Nostalgie? Denkste, Opi!
30 Seiten BHs, 16 Seiten Herren-Slips: Der letzte Otto-Katalog ordnet die betäubende Fülle käuflicher Dinge. Und war früher der dufte Freund und Helfer des 0815-Konsumenten. Aber für "digital natives" ist er wie ein Seeigel aus dem Paläozoikum.
Allein die Zustellung! Wer jahrelang die Lektüre geschwänzt hat, hätte das doch nie für möglich gehalten: dass der Otto-Katalog, dieses Monument der deutschen Konsumgeschichte, das nach dem Aus der Neckermann- und Quelle-Kataloge einsam emporragt, tatsächlich durch den schmalen Briefkasten-Schlitz flutschen würde – und trotzdem, bei einem Leichtgewicht von 852 Gramm, 619 blattgolddünne Seiten dick ist.
Tatsächlich schmeichelt das Werk den Händen wie ein dtv-Dünndruck-Dostojewski. Mit angefeuchteter Fingerspitze lassen sich sogar modernste Wisch-Techniken à la Touch-Screen einsetzen. Klasse Haptik, toller Titel: "Ich bin dann mal App!" - Was natürlich intertextuell auf Hape Kerkelings "Ich bin dann mal weg" anspielt. Keine Spur davon, dass Otto auf die medienhistorische Tränendrüse drücken würde. Nostalgie? Denkste, Opi!
Otto zielt nicht auf Hartz-IV-Haushalte
Schon das Gesicht des Cover-Models erstrahlt aus dem Display eines schnieken Smartphones. Und es ist kein Model der alten Sorte Superstar, wie früher die Otto-Girls Crawford, Schiffer oder Klum. Nein, uns blickt aus blauen Augen Erika aus Kopenhagen an, hübsch, verschmitzt, nahbar.
Zu Anfang gleich ein erzähltechnischer Leckerbissen, ein Bonsai-Dialog zwischen analogem und digitalem Katalog: "Tschüss Dicker – Hallo App!" Könnten sich Medien an einer Epochenschwelle überhaupt zärtlicher ablösen? Schnell wird klar: Otto zielt nicht unbedingt auf Hartz-IV-Haushalte. Die ersten zwölf Sonderseiten – dickeres Papier, luftigeres Layout – preisen gezielt Hochpreisiges an, etwa das Tablet für 650 Euro aus Samsungs Edelsortiment, eingerahmt von jungen Gesichtern, die strahlen wie nach der dritten Woche im Club-Med.
Über 30 Seiten BHs
Die Sonderseiten-Slogans sind erkennbar vom Wiederholungsduktus fernöstlicher Mantras beeinflusst: "Technik, so brillant wie unsere App!", "Fashion, so anziehend wie unsere App!", "Beauty, so attraktiv wie unsere App!", "Living, so bequem wie unsere App!" Offenbar rechnen die Autoren auch mit unausgeschlafenen Lesern und erlauben sich in puncto Hauptbotschaft – Otto will dein Handy, und zwar jetzt! – eine gewisse Redundanz.
Später kommt der Katalog quasi zu sich selbst, findet seinen gewohnten Rhythmus, ordnet die betäubende Fülle käuflicher Dinge: 16 Seiten Herren-Slips, über 30 Seiten BHs, nicht gerechnet Bustiers, Bodys und Bikinis; dazu Myriaden Sportklamotten, Schuhe, Anzüge, Herde, Schränke, Teppiche und, und, und.
Wie ein Seeigel aus dem Paläozoikum
Früher, als der Katalog noch in Zehn-Millionen-Auflagen gedruckt wurde, musste man niemandem erklären, was in dem transportablen Schaufenster der Marktwirtschaft zu sehen ist. Aber heute, das ist das Problem, gehen die ersten "digital natives" auch schon auf die 40 zu. Und die nehmen den Katalog höchstens noch zur Hand, wie einen Seeigel aus dem Paläozoikum.
Doch zurück zum roten Faden der Dinge. Es gibt die üblichen Marken, bekannt auch außerhalb des Otto-versums. Und es gibt die verlockend klangvollen Otto-Marken – Vivance, Lascana, Beachtime –, die zwar auch der junge Internet-Hüpfer Zalando führt, aber irgendwie ohne Otto-Odeur.
Ruhe im Frieden der Archive
Otto wirbt jetzt für Kleiderspenden; kein Foto der Unterwäsche-Models ist sexistisch; Jeans-Werbung wie "in denim we trust" werden nur sehr radikale Evangelikale blasphemisch finden. Es ist einfach alles ganz korrekt. Lebende Ponys, Neun-Millimeter-Revolver, die dunkelhäutige Stoffpuppe namens "Schlenkerneger Bimbo" – das war einmal, das gibt's nicht mehr.
Tolle Leistung also: Otto bringt seinen Katalog, das Epos unserer alltäglichen Begehrlichkeiten, pumperlgesund und ohne Peinlichkeit über die Ziellinie. Hätte die Welt nicht irgendwann begonnen, sich wie auf Speed weiterzudrehen, der Katalog wäre immer noch der dufte Freund und Helfer des klassischen 08/15-Konsumenten. Wir sagen: Ruhe im Frieden der Archive! Dort wird man dich einst suchen, wenn man verstehen will, wie diese grelle Idee eigentlich funktioniert hat: Offline auf der Couch sitzen und trotzdem wie wild einkaufen.