Der Luxus der aufrechten Haltung

Von Martin Ahrends · 14.09.2012
Gerade sitzen, die Hände auf dem Tisch, keinen Buckel machen: So sind viele von uns erzogen worden, wenn es um Tischmanieren ging. Schwieriger ist es schon mit der inneren Haltung. Rückgrat zu beweisen, ist in Diktaturen nicht leicht.
Es ist eine Familienszene aus den 1930er-Jahren: Die sechsköpfige Familie eines jungen, vielversprechenden Schuldirektors fällt in bittere Armut, nachdem die Nazis ihn entlassen und ihm auch noch den kleinen Verdienst durch Nachhilfestunden aus der Hand geschlagen haben. Zwei der Kinder belauschen einen Streit der Eltern, worin die Mutter den Vater bittet, seine politische Verweigerung zu überdenken, er könne doch zum Schein der Partei beitreten, die Unwahrheit sei immer das Mittel der kleinen Leute gegen die Mächtigen gewesen. Darauf der Vater: "Wir sind keine kleinen Leute. Nicht in solchen Fragen."

Diese Szene schildert der Historiker Joachim Fest in seinem Buch "Ich nicht". Sie zeigt die aufrechte Haltung seines eigenen Vaters, eine politische Haltung in der Tradition von 1789, als die Bürger sich selbst die Zuständigkeit fürs Allgemeine erteilten und sie dem Adel aus den Händen schlugen.

Auch die offizielle DDR berief sich gern auf diese "bürgerlich-revolutionäre Tradition". Die Machtfrage allerdings war gegen alles Bürgerliche entschieden. In der Politik, der Wirtschaft, der Rechtsprechung, der Bildung, der medialen Öffentlichkeit galten keine bürgerlichen Werte. Das hieß dann zwar noch Partei, Parlament, Universität, Verlag oder Zeitung, war aber zu etwas anderem geworden, zum politischen Instrument einer kleinbürgerlichen Diktatur.

In meiner Schule galt das Wort "bürgerlich" als Schimpfwort. Es stand für ein luxuriöses Leben auf Kosten der ausgebeuteten Klassen. Der Vater eines Schulfreundes war ein DDR-Kulturschaffender mit allen denkbaren Privilegien: Einem West-Reisepass, einem Westauto mit Chauffeur und all den guten Dingen, die wir nur aus dem Intershop kannten. Wir hörten ihn oft über die Bonzen spotten und zu vorgerückter Stunde Biermann-Lieder krakeelen, aber als es galt, im Zentralorgan gegen den Verräter Biermann zu wettern, war er mit seinem abfälligen Kommentar sogleich zur Stelle. Um einen Status von Luxus-Bürgerlichkeit nicht aufgeben zu müssen, hatte er etwas anderes aufgegeben, eine "innere Bürgerlichkeit". Natürlich war er in der Partei der Arbeiterklasse und hielt zur Fahne, solang ihm das nützte. Kurz vor der Wende hat er die Verliererpartei verlassen und war wieder der Professor mit dem bürgerlichen Habitus. Als wäre da kein Selbstverrat geschehen.

Als Studenten lasen wir Rudolf Bahros "Alternative", ungeschminkte Wahrheit, vor der man uns bewahren wollte. Bahro war ein Aufklärer in bester bürgerlicher Tradition, wenn er das sozialistische "System organisierter Verantwortungslosigkeit", kritisierte. Verantwortlich für unsere Misere waren ja tatsächlich nicht die feudalen Greise im Politbüro, sondern wir, das Volk, solang wir unser Schicksal nicht selbst in die Hand nahmen. Wir fühlten uns von Bahro ernst genommen als Bürger, die in ihrem Land politische Verantwortung tragen.

Leider gelangte das rare Buch auch an einen Kommilitonen, der es direkt an seine Obrigkeit weiterreichte. Wenig später gab es Stasiverhöre. Da bekam man dann Einblick in eine inquisitorische Szenerie hinter den Kulissen des Realsozialismus: Spurlos verschwinden lassen könne man uns, so dass kein Hahn mehr nach uns krähe. Und wir sollten uns nicht einbilden, uns auf irgendwelche bürgerlichen Rechtsnormen berufen zu können, denn in der DDR herrsche das Recht der Arbeiterklasse, und die entscheide, wer ihr Freund oder Feind sei. Eine proletarisch-aristokratische Rechtsauffassung.

Mit den Bürgern in der DDR ist es ähnlich wie mit denen in der Nazizeit: Weil ihr Widerstand vor allem Verweigerung war, sind die meisten bis heute unsichtbar und werden es wohl bleiben. Hätte Joachim Fest nicht von seinem Vater erzählt, würde ihn heute niemand kennen. Auch in der DDR gab es etliche, die, anstatt mit der allmächtigen Partei ins Bett zu gehen, sich den "bürgerlichen Luxus" einer aufrechten Haltung leisteten. Das haben sie damals mit erheblichen Einschränkungen ihrer beruflichen Entwicklung bezahlt und bezahlen es heute mit Altersarmut. Aber der Preis war und ist nicht zu hoch.

Martin Ahrends, Autor und Publizist, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er-Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung Die Zeit und seit 1996 freier Autor und Publizist.
Der Autor und Publizist Martin Ahrends
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