Der mentale Kern der Autostadt
Die am Reißbrett entstandene Stadt Wolfsburg ist geprägt durch das Volkswagen-Werk. Doch den Leipziger Künstler Jörg Herold interessiert mehr, was den Menschen die Stadt zur Heimat werden lässt. Deshalb hat er Wolfsburger Privatwohnungen aufgesucht, abgelichtet, Grundrisse maßstabsgetreu nachgebildet und jeweils einen für den Wohnungsbesitzer charakteristischen Gegendstand ausgestellt. So entsteht ein Bild vom inneren, mentalen Kern der Autostadt.
Hier also schlägt das wahre Herz der Autostadt: Zwischen labyrinthisch engen Wänden tauchen Fotos von Fensterblicken auf, Ausblicke aus Wolfsburger Einheitswohnungen. Vor den grauen Mauern mit hohem schwarzem Sockel stehen Einzelobjekte, ein Vogelhäuschen, Bücher oder einfach nur rohe Holzbretter. Scheinbar deplaziert, denn für die "Wolfsburger Skizzen" des Künstlers Jörg Herold hätte man doch anderes erwartet, Hinweise auf die kulturelle Strahlkraft der Architektur eines Alvar Aalto etwa:
Jörg Herold: "Um an den eigentlichen Kern, den ich suchte, heranzukommen, musste ich natürlich diesen offensichtlichen, ja: offensiven Ballast – Alvar Aalto und VW – beiseite schieben, um an das ganz Private heranzukommen. Das ganz Private war mir eigentlich wichtig."
Während das Reality-TV mit seinen Doku-Soaps den Alltag bis in intimste Winkel auszuleuchten verspricht, widmet sich Herold als "Dokumentararchäologe" dem kaum beachteten Kern des Geschehens, der Wohnung als Keimzelle des Alltags. Maßstabsgerecht um mehr als die Hälfte verkleinert wirken die Grundrisse beängstigend, treten die im Unterbewusstsein prägenden Kräfte dieser Räume hervor. Denn für Herold ist entscheidend, was sich im mentalen, von den Medien kaum wahrgenommenen Niemandsland abspielt, was im Innern jener Menschen vorgeht, die Wolfsburg ihre "Heimat" nennen:
Jörg Herold: "Mir ist aufgefallen, dass im Umfeld von Wolfsburg – einem sehr flachen Landstrich – diese vier Schornsteine immer wieder herausragen. Das ist so eine Art Kompass. Und ich könnte mir vorstellen, dass jemand, der seit 1938 hier wohnt, der also hier geboren ist, jetzt Rentner ist, dass der, wenn er von ferner Reise zurückkehrt, die vier Schornsteine sieht und ihm sein Herz höher schlägt. Egal, in welcher Form sich Wolfsburg für den Außenstehenden präsentiert, aber Heimat ist das, mit dem man aufwächst!"
Vor 1938 allerdings, vor der Gründung der "Kraft-durch-Freude-Stadt" durch das NS-Regime, war hier tabula rasa, herrschte eine wüste Leere, wie Herold sie mit dem pechschwarzen Sockel inszeniert, auf dem als verlorenes Monument ein einziges Buch liegt: "Die Autostadt" von Horst Mönnich verfasst 1951 als – in dieser Reihenfolge – "Roman eines Automobils, einer Stadt und ihrer Menschen".
Jörg Herold: "Für mich jedenfalls sehr exemplarisch für die Wolfsburger Geschichte. VW als Mittelpunkt der Stadt, als Lebenspuls – Mönnich hat im Auftrag von VW geschrieben. Man kann sagen, dass es einen verklärenden Blick auf Wolfsburg ergibt – den ich als Maßstab genommen habe, über die Vergangenheit nachzudenken. "
Nun kehrt Herold die Perspektive um: Ein einziges Mal, neben einer Vogelschau auf Wolfsburg – die bereits bedrohlich an den Blick aus einer Bomberkanzel gemahnt – taucht der Volkswagen auf: Als Versprechen des so genannten Führers Adolf Hitler an seine "Volksgenossen", dann im militärischen Einsatz als Kübelwagen, neben dem der Fahrer leblos im fremden Wüstensand liegt. Von "Lebenspuls" kann da keine Rede mehr sein.
Und heute wird die Wahrnehmung des meist ja gut motorisierten Wolfsburgers wohl doch durch Mobilität geprägt, durch den Blick auf das endlose Band der Autobahn, aus dahinrasenden ICE-Waggons oder zumindest im angenehmen Schwindelgefühl des Kindes auf der Gartenschaukel. Das sind die Motive einiger Gemälde von Herolds Altersgenossen Eberhard Havekost, der als Protagonist einer "Generation X" im Wolfsburger Kunstmuseum ausstellt. Ein Gang durch diese Parallelausstellung kann nicht schaden, zumal Jörg Herold einen großen Bogen um diese "angesagten" Positionen zeitgenössischer Kunst macht:
Jörg Herold: "Wichtig war mein Fokus, mein Blick – und da versuche ich auch andere Blicke auszuschließen. Also eigentlich in Korrespondenz zu niemandem zu arbeiten."
Allerdings nie auf sich allein gestellt, wäre hinzuzufügen: Entscheidend war das Gespräch mit den Wolfsburgern, der meist zweistündige Besuch in ihren Wohnungen. Erst nach langem Hinhören und intensivem "Reinriechen" ins häusliche Leben hat man sich geeinigt auf Puzzlestücke aus dem ganz privaten Alltag, die als visuelle Visitenkarten jeweils einen Bürger der Autostadt in der Ausstellung vertreten. Denn am Ende muss der Gedächtnis-Künstler nach der klassischen Formel des "pars pro toto" etwas fürs Auge bieten, ein Symbol für "Heimat" auf seiner "mental map", seiner Erinnerungslandkarte markieren:
Jörg Herold: "Es ist die Hoffnung, das vielleicht zu materialisieren. Das, was man als Lebender über die Generationen hinweg an Auswahl hat, lässt nur ein "Digest", ein Objekt übrig. Auf der Suche war ich – aber es ist schwierig."
Zumindest ebenso exotisch wie jene Schätze, denen "Indiana Jones" nachjagt, wirken die Wolfsburger Fundstücke in Herolds Wunderkammer: Da liegt "Weltenstaub" auf edlem Büttenpapier, daneben steht das Vogelhäuschen aus Birkenholz, "polnische Bretter" begegnen dem "Luftfilter für Bunkerräume". Dahinter stehen Geschichten und Gewohnheiten, ja regelrechte "Macken": Eine Weltreisende kommt nie ohne ein Säckchen landestypischer Erde nach Wolfsburg zurück. Ein Amateurkünstler hat seine schönsten Bilder von Holzlatten abgerieben, die er in Polen fand. Und eine ältere Dame hält noch immer – "man kann ja nie wissen" – die Einbauten für den Luftschutz intakt. Und so bekommt Wolfsburg ein Gesicht, obwohl es doch die anonyme Planstadt ist, ein Reißbrettprodukt mit anonymen Einheitswohnungen:
Jörg Herold: "Das heißt: Traufhöhe nicht über drei Etagen, Raumhöhe allenfalls 2,70 Meter. Wenn man solche Wohnungen betritt – und die sich über Hunderte von Wohnungen ähneln – dann hat man das auch körperlich angenommen. Ich denke in anderen Städten, die einen historischen Kern haben – ich bin in Leipzig geboren, für mich ist solch ein historischer Kern sehr bürgerlich geprägt mit Stuckwohnungen größeren Ausmaßes – da fällt das schon auf."
Was kaum auffällt, aber für das Verständnis dieser Installation nicht unwichtig ist. Der erwähnte schwarze Sockel hat die Höhe von 2.02 Meter, das entspricht genau der Körpergröße von Jörg Herold. Nun wissen wir, warum der Archäologe gebückt zu Werke geht – rätseln aber immer noch, ob diese Haltung neben aller Demut gegenüber den Alltagsobjekten nicht auch ein wenig Ironie verrät.
Service:
Jörg Herolds Ausstellung "Reisebeschreibungen eines Dokumentararchäologen" sind noch bis zum 20. November 2005 in der Städtischen Galerie Wolfsburg zu sehen.
Jörg Herold: "Um an den eigentlichen Kern, den ich suchte, heranzukommen, musste ich natürlich diesen offensichtlichen, ja: offensiven Ballast – Alvar Aalto und VW – beiseite schieben, um an das ganz Private heranzukommen. Das ganz Private war mir eigentlich wichtig."
Während das Reality-TV mit seinen Doku-Soaps den Alltag bis in intimste Winkel auszuleuchten verspricht, widmet sich Herold als "Dokumentararchäologe" dem kaum beachteten Kern des Geschehens, der Wohnung als Keimzelle des Alltags. Maßstabsgerecht um mehr als die Hälfte verkleinert wirken die Grundrisse beängstigend, treten die im Unterbewusstsein prägenden Kräfte dieser Räume hervor. Denn für Herold ist entscheidend, was sich im mentalen, von den Medien kaum wahrgenommenen Niemandsland abspielt, was im Innern jener Menschen vorgeht, die Wolfsburg ihre "Heimat" nennen:
Jörg Herold: "Mir ist aufgefallen, dass im Umfeld von Wolfsburg – einem sehr flachen Landstrich – diese vier Schornsteine immer wieder herausragen. Das ist so eine Art Kompass. Und ich könnte mir vorstellen, dass jemand, der seit 1938 hier wohnt, der also hier geboren ist, jetzt Rentner ist, dass der, wenn er von ferner Reise zurückkehrt, die vier Schornsteine sieht und ihm sein Herz höher schlägt. Egal, in welcher Form sich Wolfsburg für den Außenstehenden präsentiert, aber Heimat ist das, mit dem man aufwächst!"
Vor 1938 allerdings, vor der Gründung der "Kraft-durch-Freude-Stadt" durch das NS-Regime, war hier tabula rasa, herrschte eine wüste Leere, wie Herold sie mit dem pechschwarzen Sockel inszeniert, auf dem als verlorenes Monument ein einziges Buch liegt: "Die Autostadt" von Horst Mönnich verfasst 1951 als – in dieser Reihenfolge – "Roman eines Automobils, einer Stadt und ihrer Menschen".
Jörg Herold: "Für mich jedenfalls sehr exemplarisch für die Wolfsburger Geschichte. VW als Mittelpunkt der Stadt, als Lebenspuls – Mönnich hat im Auftrag von VW geschrieben. Man kann sagen, dass es einen verklärenden Blick auf Wolfsburg ergibt – den ich als Maßstab genommen habe, über die Vergangenheit nachzudenken. "
Nun kehrt Herold die Perspektive um: Ein einziges Mal, neben einer Vogelschau auf Wolfsburg – die bereits bedrohlich an den Blick aus einer Bomberkanzel gemahnt – taucht der Volkswagen auf: Als Versprechen des so genannten Führers Adolf Hitler an seine "Volksgenossen", dann im militärischen Einsatz als Kübelwagen, neben dem der Fahrer leblos im fremden Wüstensand liegt. Von "Lebenspuls" kann da keine Rede mehr sein.
Und heute wird die Wahrnehmung des meist ja gut motorisierten Wolfsburgers wohl doch durch Mobilität geprägt, durch den Blick auf das endlose Band der Autobahn, aus dahinrasenden ICE-Waggons oder zumindest im angenehmen Schwindelgefühl des Kindes auf der Gartenschaukel. Das sind die Motive einiger Gemälde von Herolds Altersgenossen Eberhard Havekost, der als Protagonist einer "Generation X" im Wolfsburger Kunstmuseum ausstellt. Ein Gang durch diese Parallelausstellung kann nicht schaden, zumal Jörg Herold einen großen Bogen um diese "angesagten" Positionen zeitgenössischer Kunst macht:
Jörg Herold: "Wichtig war mein Fokus, mein Blick – und da versuche ich auch andere Blicke auszuschließen. Also eigentlich in Korrespondenz zu niemandem zu arbeiten."
Allerdings nie auf sich allein gestellt, wäre hinzuzufügen: Entscheidend war das Gespräch mit den Wolfsburgern, der meist zweistündige Besuch in ihren Wohnungen. Erst nach langem Hinhören und intensivem "Reinriechen" ins häusliche Leben hat man sich geeinigt auf Puzzlestücke aus dem ganz privaten Alltag, die als visuelle Visitenkarten jeweils einen Bürger der Autostadt in der Ausstellung vertreten. Denn am Ende muss der Gedächtnis-Künstler nach der klassischen Formel des "pars pro toto" etwas fürs Auge bieten, ein Symbol für "Heimat" auf seiner "mental map", seiner Erinnerungslandkarte markieren:
Jörg Herold: "Es ist die Hoffnung, das vielleicht zu materialisieren. Das, was man als Lebender über die Generationen hinweg an Auswahl hat, lässt nur ein "Digest", ein Objekt übrig. Auf der Suche war ich – aber es ist schwierig."
Zumindest ebenso exotisch wie jene Schätze, denen "Indiana Jones" nachjagt, wirken die Wolfsburger Fundstücke in Herolds Wunderkammer: Da liegt "Weltenstaub" auf edlem Büttenpapier, daneben steht das Vogelhäuschen aus Birkenholz, "polnische Bretter" begegnen dem "Luftfilter für Bunkerräume". Dahinter stehen Geschichten und Gewohnheiten, ja regelrechte "Macken": Eine Weltreisende kommt nie ohne ein Säckchen landestypischer Erde nach Wolfsburg zurück. Ein Amateurkünstler hat seine schönsten Bilder von Holzlatten abgerieben, die er in Polen fand. Und eine ältere Dame hält noch immer – "man kann ja nie wissen" – die Einbauten für den Luftschutz intakt. Und so bekommt Wolfsburg ein Gesicht, obwohl es doch die anonyme Planstadt ist, ein Reißbrettprodukt mit anonymen Einheitswohnungen:
Jörg Herold: "Das heißt: Traufhöhe nicht über drei Etagen, Raumhöhe allenfalls 2,70 Meter. Wenn man solche Wohnungen betritt – und die sich über Hunderte von Wohnungen ähneln – dann hat man das auch körperlich angenommen. Ich denke in anderen Städten, die einen historischen Kern haben – ich bin in Leipzig geboren, für mich ist solch ein historischer Kern sehr bürgerlich geprägt mit Stuckwohnungen größeren Ausmaßes – da fällt das schon auf."
Was kaum auffällt, aber für das Verständnis dieser Installation nicht unwichtig ist. Der erwähnte schwarze Sockel hat die Höhe von 2.02 Meter, das entspricht genau der Körpergröße von Jörg Herold. Nun wissen wir, warum der Archäologe gebückt zu Werke geht – rätseln aber immer noch, ob diese Haltung neben aller Demut gegenüber den Alltagsobjekten nicht auch ein wenig Ironie verrät.
Service:
Jörg Herolds Ausstellung "Reisebeschreibungen eines Dokumentararchäologen" sind noch bis zum 20. November 2005 in der Städtischen Galerie Wolfsburg zu sehen.