Der Mensch ist des Menschen schlimmster Feind
Der Bäcker einer Kleinstadt wird von Soldaten abgeholt, an einem bitterkalten Nachmittag steht er auf einem verschneiten Feld und muss eine Grube ausheben. In seinem Debüt-Roman geht Gerard Donovan der Frage nach, wie sich der Einzelne verhält, wenn es um das eigene Überleben geht.
Gerard Donovan, 1959 in Irland geboren, studierte Philosophie, Germanistik und klassische Gitarre mit Schwerpunkt Johann Sebastian Bach. Er veröffentlichte bislang drei Gedichtbände, drei Romane sowie Kurzgeschichten. Der Roman "Julius Winsome" wurde von der renommierten britischen Tageszeitungen The Guardian 2008 zum Buch des Jahres gekürt. Unter dem deutschen Titel "Winter in Maine" sorgte dieses Buch auch hierzulande für Aufsehen und machte Gerard Donovan einer breiten Leserschaft bekannt. Für seinen Debütroman, "Schopen-hauer’s Telescope", unter dem Titel "Ein bitterkalter Nachmittag" jetzt auf Deutsch erschienen, wurde er für den Man Booker Prize nominiert.
Die Soldaten, die vor ein paar Tagen als Besatzer eingerückt sind, haben ihn an diesem Tag abgeholt. Jetzt steht der Bäcker einer namentlich nicht genannten Kleinstadt auf einer unwirtlichen Halbinsel irgendwo im Norden Europas an einem bitterkalten Nachmittag auf einem verschneiten Feld und muss eine Grube ausheben. Nach einer Weile gesellt sich ein anderer Mann zu ihm, der Ge-schichtslehrer des Städtchens. Der Bruder des Bäckers hatte von den eigenartigen Unterrichtsmethoden dieses Pädagogen erzählt. Jetzt erlebt sie der Bäcker am eigenen Leib.
Es ist eine beklemmende Szenerie, die Gerard Donovan entwirft. Während die beiden Männer miteinander ins Gespräch kommen, fahren im Hintergrund Last-wagen vor, von deren Ladeflächen Soldaten weitere Bewohner des Städtchens herunterjagen. Stundenlang stehen sie im Schneesturm und warten darauf, dass der Bäcker die Grube ausgehoben hat. Doch das dauert. Der Lehrer verwickelt den Bäcker in ein Gespräch über Gott und die Welt. Er erzählt von Kriegs-gräueln, dem Luftangriff auf Dresden und dem Massaker an Big Foots Sioux in Wounded Knee, während sich der Bäcker – belesen, aber kontaktscheu – über die Geschichte des Weizens und der Backkunst auslässt und davon erzählt, wie er einst mit Hilfe der taktischen Lehren aus Shinzus "Die Kunst des Krieges" seinen Laden gegen dreiste Übergriffe der Polizistengattin verteidigte.
Beide belauern einander. Sie führen philosophische Dispute über Zivilisation, Religion und die Lehren der Geschichte. Dann erfolgt die jähe Anklage: Der Lehrer wirft dem Bäcker vor, mit den neuen Machthabern zu kollaborieren und ein Denunziant zu sein. In einem Scheinprozess, in dem der Bäcker Angeklagter und Richter ist, während der Lehrer Staatsanwalt und Zeugen darstellt, wird über die Frage von Schuld und Rechtfertigung verhandelt. Dann ist das Loch ausgehoben, die Scheinwerfer der Lastwagen leuchten auf.
Nein, keinen Roman über den Holocaust habe er geschrieben, erklärt Donovan im Nachwort seines Buches, denn das hätte seine Intention zerstört. Zudem habe er etwas dagegen, Unglück als Tapete zu verwenden. Ihm sei es vielmehr darum gegangen, den Leser moralisch im Stich zu lassen. Was ihm eindrucksvoll gelingt. Mit einer kargen, dunkel dräuenden, mitunter fast eisigen Sprache schildert er in diesem parabelhaften Buch ein Geschehen, das sich überall abspielen könnte, seit der Mensch des Menschen schlimmster Feind ist. Und stellt die Frage, wie sich der Einzelne verhalten würde, wenn es um das eigene Überleben geht.
Besprochen von Georg Schmidt
Gerard Donovan: Ein bitterkalter Nachmittag
Übersetzt von Thomas Gunkel
Luchterhand Literaturverlag, München 2010
336 Seiten, 19.99 Euro
Die Soldaten, die vor ein paar Tagen als Besatzer eingerückt sind, haben ihn an diesem Tag abgeholt. Jetzt steht der Bäcker einer namentlich nicht genannten Kleinstadt auf einer unwirtlichen Halbinsel irgendwo im Norden Europas an einem bitterkalten Nachmittag auf einem verschneiten Feld und muss eine Grube ausheben. Nach einer Weile gesellt sich ein anderer Mann zu ihm, der Ge-schichtslehrer des Städtchens. Der Bruder des Bäckers hatte von den eigenartigen Unterrichtsmethoden dieses Pädagogen erzählt. Jetzt erlebt sie der Bäcker am eigenen Leib.
Es ist eine beklemmende Szenerie, die Gerard Donovan entwirft. Während die beiden Männer miteinander ins Gespräch kommen, fahren im Hintergrund Last-wagen vor, von deren Ladeflächen Soldaten weitere Bewohner des Städtchens herunterjagen. Stundenlang stehen sie im Schneesturm und warten darauf, dass der Bäcker die Grube ausgehoben hat. Doch das dauert. Der Lehrer verwickelt den Bäcker in ein Gespräch über Gott und die Welt. Er erzählt von Kriegs-gräueln, dem Luftangriff auf Dresden und dem Massaker an Big Foots Sioux in Wounded Knee, während sich der Bäcker – belesen, aber kontaktscheu – über die Geschichte des Weizens und der Backkunst auslässt und davon erzählt, wie er einst mit Hilfe der taktischen Lehren aus Shinzus "Die Kunst des Krieges" seinen Laden gegen dreiste Übergriffe der Polizistengattin verteidigte.
Beide belauern einander. Sie führen philosophische Dispute über Zivilisation, Religion und die Lehren der Geschichte. Dann erfolgt die jähe Anklage: Der Lehrer wirft dem Bäcker vor, mit den neuen Machthabern zu kollaborieren und ein Denunziant zu sein. In einem Scheinprozess, in dem der Bäcker Angeklagter und Richter ist, während der Lehrer Staatsanwalt und Zeugen darstellt, wird über die Frage von Schuld und Rechtfertigung verhandelt. Dann ist das Loch ausgehoben, die Scheinwerfer der Lastwagen leuchten auf.
Nein, keinen Roman über den Holocaust habe er geschrieben, erklärt Donovan im Nachwort seines Buches, denn das hätte seine Intention zerstört. Zudem habe er etwas dagegen, Unglück als Tapete zu verwenden. Ihm sei es vielmehr darum gegangen, den Leser moralisch im Stich zu lassen. Was ihm eindrucksvoll gelingt. Mit einer kargen, dunkel dräuenden, mitunter fast eisigen Sprache schildert er in diesem parabelhaften Buch ein Geschehen, das sich überall abspielen könnte, seit der Mensch des Menschen schlimmster Feind ist. Und stellt die Frage, wie sich der Einzelne verhalten würde, wenn es um das eigene Überleben geht.
Besprochen von Georg Schmidt
Gerard Donovan: Ein bitterkalter Nachmittag
Übersetzt von Thomas Gunkel
Luchterhand Literaturverlag, München 2010
336 Seiten, 19.99 Euro