Der Michelangelo der Moderne

Von Walter Bohnacker |
"Der Denker", Rodins bekannteste Monumentalplastik, wurde, noch bevor sie vor dem Pariser Panthéon aufgestellt wurde, zuerst in London gezeigt: vor genau 100 Jahren. Jetzt steht sie wieder hier und bildet den Mittelpunkt einer Schau, die - so sehr sie Rodin auch als den Kulturimport der vorletzten Jahrhundertwende inszeniert - viel mehr sein will als eine "Best of Rodin-Show". Aber das ist sie natürlich auch.
Nicht in Frankreich, sondern jenseits des Ärmelkanals erlebte Rodin Ende des 19. Jahrhunderts seinen kommerziellen und künstlerischen Durchbruch. Diese Tatsache, so Mary Anne Stevens vom Direktorium der Royal Academy, gehöre mit zu den Entdeckungen der Ausstellung.

"Gleich bei seinem ersten Englandaufenthalt 1881 stieß Rodin auf Anerkennung, vor allem bei der kulturellen Elite des Landes. Sie sammelte seine Arbeiten und ließ sich von ihm porträtieren, hier wurde er gefeiert und umworben, ausgestellt und geehrt, auch in der Royal Academy. Die Resonanz, die Rodin in England fand, hatte Einfluss auf seine ganze spätere Laufbahn."
Sicher: Solche Monumental-Ikonen wie "Der Denker" oder "Der Kuss" dürfen auch hier nicht fehlen. Zusammen mit den Bronzeskulpturen "Johannes der Täufer", "Das eherne Zeitalter" und der sechsköpfigen Gruppe der "Bürger von Calais" markieren sie die Höhepunkte im Rodinschen Oeuvre. Sie sind es auch in dieser, in ihrer Fülle so spektakulären wie fast schon überwältigenden Retrospektive, der ersten in Großbritannien seit 20 Jahren. Und sie sind nicht die einzigen.

Zwei weitere finden sich in den Abteilungen 6 und 8: Hier Rodins Auseinandersetzung mit der klassischen Antike, dort die späten Aktzeichnungen und Aquarelle. Beide Themenbereiche, so Mary Anne Stevens, sollen uns die große Leistung Rodins als Revolutionär der Plastik und Wegbereiter der Moderne vor Augen führen:

"Mit das Interessanteste an Rodin ist sein Verhältnis zur Antike und zur Renaissance, insbesondere zu Michelangelo. Er machte sich beider Erbe zu eigen, indem er sich als Künstler vorbehaltlos der Nachbildung der Natur verpflichtete und sich statt von einer idealisierten ganz und ausschließlich von der realen Welt inspirieren ließ."

Die Überwindung einer jahrhundertealten Ästhetik durch die gezielte Fragmentierung des menschlichen Körpers mit dem Torso als autonomem Kunstwerk: das ist das eine. Das andere – und da sind wir bei den Frauen – ist die hocherotische, voyeuristische und für die damalige Zeit überaus gewagte unstilisierte Darstellung des weiblichen Körpers, in der Plastik wie auf dem Papier.

"Der Schlüssel zu Rodin, jedenfalls im Hinblick auf die Aspekte Sinnlichkeit und Sexualität, liegt wohl in der instinktiven, emotionalen und leidenschaftlichen Art, mit der er der menschlichen Form sozusagend hegend und liebkosend Form verleiht, sei es in Ton, Gips, Bronze oder Marmor oder mit Zeichenstift und Pinsel."

Rodin in London: das sind keine statischen, star-ren Körperwelten, sondern – auch dies rückt die Ausstellung in den Vordergund – das ist Bildhauerei in Bewegung, Kreativität als Metamorphose des Materials im kontinuierlichen Nach- und Nebeneinander: vom Tonmodell über den Gipsabdruck bis zur fertigen Figur aus Bronze oder Stein.

Die Ausstellung führt heran an die Arbeitsweise eines Künstlers, der fühlt und tastet, der modelliert und variiert, der mit Posen und Dimensionen spielt und experimentiert, mal erweiternd, mal vereinfachend.

Warum er über Frauen so viel nachdenke und sich über sie ständig den Kopf zerbreche, wollte ein Bekannter von ihm wissen. "Ja, warum sollte ich das nicht tun?" fragte Rodin zurück. "Kennen Sie etwas Wichtigeres auf der Welt?"

Wir, die wir uns bei Rodin vielleicht über nichts so sehr den Kopf zerbrechen wie über die Bedeutung seines "Denkers", seien, meint Mary Anne Stevens, gut beraten, in dieser für sein Werk so wichtigen Figur mehr zu sehen als nur die symbolische Verkörperung seiner von ihm verehrten großen Lands-leute und Vorbilder in der Literatur.

"'Der Denker' ist Rodins zentrale Figur schlechthin. Er ist Dante, der Dichter der 'Göttlichen Komödie', aber er ist auch Charles Baudelaire und Victor Hugo. Und er ist Rodin selbst, der über seinem Werk sitzt und darüber ins Grübeln kommt."

Ihren imposanten Anfangs- und Endpunkt hat die Ausstellung im Innenhof der Royal Academy. Hier steht der knapp sieben Meter hohe Bronzeabguss des "Höllentors", das Rodin 1880 nach Motiven aus Dantes "Inferno" für ein Pariser Museum entwarf, das dann jedoch nie gebaut wurde.

Und dort, fast ganz oben, sitzt er, der "Denker": das kleine Original in seinem ursprünglichen Kontext. Er blickt herab auf das Chaos purzelnder und tanzender Leiber auf ihrer Höllenfahrt. Oder auf uns und die "menschliche Komödie". So nannte es Balzac. Oder ist es tatsächlich Rodin, der sich über sich und die Welt den Kopf zerbricht – und über die Frauen?


Service:

Die Ausstellung "Rodin” ist bis zum 1. Januar 2007 in der Royal Academy in London zu sehen.