Lachfältchen um die Augen. Er lässt sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Man kann sich richtig vorstellen, mit welcher Engelsgeduld er früher seinen Schülern die Sinusfunktionen erklärte. Aber seit dem Tag, als er seinen Vorschlag öffentlich machte, war es mit seiner Ruhe dahin. Silke Gajek, eine Abgeordnete in der Fraktion Unabhängiger Bürger, erinnert sich genau an die Reaktionen in der Stadtvertretung.

"”Priesemann war ja Lehrer. Und als er das vorgeführt hat, da war er natürlich emotional und total aufgeregt – er hat ja das erste Mal öffentlich darüber geredet. Da kam dann – in dem Sinne – er hätte ja selber keine persönlichen Nachteile gehabt. Er wäre ja Lehrer. Das kam von der Fraktion, die heute noch Macht hat, und die das, was bis 89 passiert ist, völlig ignorieren und sich jetzt als die Demokraten hinstellen und ihm da sagen: Er hätte ja keine Nachteile gehabt, er hätte ja wohl Lehrer sein können! Und da habe ich gedacht: Was läuft hier eigentlich ab? Zu sagen: Du warst ja Lehrer und kannst doch jetzt nicht den Mund aufmachen! So wie ein Nestbeschmutzer, ein Verräter. Also, den wirklich in so ´ne Ecke gestellt. Das war schon unmöglich, was da abgelaufen ist.""

Der 65-jährige Schweriner Lehrer Priesemann ist vielleicht ein schönes Beispiel für ein heutiges Sozialkunde-Lehrbuch: Das Beispiel eines Menschen, der sich in der DDR anpasste, anpassen musste, und der es dennoch gelernt hat, aufzustehen und seine Meinung zu sagen. Auch, wenn es spät ist – aber zu spät kann es dafür gar nicht sein in einem Menschenleben, findet er.

"”Jetzt lebe ich nicht mehr in einer Diktatur, sondern in einer Demokratie. Jetzt darf ich sagen, was ich denke, und ich will das auch tun. Man muss sich mehr einbringen, und dann werden wir auch in Mecklenburg-Vorpommern eine bessere demokratische Kultur bekommen.""

Eine bessere demokratische Kultur – die ist auch nötig in einem Bundesland, wo laut Umfragen die Hälfte der Einwohner wieder eine straffere Führung wünscht und die NPD im Landtag sitzt. Auf welchem Niveau die Mecklenburger Diskussionskultur sich befindet, kann man am Beispiel Lenindenkmal in der Lokalpresse verfolgen. Seit Priesemanns Antrag verging kaum ein Tag ohne Leserbrief zu diesem Thema.

"Die Ideen waren nicht schlecht, die der Sozialismus hatte. Leider wurde der Gedanke missbraucht. Genauso könnte man Jesus-Statuen entfernen! Denn es gab in der Geschichte der Christenheit auch viel Ungerechtigkeit, Hexenverbrennungen, die Kreuzzüge nicht zu vergessen. Da wurden die Gedanken auch missbraucht!"

"Von den Protagonisten für einen Abbruch, wie Herrn Priesemann, ehemaliger Lehrer, ist diese rückwärtsgewandte Diskussion für mich lächerlich. Sie hätten ja zu DDR-Zeiten mal Position beziehen können!"

"Man könnte das Denkmal doch als Rankhilfe für Grünpflanzen nehmen. Es gibt sowieso zu wenig Grün auf dem Großen Dreesch."

"Lenin war der Anwalt der Schwachen und der Befreier des russischen Volkes."

"40 Jahre lang hatten weder Kapitalisten noch Junker in unserem Land das Sagen. Deshalb jetzt der Aufschrei ihrer Domestiken!"

"Zu viel von den in der DDR entstandenen Kulturgütern wurde beseitigt, als solle es keine Zeugnisse mehr aus dieser Zeit geben!"

Priesemann: "”Ja, viele sind es, die, ähnlich wie ich, nicht genau Bescheid wussten. Die eben sagen: Man nimmt uns das Letzte, was wir in der DDR hatten. Aber das ist wirklich das Letzte, das brauchen wir wirklich nicht, muss ich dazu sagen. Da gibt es andere Sachen aus der DDR-Zeit, an die ich mich eher noch erinnere. Wie zum Beispiel, dass wir für Segeln junge Schüler ausgebildet haben, dass die Schüler alle Sport getrieben haben – ja so was, da würde ich auch hinterher trauern. Dass sich damit beschäftigt wurde und Geld ausgegeben wurde, dass die Kinder und Jugendlichen sich am Nachmittag beschäftigen – und ja nicht wenig – das ist schon `ne schlimme Sache, dass das heute nicht mehr in dem Maße gemacht wird. Solchen Sachen, denen traure ich hinterher.""

Die Dinge, denen man hinterhertrauern könnte, kommen öfter zur Sprache, wenn sich Bewohner des Plattenbau-Wohngebiets Großer Dreesch zum "Erzählcafé" treffen. "Die Platte lebt" ist das Motto, und zur Platte, die lebt, gehört für die Bewohner eben auch das Lenin-Denkmal vor ihrer Haustür.

"Mich stört das Denkmal nicht. Es gehört irgendwie auch zur DDR-Geschichte mit dazu. Und deshalb sollte es auch stehen bleiben. Jeder macht Fehler, und so hat er auch Fehler gemacht. Aber er hat auch viel Gutes gemacht."
"Ich sage mal: Er war immer ein großes Vorbild. So wurde es ja immer dargestellt, Lenin. Und jetzt ist das alles nicht mehr wahr oder umstritten?"
Leute wie der FDP-Abgeordnete Lehrer Priesemann, der praktisch hier groß geworden ist – ich weiß nicht, aus welchen Motiven der einen Feldzug gegen das Denkmal zieht! Das gehört zu Schwerin wie das Kaiser-Friedrich-Denkmal, wie das Ernst-Franz-Denkmal im Schloss, das gehört zur Geschichte. Und so ein Mann, auch wenn er mit Gewalt – aber wo gibt es Revolutionen ohne Gewalt? Das geht gar nicht. Und wer das historisch richtig bewertet, der bringt nicht so einen Unsinn wie der Herr Priesemann und ein paar alte Ideologen, die eher diesem nationalsozialistischen Touch anhängen – damit bewegen sie doch gar nichts!"

Die Genossen von einst fahren starkes Geschütz auf. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, haben sie von Lenin gelernt. Ziehen gar die Nationalsozialismus-Schublade auf und wollen Antragsteller Priesemann hineinstecken. Da muss Gerd Böttger, der Chef der Schweriner Fraktion Linke/PDS in der Stadtvertretung, oft beschwichtigen.

"”Es gibt kaum einen Tag, wo mich nicht irgendjemand auf das Thema Lenin anspricht. Die meisten sind Lenin-Befürworter, die mich ansprechen. Und ich versuche dann von mir aus auch schon mal, den Genossinnen und Genossen – oder den Bürgerinnen und Bürgern – einfach mal zu erklären, dass Lenin auch eine ganze Menge Defizite hatte und dass Lenin auch an Verbrechen geistig oder auch wirklich beteiligt war durch Befehle.""

Die Genossen von einst und jetzt hören es nicht gern, was Gerd Böttger ihnen zum Thema Lenin zu sagen hat, aber sie hören zu. Auch wenn sie oft von den Einsichten des einstigen hauptamtlichen Parteiarbeiters selbst noch weit entfernt sind.

"”Man redet sich manchmal die Vergangenheit ein bisschen schön, weil man selbst vor der Geschichte bestehen will. Wir haben ja nichts Unrechtes getan usw. – das mag zwar im Einzelnen richtig sein, aber auch ich, ich bin jetzt 58, habe natürlich mitgewirkt an der Umsetzung dieser Marxschen und Leninschen Ideen, die sich im Parteiprogramm der SED niedergeschlagen haben. Ich hätte vieles viel kritischer hinterfragen müssen. Und daraus ziehe ich zumindest meine Schlussfolgerungen und versuche das auch in der Politik, die ich seit 17 Jahren nach der Wende mache, mit einzubringen.""

Kompromissbereitschaft, die Meinung Andersdenkender tolerieren – das gehört zu den "Schlussfolgerungen" die der ehemalige SED-Funktionär für sich zog. Und so neigt er auch im Streit um das Lenindenkmal zum Kompromiss: Während seine Fraktion am Anfang für ein kommentarloses Stehenlassen des Erz-Kommunisten plädierte, soll Lenin jetzt mit einer Tafel versehen werden. Mit dieser Lösung kann auch Christoph Priesemann leben.

"”Wir haben zu Hause auch darüber diskutiert in der Familie. Und meine Frau war eigentlich auch eher dafür, dass man das Lenindenkmal nicht abreißen sollte, sondern dass man da eine Tafel anbringt, die darauf hinweist, dass Lenin eben nicht nur der gute Übervater war, sondern dass er im Grunde genommen ein Diktator war.""

Eine Anregung, über Lenin, den Sozialismus und die DDR zu diskutieren und auch die "bösen Dinge" nicht auszuklammern, war Christoph Priesemanns Antrag allemal.

Böttger: "”Diese Gespräche, die wir in letzter Zeit zu Lenin hatten über die Stiftungen der Parteien, die hätten nie stattgefunden, wenn Herr Priesemann diesen Antrag nicht gestellt hätte. Weil: Es hätte keinen Anlass gegeben. Wir haben andere Probleme. Aber sie waren für mich sehr lehrreich, weil da ganz andere Sichten von Wissenschaftlern auf Lenin und die Zeit geworfen wurden, als ich sie bisher je kannte. Und ich bin auch schlauer aus diesen Gesprächen raus gegangen, und ich wünschte mir viele solcher Gespräche. Weil, es geht da nicht mehr um Lenin, sondern es geht um Schlussfolgerungen aus Zeiten der Diktatur und Mahnungen für die heutige Zeit.""

Am Ende ist Gerd Böttger dem alten, hartnäckigen Lehrer Priesemann sogar noch ein wenig dankbar. Half doch die Lenin-Diskussion seiner Partei, ein wenig vom Betonkopf-Image abzurücken - auch wenn viele der ehemaligen Genossen nach wie vor der Ansicht sind, ein DDR-Lehrer dürfe sich "so etwas" nicht erlauben. Und auch die einst bürgerbewegte Silke Gajek kann der ganzen aufgeregten, nun schon fast ein Jahr währenden Diskussion viel Gutes abgewinnen.

"”… Die war notwendig! Das wurde Zeit! Das sind einfach Sachen, die, wenn man sie nicht irgendwann zu Ende diskutiert – das ist ein Schwelbrand, der irgendwann ausbricht. Und ich glaube, das ist wirklich bei Lenin passiert. Das ist nun mal unsere Geschichte. Das ist nicht westdeutsche, sondern ostdeutsche Geschichte. Und die wird uns noch öfter einholen.""

Von Lenin lernen, heißt siegen lernen. Sätze wie diese gehören zur ostdeutschen Geschichte. Sie lagern oft tief auf dem Urgrund der angelernten Schulweisheiten. Einen Grund, sie anzuzweifeln, darf durchaus auch ein Lehrer haben – das lehrt die Geschichte vom Schweriner Lenindenkmal.

"”Aus der Geschichte lernen, heißt vielleicht siegen lernen in etwas abgewandelter Form. Nur wer die Geschichte richtig bewertet, der wird die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen. Dass Fehler, die gemacht wurden, nicht immer wieder gemacht werden.""