Der liberale Denker

Von Eva Pfister · 06.06.2009
Sir Isaiah Berlin, der am 6. Juni 1909 in Riga zur Welt kam, war einer der großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Er war geprägt von der russischen Revolution, die er als Kind in Sankt Petersburg erlebte, vom Holocaust an seinem Volk und vom Kalten Krieg. Vor diesem Hintergrund erklärt sich sein Engagement für die Freiheit und sein Kampf gegen totalitäre Systeme und geschlossene Theorien.
Isaiah Berlin hat keine eigene Theorie entwickelt, keine Schule begründet - und war dennoch einer der wichtigsten Intellektuellen im angelsächsischen Raum. Seine Bedeutung liegt gerade darin, dass er Fächergrenzen überschritt, weil er in Philosophie, Politik und Geschichte ebenso zu Hause war wie in der Literatur. Berlin erforschte die Geschichte des europäischen Denkens, sein ureigenes Thema war dabei die Freiheit, und das hängt mit seiner Biografie zusammen.

Isaiah Berlin wurde am 6. Juni 1909 als einziges Kind einer jüdischen Familie in Riga geboren. Im Ersten Weltkrieg wurde dort die Situation für die Juden prekär, denn man beschuldigte sie der Kollaboration mit den Deutschen. Die Berlins zogen deswegen 1916 nach Sankt Petersburg, wo sie die russische Revolution zunächst unbeschadet überlebten, dann aber zunehmend schikaniert wurden.

1921 emigrierte die Familie nach England, das für Isaiah Berlin Heimat wurde und Inbegriff einer menschenfreundlichen Zivilgesellschaft. "Englisch sein" hieß für ihn:

"Dass Achtung vor anderen und das Ertragen von Dissens besser sind als Stolz und das Gefühl, eine nationale Sendung zu haben; dass Freiheit vielleicht unvereinbar ist mit zu großer Effizienz und besser als diese; dass Pluralismus und Ungeordnetheit besser sind als die rigorose Auferlegung allumfassender Systeme."

In Oxford studierte Berlin Philosophie, und dort blieb er auch als Dozent, Forscher, Professor und Institutsleiter. Sein erstes größeres Projekt war ein Buch über Karl Marx.

"Marx hatte ich bis dahin nie gelesen. Aber da mir schien, dass die Bedeutung des Marx'schen Denkens in der Zukunft immer mehr zunehmen würde, sah ich in der Aufforderung, ein Buch über ihn zu schreiben, einen nützlichen Anlass, mich mit seinen Ideen näher zu beschäftigen. Also habe ich das Buch geschrieben."

Obwohl Berlin bei sich dachte, dass er ein Buch schreibe, dass er selbst nie lesen würde. Seine Studie über Karl Marx erschien 1939 und machte Isaiah Berlin zum Ideengeschichtler, denn er erkannte bei seinen Recherchen, wie sehr Theorien von historischen Umständen geprägt und von früheren Ideen beeinflusst werden.

Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete Berlin in den USA für das Britische Außenministerium und schickte Presseschauen über die britisch-amerikanischen Beziehungen nach London. Er erwies sich als geschickter Netzwerker und nutzte diese Fähigkeit, um die Position von Chaim Weizmann zu stärken, der gegen die offizielle britische Politik für einen Judenstaat in Palästina kämpfte. Als Weizmann 1948 erster Präsident Israels wurde, bot er Berlin das Außenministerium an.

Aber Isaiah Berlin kehrte nach Oxford zurück, wo er 1958 einen Lehrstuhl für Gesellschaftstheorie und Politikwissenschaft erhielt. Mit seinen Vorlesungen und Essays zur Ideengeschichte von Freiheit und Vernunft wurde er zu einem wichtigen Denker des Liberalismus.

Den Rationalismus der Aufklärung stellte Berlin ebenso in Frage wie alle universalistischen Theorien. Die erstrebenswerten Ziele der Menschheit seien eben nicht miteinander vereinbar: die totale Freiheit etwa nicht mit der totalen Gleichheit.

"Und aus diesem Grunde vertrete ich den Standpunkt, dass ein gewisses Maß an Toleranz nötig ist, um die Aufrechterhaltung des menschlichen Zusammenlebens überhaupt erst zu ermöglichen."

Berlin lehnte das sowjetische Regime strikt ab, liebte aber die russische Sprache und Kultur. Bei Aufenthalten in Moskau und Leningrad pflegte er Kontakte zu Schriftstellern wie Anna Achmatowa und Boris Pasternak. Sie waren für ihn lebende Beweise gegen die deterministische Theorie, nach der das Sein das Bewusstsein bestimmt. Auch in seinen Einzelstudien zu Denkern wie Alexander Herzen, Montesquieu oder Herder interessierte ihn der Widerstand gegen geschlossene Systeme, denn:

"Zeitlose Regeln, strikt befolgt, werden immer zu einem Blutbad führen."

Hoch geehrt mit vielen Auszeichnungen starb Sir Isaiah Berlin im Alter von 88 Jahren am 5. November 1997 in Oxford.