Der Moskauer Tätowierer Ilja Raspisnoj

Er sticht, was ihn politisch bewegt

Von Gesine Dornblüth |
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Nur wenige Künstler in Russland wagen noch offene Gesellschaftskritik. Einer von ihnen ist Ilja Raspisnoj. Der 25-Jährige arbeitet als Tätowierer und drückt seine Überzeugungen mittels der Bilder aus, die er auf der Haut seiner Kunden hinterlässt.
Sein Körper ist über und über tätowiert, von den Fußrücken bis zum Hals. Es sind großflächige, teils schwarze, teils bunte Figuren, Gesichter. Auf seinen Fingern stehen Buchstaben, ballt er die rechte Faust, steht da ein Imperativ: "Ljubi!". Auf deutsch: "Liebe!" Seine Ohrmuscheln zieren Spinnweben.
"Ich bin jetzt 25, das erste Tattoo habe ich mir mit 18 stechen lassen, und es hat ungefähr drei Jahre gedauert, bis ich 'voll' war. Seit einigen Jahren tätowiere ich lieber andere."
Die Rede ist von Ilja Raspisnoj. Raspisnoj ist sein Pseudonym. Übersetzt heißt es "Der Verzierte".
"Den Namen habe ich offiziell angenommen, er steht auch in meinem Ausweis. Ich habe mir gesagt: Der Name wird mir im Leben helfen."

"Meister des politischen Tattoos"

Ilja der Verzierte lebt in Moskau, hat dort ein eigenes Tattoo-Studio. Er begreift sich als "Meister des politischen Tattoos".

Der "Kompressor" startet mit diesem Beitrag eine Serie mit dem Titel "Wo Kunst noch wehtut". Provokation, Tabubruch, Schock: All das kann, soll Kunst vielleicht auch auslösen. Aber womit kann man überhaupt noch schocken? Ist ein Tabubruch überhaupt noch möglich, in einer Zeit, in der alle Grenzen ausgetestet zu sein scheinen? Unsere Korrespondenten und Autoren porträtieren Künstlerinnen und Künstler, die in ihrem jeweiligen Heimatland für Diskussionsstoff sorgen.

"Ich mache Tattoos zu den Themen, die mich beschäftigen. Es ist nicht so, dass ich morgens nach dem Aufstehen den Fernseher einschalte, Nachrichten gucke, zum Beispiel zur Ukraine, und das dann zeichne. Aber wenn ich etwas sehe, das ich als ungerecht empfinde, dann lasse ich meine Emotionen auf Papier oder aufs iPad fließen. Besonders beschäftigt mich das Thema Meinungsfreiheit. Besser gesagt, ihr Fehlen in Russland. Also Zensur."
Der politische Tätowierer Ilja Raspisnoj bei der Arbeit,
Raspisnoj beim Entwerfen eines Tattoomotivs 2019 in Berlin© Red Square Festival/Rita Kabakova
"Ich habe zum Beispiel ein Tattoo entworfen mit einem Kopf in einer Sturmhaube. Anstelle der Augen steht dort das Wort 'Wahrheit', anstelle des Mundes das Wort 'Zensur'. Der Mensch sieht die Wahrheit, kann sie aber nicht aussprechen, wegen der Zensur."

Spiel mit Motiven aus dem kriminellen Milieu

Auf seinem eigenen Körper trägt Raspisnoj allerdings nur fremde Motive. Darunter mehrere traditionelle Tattoos aus dem kriminellen Milieu.
"Sie sind 100 Prozent original, so, wie sie die Gefangenen in früheren Jahrhunderten gestochen haben."
Der ganzkörpertätowierte Russe Ilja Raspisnoj, von hinten fotografiert
Der Rücken Ilja Raspisnojs© Deutschlandradio / Gesine Dornblüth
Er zieht sein Shirt hoch, entblößt den schmalen Rücken. Eine Frau ist da zu sehen, madonnengleich. In der einen Hand trägt sie ein orthodoxes Kreuz, die andere ruht auf ihrem Bauch. Darunter der Schriftzug: "Geboren für Qualen, Glück brauche ich nicht."
"Im Gefängniskontext kann ein Tattoo verschiedene Bedeutungen haben. Dieses kann bedeuten, dass der Mensch, der es trägt, aus einer Adoptivfamilie stammt oder seine Eltern verloren hat. Ich wurde auch adoptiert. Für mich hat das eine besondere Bedeutung."

"In Russland verachtet man Tätowierte"

Die Lager- und Gefängniswelt in Russland ist eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen, einem eigenen Slang, eigenen Symbolen.
"Man kam in die Zone, da gab es jemanden, der tätowieren konnte, und dem sagte man, was er abbilden sollte oder nach welchem Paragraphen man verurteilt wurde. Der Künstler hat dann direkt auf der Haut mit der Nadel gezeichnet. Das konnte fünf oder zehn Jahre dauern.
Früher dienten all diese Tattoos als eine Art Pass. Die Häftlinge wurden ja verlegt. Wenn einer eine Autorität war, bekam er das Tattoo einer Autorität. Wenn er dann in ein anderes Gefängnis verlegt wurde, sahen alle gleich, was für ein Typ das ist. Wenn einer schwul und deshalb ausgestoßen war, wurde ihm ein bestimmtes Tattoo mit Gewalt gestochen.
Jetzt gibt es das nicht mehr in der Form. Ich habe mir diese Tattoos stechen lassen, damit diese Traditionen nicht aus dem Gedächtnis verschwinden.
Das gehört zu unserer Geschichte, und an die muss man erinnern. Die Geschichte ist nun mal nicht immer angenehm."
Der politische Tätowierer Ilja Raspisnoj
"Zugehackt" bis zum Hals: Ilja Raspisnoj mit Sonnenbrille.© Ilja Raspisnoj
Damit setzt er ein Zeichen gegen die Vergangenheitsverherrlichung der russischen Geschichtspolitik. Und nicht nur das: Sein Körper ist im konformistischen Russland eine Provokation:
"Zum Teil ist das so. In Russland verachtet man Tätowierte, selbst, wenn sie künstlerisch hochwertige Tattoos tragen. Die Leute leben mit Stereotypen. Gerade alte Leute denken, wenn sie jemanden mit Tattoos sehen, sofort: Der hat wohl im Gefängnis gesessen. Diese Stereotypen werden erst mit der Zeit verschwinden."
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