Der Kapitalismus erzeugt eine Welt, in der es nur um Ausbeutung geht.
"Der Mann, der seine Haut verkaufte" im Kino
Neuer Blick auf Kunst: Der Körper des Flüchtlings Sam Ali wird selbst zum Kunstwerk. © eksystent Filmverleih
Ein Flüchtling trifft auf die hedonistische Kunstwelt
10:47 Minuten
Tunesien bekam für den Spielfilm „Der Mann, der seine Haut verkaufte“ 2021 die erste Oscarnominierung in der Geschichte des Landes. Regisseurin Kaouther Ben Hania erzähtl, wie sie die Welt der Kunst und die Welt syrischer Flüchtlinge zusammen bringt.
Patrick Wellinski: Der Film basiert auf einem realen, grenzüberschreitenden Kunstprojekt „Tim Steiner, The Tattooed Man“ des Belgiers Wim Delvoye, in dem ein Mann ausgestellt wurde, der seinen Körper einem Tattoo-Künstler überlassen hat. Wie haben sie von diesem Projekt erfahren?
Kaouther Ben Hania: Ich glaube, es war 2012, da wurde Tim Steiner im Louvre ausgestellt. Er saß einfach da, mit seinem freien Oberkörper. Das fand im Rahmen einer Retrospektive des belgischen Künstlers Wim Delvoye statt. Und diese Erfahrung war ein Schock für mich. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, an diesen Tim Steiner zu denken. Es wurde zu einer Obsession. Und das war der Beginn des Projekts für mich.
"Es war eher ein intellektueller Schock"
Wellinski: Können Sie vielleicht noch mal den Schock beschreiben, den das Projekt bei Ihnen aus gelöst hat?
Ben Hania: Es war eher ein intellektueller Schock. Es ist eine Kategorie von Kunstwerk, das dich sofort fesselt und beschäftigt. Es kann keinen kalt lassen. Man muss sich dazu verhalten. Es ist gewagt, provozierend und überschreitet Grenzen. Man stellt sich sofort viele Fragen: Wer ist das? Wieso ist das Kunst? Wie funktioniert das Ganze rechtlich; aber auch die Infrastruktur um ihn herum? Das hat mich alles elektrisiert. Das meine ich mit „Schock“. Ich habe mich nicht empört, ich fand das Ganze auch nie widerlich. Ich habe keine kritische Distanz aufgebaut. Ich war völlig fasziniert davon, wie viele Fragen dieses Kunstwerk in mir ausgelöst hat.
Wellinski: Wie haben Sie aus der Erfahrung dann begonnen, einen Spielfilm zu gestalten?
Ben Hania: Das war gar nicht so geplant. Ich habe irgendwann dieses Kunstwerk auch vergessen und war mit anderen Projekten beschäftigt. Ich habe andere Menschen getroffen und habe in der Zeit auch viele syrische Flüchtlinge kennengelernt. Und plötzlich wurde mir ihre Lage so schmerzlich bewusst. Ich weiß nicht, wie oder warum. Aber irgendwann begannen diese beiden Erfahrungen in mir zu arbeiten.
Der Mensch, der zum Kunstwerk wird und der Flüchtling, der nach Europa möchte. Und dann – ohne, dass ich es wirklich forciert hatte – entstand dieser Film, der am Ende auch nur viele Fragen stellt: Wie gehen wir mit Flüchtlingen um? Welche Rolle spielt der Kapitalismus in unserer aber auch in der Kunstwelt?
Das Absurd-Bizarre der Kunstwelt zeigen
Wellinski: Die Welt der Kunstszene folgt ganz anderen Codes als das Leben und die Welt eines syrischen Flüchtlings?
Ben Hania: Ich liebe Kontraste. Im Kino, in der Kunst, in Geschichten. Sie haben ja schon erwähnt, dass die Welt der Flüchtlinge bestimmte Bilder bei uns erzeugt. Filme über Flüchtlinge bestehen meist aus digitalen, wackeligen Kameraaufnahmen. Der Flüchtling ist in diesen Geschichten meist eine Opferfigur. Es geht häufig in erster Linie um dokumentarische Authentizität. Und ich hatte genug von diesen ewig gleichen Klischeebildern.
Ich wollte mich durch meinen Film von diesen Bildern distanzieren und durch diese etwas andere Flüchtlingsgeschichte auch ganz andere Welten erkunden. Mir ging es auch darum, das Absurd-Bizarre der Kunstwelt zu zeigen und mit schwarzem Humor zu arbeiten. Das wollte ich dadurch erzeugen, in dem ich den Flüchtling Sam, der keine andere Wahl hat, mit der elitären und hedonistischen Kunstwelt konfrontiere. Diese unterschiedlichen Ausgangslagen wollte ich zu einer Geschichte zusammenbringen.
Wellinski: Das prägende Bild des Films, das ist ja dieses große Schengen-Visum, das Sam, unserer Hauptfigur, auf den Rücken tätowiert wird. Mit dem Künstler findet auch ein Dialog statt, in dem Sam fragt, ob das hier ein faustischer Pakt sei. Ist es einer?
Ben Hania: In einer gewissen Art und Weise ja, klar. Der Film schildert einen faustischen Pakt. Und ich finde es sehr ehrlich von dem Künstler in meinem Film zu gestehen, dass er sich manchmal als Mephistopheles empfindet. Denn wir Künstler sind doch alle lieber Mephisto. Wir sind fasziniert vom Bösen, von dieser alles ändernden Kraft. Das hat ja immer auch etwas Schöpferisches.
Kunst macht die Ausbeutung sichtbar
Mir ging es aber auch um einen ungleichen Vertrag. Hier wird er geschlossen zwischen einer unglaublich privilegierten Person und einem Mann, der nichts zu verlieren hat. Daraus ergeben sich ganz spannende moralische Fragen. Das hat mich interessiert, weil Sam hier nicht seine Seele verkauft, sondern seinen Rücken. So bekommt die Ausbeutungssituation eine sehr konkrete, bildliche Dimension. Aber Sie haben recht: Auf eine gewisse Art und Weise ist der Film auch eine Neuinterpretation des Faust.
Wellinski: Was Sam als Hauptfigur so spannend macht ist ja, dass sein Antrieb nach Europa zu kommen, nicht zu allererst die Flucht aus dem Bürgerkriegsland Syrien ist, sondern die Liebe zu einer Frau …
Ben Hania: Ja, aber ich denke, dass die Motivationen eines Menschen immer emotional sind. Selbst, wenn wir denken, wir würden rational handeln, gibt es immer eine emotionale Komponente. Wir betrügen uns da selber. Und gerade Sam ist da besonders. Er beginnt in einem vollen Zug zu singen und zu tanzen. Er lässt sich von seinen Emotionen bestimmen. Das führt aber auch dazu, dass er sich in gefährliche Situationen begibt. Und wenn er dann in der kalten, rationalen Welt der Kunstwelt auftaucht, wird er in dieser Umgebung auch etwas über sich lernen müssen. Etwas, das ihn verändern wird.
Die Kunstwelt ist kalt, snobistisch – und kreativ
Wellinski: Dennoch zieht sich durch Ihren Film ein ziemlich düsterer Blick auf Europa als Kontinent, der sich recht arrogant gegenüber den Flüchtlingen verhält, sie benutzt und nicht als Menschen wahrnimmt.
Ben Hania: Ich verstehe, dass Sie Europa sagen. Aber es ist vielleicht eher die gesamte westliche Welt, die ich hier zeige. Die Kunstwelt ist ja ein Ergebnis dieser Welt, mit all ihren kapitalistischen Regeln, Exzessen und moralischen Grenzüberschreitungen. Daher würde ich gerne betonen, dass es mir nicht so sehr um eine Kritik an Europa geht. Ich wollte einen Film machen, der sich mit dem ausbeuterischen Kapitalismus auseinandersetzt.
Wer lässt sich dominieren und wer dominiert? Das sind Fragen, die sich in unserer Welt zeigen, die unseren Umgang miteinander bestimmen. Europa ist da nur ein Ort von vielen. Deshalb kann man meinen Film auch nicht als einseitige Kritik an der „Festung Europa“ lesen. In Europa ist nicht alles toll. Das zu behaupten wäre naiv. Außerdem würde ich mich als tunesische Regisseurin nie trauen, so eine Kritik zu äußern. Mir ging es eher um das Betrachten der elitären Kunstwelt. Ich wollte eine Welt zeigen, die kalt und snobistisch ist, aber eben auch ein Ort der Kreativität. Das hat mich gereizt.
Wellinski: Ich mochte dahingehend den Look des Films. Er ist sehr futuristisch, düster, Sie arbeiten mit interessanten Lichtquellen. Wie haben Sie das erarbeitet?
Ben Hania: Ich habe mit dem Berliner Kameramann Christopher Aoun zusammengearbeitet. Und ich wollte, dass er sich an der Lichtsetzung der Renaissance-Malerei orientiert. Das passt ja auch zum Thema meines Films, denn Sams Körper bekommt durch das Tattoo etwas Verwundetes. Er wirkt ätherisch, aber auch gequält – wie die Darstellungen von Jesus am Kreuz. Und das passt, weil der Körper, der in der europäischen Malerei am häufigsten gemalt wurde, ist der von Jesus Christus. Diesen Effekt wollte ich erzielen und ich denke, mit meinem Kameramann Christoph ist es mir gelungen.
Die Oscarnominierung als Eintrittskarte
Wellinski: Sie waren letztes Jahr für den Oscar nominiert für „Der Mann der seine Haut verkaufte". Würden Sie sagen, dass das für Sie – wie für Sam – eine Art Eintrittskarte war in eine elitäre Welt, die Sie sonst nicht betreten würden? Welchen Einfluss hatte das auf Ihre Arbeit?
Ben Hania: Es ist schon wichtig, wenn man für einen Oscar nominiert wird. Die mächtigsten Menschen der Branche werden so auf einen aufmerksam. Anders hätten mich diese Leute ja nie wahrgenommen. Ich hatte plötzlich viele Angebote auf dem Tisch - für Fernsehserien oder Genre-Filme. Aber das meiste davon wurde schon als Paket vermarktet. Da steht schon das ganze Projekt fest, die wollen nur noch einen Oscar-nominierten Regisseur, um es noch besser zu vermarkten.
Aber so arbeite ich nicht. Ich habe persönliche Projekte, die sich vielleicht schwerer vermarkten lassen, aber die mir mehr am Herzen liegen. Ich hoffe dennoch, dass die Nominierung mir helfen wird, die nächsten Projekte leichter zu finanzieren. Bislang musste ich immer um Geld betteln, weil mich keiner kennt und mir nicht viel zugetraut wurde. Aber vielleicht ist das auch Teil meines Jobs: Die Leute davon zu überzeugen, dass es sich lohnt, in mich und meine Ideen zu investieren.