Warten auf eine Wutrede
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Wutreden können große Sportsmänner sympathisch machen. Mitunter runden sie das öffentliche Bild ab und sichern einen Platz im kulturellen Gedächtnis. Nur Bundestrainer Joachim Löw scheint das nicht zu gelingen. Warum?
Giovanni Trapattoni kann unbesorgt sein: Solange im hiesigen Fußball der Ball rollt, bleibt seine Wutrede natürlich die Wutrede Nr. 1. Schon allein, weil trotz aller Sprach-Erkennungsprogramme wichtige Passagen bis heute unentschlüsselt sind. Aber generell man muss kein Trapattoni sein, um 'ne schicke Wutrede hinzubekommen.
Die Weizenbier- und So-ein-Scheiß-Rede von Teamchef Rudi Völler nach dem Remis auf Island 2003 hat ebenfalls bleibenden Charme. Genauso die Ansprache vom Beckenbauer Franz einst nach dem 0:3 der Bayern in Lyon: "Uwe-Seeler-Traditionsmannschaft, Altherren-Fußball." Oder Peer Mertesackers "Wat wolln Se? Ich versteh die ganze Fragerei nicht" nach dem Algerien-Spiel bei der WM 2014.
Am tieferen Sinn solcher Wutreden gibt’s nichts zu deuteln. Sie runden das öffentliche Bild großer Sportsmänner sympathisch ab und sichern ihnen einen Platz im kulturellen Gedächtnis. Und deshalb muss man sagen: Joachim Löws Karriere ist trotz der 81 Tore als Zweitliga-Kicker und des WM-Titels als Trainer noch unvollendet. Dabei hätte Löw dieser Tage Gründe ohne Ende, sein Wutrede-Manko mit einem Schlag, also: Anfall, auszugleichen.
Löw, ein moderner Hiob
Seit dem gloriosen Gewinn des Confed-Cups 2017 mit dieser B-Elf ergeht es Löw ja wie einem modernen Hiob: Er ist schwuppdiwupp komplett aus der Gnade gefallen. Es fing damit an, dass seine geliebten '14er-Weltmeister um Hummels, Kroos und Özil beim Fit-Machen für die Titelverteidigung einen neuartigen, rheumatisch-behutsamen Spielstil erfanden.
Zur WM-Vorrunde in Russland gefiel es dann der unbarmherzigen Vorsehung, Löw selbst mit früh-geriatrischer Sehschwäche zu schlagen. Auch wer sich lebenslang nur für rhythmische Sportgymnastik interessiert hatte, erkannte die Löcher im deutschen Mittelfeld – nicht so der Bundestrainer. Und spätestens beim Abstieg innerhalb der Nations League bewahrheitete sich für Löw jenes eherne Gesetz, dessen Ur-Text auf Andreas Brehme zurückgeht: "Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiße am Fuß"...
Um davon zu schweigen, dass Theresa Mays Management des Brexits derzeit mehr Beifall findet als Löws Timing bei der Umgestaltung des Kaders. Wenn da jetzt nicht bald mal die befreiende Wutrede erfolgt, tja, dann wird Löws bewundertes schwarzes Haar noch als bestgeföhnter Pechvogel-Schopf in die Geschichte eingehen.
Oft soft wie diese Hautcreme
Aber das ist halt das Problem: Löw, der aus dem Luftkurort Schönau stammt, steht fürs Pflegliche. Vielleicht hat er am meisten von sich preisgegeben, als er sagte: "Nivea, damit kann ich mich identifizieren, das kenne ich von klein auf." Und in der Tat: In Zeiten des Erfolgs pflegte Niveas Werbe-Ikone Löw Umgangsformen so soft und angenehm wie Hautcreme. Offenbar war die Creme in seinen Charakter eingezogen.
Siehe die Pressekonferenz, als er nach Fan-Ausschreitungen säuselte: "Ich bin voller Wut und bin wirklich auch sehr angefressen" – und es war, als sei der Bergprediger auferstanden. Selig sind die Sanftmütigen. Zum Vergleich: Kein Creme-Produzent hat je daran gedacht, Matthias Sammer alias Motzki unter Vertrag zu nehmen. Löw kann nur den Nivea-Stil. Der aber ist in der jüngste Misserfolgs-Epoche überhaupt nicht zu gebrauchen.
Besteht also gar keine Hoffnung für ihn, sich mal so richtig zu erleichtern – und damit irgendwie auch uns? Vielleicht doch! Und zwar per sprachlichem Übersteiger. Löw war doch mal Trainer bei Fenerbahce Istanbul. Ein paar Brocken Türkisch sollte er noch drauf haben.
Wenn er die zusammenraffen würde, in der fremden Sprache befreit vom inneren Nivea und dem Zwang zur geföhnten Kommunikation... Dann, ja, dann könnte sich womöglich auch Löw mit einer Wutrede von Trapatonnischer Wucht hervortun. Und so viel wie von der Mutter aller Wutreden würden wir davon schon auch noch verstehen.