Der Meilenstein

Von Basil Kerski |
Vor 20 Jahren schlossen die Bundesrepublik und Polen ihren Nachbarschaftsvertrag. Die Partnerschaft mit Deutschland ist in Polen Konsens. Auf deutscher Seite könnte sich die EU-Müdigkeit fatal auswirken, meint Basil Kerski, Chefredakteur des deutsch-polnischen Magazins "Dialog".
Die Europäer klagen gerne über Europa. Ganz anders der polnische Philosoph Zygmunt Bauman, der in England lebt. Er wirbt für das europäische Abenteuer, weil Europa im 21. Jahrhundert die Chance habe, zu einer Inspirationsquelle für die Welt zu werden. Auf unserm Kontinent könne eine Lebenskunst entstehen, die das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen, Sprachen und mannigfaltigen Traditionen ermögliche - so der 85-jährige Denker.

Wenn wir die europäische Integration als ein universelles Labor der politischen Kultur verstehen, dann ist darin die deutsch-polnische Annäherung eine zentrale Erfahrung und der Nachbarschaftsvertrag ein Meilenstein. Vor 20 Jahren war die Lage in Mitteleuropa noch nicht stabil. Sowjetische Truppen standen in Deutschland und Polen. Das rote Imperium existierte noch und einige Wochen später wurden wir Zeugen eines Putsches in Moskau.

Der Vertrag war ambitioniert: Das gerade vereinigte Deutschland verpflichtete sich in ihm, Polen auf dem Weg in die NATO und EU zu unterstützen. Und ein EU-Beitritt Polens wurde zu dieser Zeit keineswegs als populäres Projekt angesehen. Man befürchtete vor allem eine Flut billiger polnischer Arbeitskräfte und einen Anstieg der Kriminalität. Es fehlte an Vertrauen.

Heute ist Polen eine stabile Demokratie und ein Land mit wirtschaftlichen Erfolgen. Polens Finanzpolitik gilt dank der Verschuldungsbremse in der Verfassung als vorbildlich. Durch die Erfolge Polens hat sich das Bild der Deutschen etwas differenziert. Sicher, dieser Wandel betrifft nur eine Minderheit. Alte, negative Vorurteile sind in beiden Ländern nur schwer durch positive zu ersetzen. Gleichwohl: Mit antideutschen Stimmungen kann man in Polen keine Wahlen gewinnen.

Zwar behauptete kürzlich Jaroslaw Kaczynski, dass Polen nicht souverän, sondern nur ein "russisch-deutsches Kondominium" sei, doch wagte er es in den jüngsten Wahlkämpfen nicht, mit antideutschen Klischees seine Anhängerschaft zu mobilisieren. Ganz im Gegenteil: Im Kampf um das Präsidentenamt lobte er den rheinischen Kapitalismus und bezeichnete Adenauers soziale Marktwirtschaft als ein Vorbild.

Die Partnerschaft mit Deutschland ist in Polen Konsens, auch wenn die romantische Euphorie der 1990er-Jahre längst verflogen ist, auch wenn sich Deutsche und Polen streiten - ob über den Blick zurück auf die Geschichte oder voraus auf die künftige Energiepolitik. Das deutsch-polnische Klima ist gut, doch der visionäre Geist des Nachbarschaftsvertrages ist verflogen.

Die polnische Politik redet zwar ambitioniert, bleibt aber oft passiv, und sollte aktiver werden, konkrete Projekte anzubieten. So entwickelt sich die polnische Infrastruktur nur langsam in den westlichen Grenzgebieten. Ihr schlechter Zustand behindert ebenso wie das Misstrauen der Warschauer Behörden eine grenzüberschreitende Kooperation im Oderraum.

Auf deutscher Seite könnte sich vor allem die EU-Müdigkeit fatal auf die Polen-Politik auswirken. Die Generation derjenigen Deutschen, die nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges stark für Europa eintraten, hat die politische Bühne verlassen. Für jüngere Deutsche sind offene Grenzen, ein gemeinsamer europäischer Wirtschaftsraum und eine von den europäischen Nachbarn geachtete Bundesrepublik eine Selbstverständlichkeit. Ihr Enthusiasmus für außenpolitische Fragen ist gering.

Den deutsch-polnischen Beziehungen fehlt es heute an ehrgeizigen Zielen. Die politischen Eliten beider Länder kümmern sich um Alltagspolitik und partikulare Interessen. Sie verlieren dabei die Perspektive aus den Augen, welch große Verantwortung sie gemeinsam für Europa tragen. Diese Momentaufnahme nach 20 Jahren mindert jedoch nicht den Erfolg des Nachbarschaftsvertrages. Er ist längst Bestandteil des politischen Erbes Europas und damit ein Vorbild für die Welt - so wie es sich der polnische Philosoph Zygmunt Bauman gedacht hat.


Basil Kerski, geboren 1969 in Danzig, ist Chefredakteur des zweisprachigen deutsch-polnischen Magazins "DIALOG". Er lebt seit 1979 in Berlin, wo er an der Freien Universität Slawistik und Politikwissenschaft studiert hat. Die von ihm geleitete Zeitschrift erhielt 2009 den von der Bundeszentrale für politische Bildung gestifteten "Einheitspreis 2009" in der Kategorie Kultur.
Basil Kerski
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