Der Müll der Mafia

Von Aureliana Sorrento |
20 Meilen von der kalabresischen Küste entfernt, in 472 Meter Tiefe, wurde ein Schiff gefunden. Der Oberstaatsanwalt der nahe gelegenen Stadt Paola, Bruno Giordano, vermutete, dass der Bauch des Schiffes Tanks birgt, möglicherweise mit radioaktivem Müll. Untermauert wurde dies durch eine erste Untersuchung des Wracks. Zudem hatte der reuige Mafioso Francesco Fonti ausgesagt, die Versenkung von Schiffen voller Giftmüll vor der Küste Kalabriens veranlasst zu haben. Dann gab Oberstaatsanwalt Giordano den Fall an die Antimafia-Staatsanwaltschaft von Catanzaro ab. Jetzt darf er nicht mehr darüber reden. Ein Journalist, der über den Fall recherchiert, hat Morddrohungen erhalten.
Beinahe andächtig lauscht das Publikum dem Vortrag Gianni Lannes. Alle Umweltorganisationen Kalabriens haben sich an diesem Sonntag im Landwirtschaftszentrum von Lamezia Terme versammelt. Thema der Tagung sind "die Schiffe der Gifte", wie es hier heißt: Im Meer versenkte Schiffe, die radioaktive oder toxische Abfälle transportiert haben sollen.

Deren Spuren ist der Fernsehjournalist Gianni Lannes ein Jahrzehnt lang nachgegangen. Nicht nur vor Kalabrien, sondern überall vor süditalienischen Küsten filmte er die Wracks von Frachtern und die Überreste von Giftmüllcontainern ungeklärter Herkunft – eine offenbar unerwünschte Arbeit.

"Auf mich wurde ein erster Anschlag am 2. Juli 2009 versucht, ein zweiter am 23. Juli, ein dritter am 5. November."

Seit dem vergangenen Herbst herrscht in Kalabrien Alarm. Denn im September wurde offiziell bestätigt, dass vor dem Hafenstädtchen Cetraro das Wrack eines Schiffes gefunden wurde. Zirka elf Seemeilen vor der Küste, in einer Tiefe von 472 Metern. Ein Frachter, 120 Meter lang, 20 Meter breit. Am Bug des Schiffes klaffte ein Riss, durch den ein vom Forschungsschiff "Copernaut" in die Tiefe gelotster Tauchroboter einige Container filmen konnte. In der Nähe des Schiffes, auf dem Meeresgrund, berichtete der Pilot des Roboters, lagen zerplatzte Container.

Schon im Mai hatte der für diese Region zuständige Staatsanwalt Bruno Giordano im Städtchen Paola von dem Wrack gehört. Er vermutete, es sei das Schiff, von dem der Mafia-Kronzeuge Francesco Fonti in einem Memorandum 2005 berichtet hatte. Fonti, bis 1994 Mitglied der kalabrischen Organisation N'drangheta, hatte sich in dem Dokument beschuldigt, 1992 den Frachter Cunski voll von radioaktivem Müll im Meer vor Cetraro versenkt zu haben. Außerdem zwei weitere Schiffe mit giftiger Ladung an anderen Stellen vor der kalabrischen Küste.

Fonti erklärte, in den 80er und 90er-Jahren hätte die N'drangheta etliche Versenkungen von Schiffen mit radioaktiven und toxischen Abfällen erledigt. Da im Meer vor Cetraro Fische gefangen wurden, die mit Schwermetallen und Cäsium kontaminiert waren, galt es als nicht unwahrscheinlich, dass es sich bei dem gefundenen Wrack tatsächlich um Fontis Cunski handelte.

Sämtliche Ermittlungsunterlagen wurden dem Antimafia-Staatsanwalt von Catanzaro, Giuseppe Borrelli, übergeben, der allerdings den Fall für abgeschlossen hält. Dabei beruft er sich auf die Ergebnisse einer Untersuchung, die die italienische Regierung in Auftrag gegeben hatte.

Der vermutete Giftmüll-Frachter, sagten die Verantwortlichen des Forschungsschiffes Mare Oceano, sei ein altes Passagierschiff mit leerem Schiffsbauch. Das war ein allerdings völlig anderes Ergebnis als das, das die erste Untersuchung durch den Tauchroboter der "Copernaut" erbracht hatte. Nicht nur deshalb befürchten viele Menschen in Kalabrien, dass die von der Regierung beauftragte Mare Oceano das Schiff, von dem der Kronzeuge Francesco Fonti berichtet hatte, weder gesucht noch gefunden hat.

Nuccio Barillà: "Am 3. März 1994 reichten wir beim Polizeipräsidium von Reggio Calabria Anzeige ein, weil uns eigenartige, besorgniserregende Meldungen erreicht hatten, von einem Handel mit Giftmüll aus Deutschland und anderen nordeuropäischen Ländern, der nach Kalabrien befördert worden sei, genauer: in Gegenden des Aspromonte, des wunderschönen kalabrischen Bergs, der als Territorium der N'drangheta berüchtigt ist."

Nuccio Barillà gehörte damals zum Vorstand der Umweltorganisation Legambiente.

"Als Umschlagsplätze, so die Hinweise, hätten einige Häfen im Süden Kalabriens gedient, die nicht von den Behörden kontrolliert werden. Dann sollte der Müll in Lastwagen den Berg hinauf transportiert und in geheime Höhlen und Gruben des Aspromonte abgeladen werden."

Aufgrund der Anzeige von Legambiente leitete der Staatsanwalt von Reggio Calabria, Francesco Neri, Ermittlungen ein.

Francesco Neri darf heute darüber nicht mehr reden. Auf eine Interviewanfrage antwortet er freundlich, es sei ihm aus "institutionellen Gründen" nicht gestattet, über die Ermittlungen zu sprechen, die er damals führte. Ein ähnliches Schweigegebot ist allen Mitgliedern seines damaligen Ermittlungsteams auferlegt worden.
Einer, der Marinekapitän Natale De Grazia, starb während der Ermittlungen am 13. Dezember 1995. Auf dem Weg von Reggio Calabria nach La Spezia, wo er einige Zeugen vernehmen und Schiffsregister sichten wollte, brach er auf dem Rücksitz des Autos zusammen, mit dem er und zwei Kollegen Richtung Norden fuhren. Kurz zuvor hatten sie in Nocera inferiore bei Salerno zu Abend gegessen. Herzstillstand, ergab die Autopsie. Da es aber keine Spur eines Infarktes gab und ein Herzstillstand immer eintritt, wenn jemand stirbt, gilt der Tod des Kapitäns De Grazia vielen als ungeklärt.

Dass die Anzeige der Legambiente nicht auf Ammenmärchen basierte, ließ bereits zu Beginn der Ermittlungen der Fall des Schiffes Koraby erahnen. Dieser Frachter war unmittelbar nach dem Auslaufen aus dem Hafen von Durazzo aus nie geklärten Gründen von einem Schiff der US-Navy beschossen worden und hatte dann den Hafen von Palermo angesteuert. Als die sizilianische Küstenwache das Schiff kontrollierte, stellte sie fest, dass die Fracht radioaktiv war, und verwies die Koraby des Hafens. Kurz danach wurde das Schiff, bei Reggio Calabria vor Anker liegend, noch einmal von der Küstenwache inspiziert – kurioserweise war die Fracht nun nicht mehr radioaktiv.

Suspekt waren den Ermittlern außerdem eine Reihe von Frachtern, die im Mittelmeer Schiffbruch erlitten hatten, ohne dass die Besatzung SOS gesendet hätte. Einige dieser Frachter hatten als Ladung Marmorschotter deklariert – ein Radioaktivität abschirmendes Material. Aber die interessantesten Hinweise bekamen die Ermittler von einem verdeckten Informanten, der in einem Ermittlungsbericht "Billy" genannt wird.

"Der Zeuge zeichnete ein beängstigendes Bild davon, wie unser Staatsunternehmen ENEA mit der Nukleartechnik umgeht, und erzählte von illegalen Geschäften mit radioaktivem Material, die von korrupten Physikern getätigt wurden."

"Die Ermittlungen des Staatsanwalts Neri liefen parallel zu den Ermittlungen anderer Staatsanwälte, insbesondere denen von Nicola Maria Pace. Sie betrafen die Verwaltung eines Forschungszentrums der ENEA in der süditalienischen Region Basilicata. Aussagen diverser Mafia-Kronzeugen deuteten an, dass die Leiter dieses Zentrums mit der Organisierten Kriminalität Abmachungen getroffen hatten, um radioaktive Abfälle, die man nicht legal entsorgen konnte, illegal aus der Welt schaffen zu lassen."

Am 23. Mai 1994 wird in Chiasso an der Grenze zur Schweiz der Geschäftsmann Elio Ripamonti durchsucht. In seinem Koffer finden Zollbeamte technische Zeichnungen und Dokumente der Firma O.D.M. – Oceanic Disposal Management.

"Das war das Vorhaben eines italienischen Ingenieurs, Giorgio Comerio, der dann im Zentrum etlicher Ermittlungen stand. Laut Comerio war sein Vorhaben das Ergebnis einer Studie, die mit Mitteln der Europäischen Gemeinschaft, der USA, Japan, der Schweiz und Kanada realisiert worden war. Diese Studie, 1989 abgeschlossen, erforschte die Möglichkeit, in raketenförmigen Stahlbehältern von 16 Meter Länge radioaktive Abfälle einzukapseln und sie dann in lockere Sedimente am Meeresgrund hineinzukeilen. Doch weil diese Methode gegen internationale Gesetze verstieß, die Londoner Konvention etwa, die die Entsorgung radioaktiver Abfälle im Meer untersagt, wurde die Studie ad acta gelegt. Comerio hatte Bojen entwickelt, mit denen die Stellen gekennzeichnet worden wären, an denen die Stahlbehälter abgeworfen worden wären."

Im Mai 1995 lässt Staatsanwalt Francesco Neri die Villa von Giorgio Comerio in Garlasco bei Pavia durchsuchen. Die Durchsuchung bekräftigt den Verdacht, der Ingenieur Comerio sei als Entsorger von radioaktiven Abfällen im Meer rund um den Globus tätig. Unter anderem finden die Kriminalpolizisten in Comerios Villa Umbaupläne für das Schiff Jolly Rosso. Offenbar hatte der Ingenieur es auf den Frachter abgesehen, um seine Atommüllraketen zu befördern; der Kauf des Schiffes war aber nicht zustande gekommen.

"Eine Zeit lang waren einige Länder der Dritten Welt bereit, hochgiftige und radioaktive Abfälle aus dem industrialisierten Europa aufzunehmen. In den 80er-Jahren sagten sie aber: Stopp, nehmt sie zurück! Die Jolly Rosso wie auch die Zanobia wurden also in diese Länder geschickt, um Giftmüll zurückzuholen. Die Jolly Rosso taucht dann im Tyrrhenischen Meer vor der kalabrischen Küste plötzlich wieder auf. Nun heißt das Schiff nur noch Rosso. Am 14. Dezember 1990 ist es vor dem Strand Formiciche zu sehen, von den Wogen hin und her geworfen, zuerst scheint es unterzugehen, dann reckt es sich zwischen den Wellen wieder empor, bis es bei Cosenza strandet."

Augenzeugen gibt es dafür viele. Aber jeder weiß, dass in Kalabrien die N'drangheta herrscht, nicht etwa der italienische Staat. Jeder weiß, dass die kalabrische Mafia mit Strohmännern die Wirtschaft wie auch die Politik der Region kontrolliert; dass sie staatliche Behörden infiltriert hat, und dass sie alle, die sich ihr entgegenstellen, ins Jenseits befördert. Deshalb sind nur wenige – wie der Lokalreporter Francesco Cirillo – bereit zu sagen, was sie am Strand von Amantea Ende 1990 gesehen haben.

"Als sich die Nachricht verbreitete, dass dieses Schiff von den Wellen an Land getrieben worden war, gingen wir sofort zum Strand, aus Neugier. Es wirkte ja wie eine Fellini-Szene: ein riesiges rotes Schiff."

Dann kam eine Firma aus den Niederlanden, die auf die Bergung radioaktiver Materialien spezialisiert war. Diese Firma arbeitete eine Weile an dem Schiff und zog wieder ab, ohne dass jemand erfahren hätte, was eigentlich getan worden war. Jedenfalls hatte die niederländische Firma von der Reederei Ignazio Messina, der die Rosso gehörte, 800 Millionen Lire für ihre Arbeit erhalten. Dann ließ Messina das Schiff abwracken, was zirka zwei Monate dauerte. Das Problem dabei war, dass das Schiff gegen zwei Uhr nachmittags des 14. Dezember strandete. Bis 7 Uhr morgens des 15. Dezember wurde das Wrack nicht sichergestellt, weder von den Carabinieri noch von der Hafenpolizei, und die Umgebung des Unglücks wurde nicht abgesperrt.

Typische Mittelmeer-Vegetation bedeckt die Berghänge des Oliva-Tals: Gestrüpp, Pinien, Dornensträucher, verdorrtes Gras. Entlang der Oliva liegen Orangen- und Olivenhaine, Schilffelder und Gemüsegärten. Hier, vom Meer nur wenige Kilometer entfernt, ist der Fluss eher ein Bach. Von der einen zur anderen Seite des Tals erstreckt sich ein massiger Steindamm.

Teresa Bruno: "Wir stehen hier über der Böschungsmauer des Oliva-Flusses. Unter dieser Mauer ist ein Zementquader voll Schwermetallen entdeckt worden, die in Kalabrien nicht produziert werden."

... sagt Teresa Bruno.

"An dieser Stelle entdeckte ich Anfang der 90er-Jahre einige blaue Fässer im Kiesbett des Flusses. Nach einer Überflutung war der Damm gebrochen. Ich weiß nicht, ob sie gerade dorthin gebracht worden oder nach der Überflutung frei gespült worden waren. Aber ich erinnere mich sehr gut daran. Das muss 1991 oder 1992 gewesen sein. Seltsam ist, dass die Fässer dann von heute auf morgen verschwanden."

Teresa Bruno war noch ein Kind, als sie im Kiesbett des Oliva die seltsamen blauen Fässer sah, von denen sie im Herbst 2009 Staatsanwalt Bruno Giordano erzählte. Andere Zeugen haben dem Staatsanwalt Ähnliches berichtet.

Bruno Giordano: "Alle erinnern sich an übereinander geworfene Behälter, mehr oder weniger in dieser Gegend."

Erinnerungen, die an Bedeutung gewannen, seitdem im Tal des Oliva neben einem Quader voll Schwermetall auch Cäsium 137 gefunden wurde. Links der Straße, die ins Tal führt, ragt ein künstlich aufgeschütteter Hügel auf, der einen extrem hohen Grad an Radioaktivität aufweist – eine Folge der Cäsiumkonzentration im Boden.

Bruno Giordano: "Man hat Bohrungen durchgeführt, in dem Hügel und unter der Böschungsmauer. Sie ergaben, dass dort Industrieabfälle vergraben wurden: Quecksilber und andere giftige Metalle. Aber vor allem wurde Cäsium 137 festgestellt, in vier Meter Tiefe. Cäsium 137 ist kein natürliches Element. Es ist zum Beispiel ein Produkt von Reaktorkatastrophen wie in Tschernobyl oder von Experimenten mit der Kernenergie. Solches 'Niederschlagscäsium' wird mit dem Wind verbreitet und sinkt irgendwann auf die Erde. Aber dieses Niederschlagscäsium findet man nur in Tiefen von maximal 20 Zentimetern. Da wir es in vier Meter Tiefe gefunden haben, kamen unsere wissenschaftlichen Berater zu dem Schluss, dass es aus kontaminiertem Boden stammen muss, der vom ursprünglichen Ort ins Oliva-Tal transportiert worden ist. Natürlich wurde er auch mit Isoliermitteln bedeckt, Marmorschotter und Marmorpulver etwa."

Die mit Cäsium kontaminierte Gegend im Tal der Oliva liegt nicht weit vom Ort, an dem im Dezember 1990 die Rosso strandete. Der Fluss mündet an dem Strand ins Meer, an dem die gestrandete Rosso 1990 monatelang lag.

Da es in Kalabrien nie Kernkraftwerke gab, hegen viele den Verdacht, dass das im Oliva-Tal gefundene Cäsium mit der berüchtigten Rosso in die Region gelangte. Und sowohl das Oliva-Tal wie auch der Strand von Amantea und das Hafenstädchen Cetraro fallen in die Zuständigkeit von Staatsanwalt Bruno Giordano.

Aber seit er die Ermittlungen über das vor Cetraro entdeckte Schiffswrack an die Antimafia-Staatsanwaltschaft von Catanzaro abgegeben hat – abgeben musste –, darf er über Schiffe weder ermitteln noch reden. Nachfragen bringen ihn offensichtlich in Verlegenheit – und irgendwann in Rage.

"Gestatten Sie mir, dass ich über das, was dem Amtsgeheimnis unterliegt, nicht sprechen kann und nicht sprechen will!"

Sämtliche Ermittlungsakten über die sogenannten Schiffe der Gifte liegen nun in den Händen der Antimafia-Staatsanwälte Giuseppe Borrelli von Catanzaro und Giuseppe Pignatone von Reggio Calabria. Es liegt in ihrem Ermessen, ob sie die Ermittlungen weiter führen. Wegen des Drucks der besorgten Öffentlichkeit sagen die Staatsanwälte, sie wollten weiter nach Schiffen mit eventuell toxischer Fracht vor den Küsten Kalabriens suchen.

Sie haben der Hafenkommandantur von Reggio Calabria den Auftrag gegeben, erst einmal eine Liste der Schiffe zu erstellen, die nach den Schifffahrtsregistern im Meer vor den kalabrischen Küsten versunken sind, obwohl eine solche Liste von der Marine bereist erstellt wurde. Über 9 von den 40 dort verzeichneten Schiffen ist nichts bekannt, nicht einmal der Name. Trotzdem hält Staatsanwalt Giuseppe Borrelli es nicht für notwendig, ozeanografische Nachforschungen dieser Schiffe zu veranlassen.

"Also, das Problem der Schiffe der Gifte, die Entsorgung radioaktiver Abfälle im Meer, war als Hypothese angenommen worden, verstehen Sie? Dass diese Entsorgung dann realisiert wurde, ist noch zu beweisen. Wir arbeiten jetzt an dieser Hypothese. Aber in dem Sinne, dass es fast unmöglich ist, nach Wracks im Meer Ausschau zu halten und all den Wracks, die man findet, einen Namen zuzuordnen."