Der Müll, die Stadt, das Rimini-Protokoll
Das Berliner Künstler- und Performanceensemble Rimini-Protokoll gilt als Begründer einer neuen Form des dokumentarischen Theaters. Diesmal haben die Theatermacher die Papier- und Müllsammler Istanbuls auf die Bühne geholt.
Willkommen in der Müllmetropole Istanbul. Getränkedosen, Pappkartons, Plastikflaschen fliegen über die Bühne des Theaters "garajistanbul" im Stadtteil Beyoglu. Vier schlaksige Männer in abgewetzten Jeans und T-Shirts sortieren in Windeseile Plastik, Leichtmetall, Papier voneinander. Jeder Wertstoff bringt bare Münze.
"900 Kilogramm Plastik, das bringt die Haushaltskosten rein, 90 leere Pfandflaschen die Unterhaltskosten für die Kinder", rechnet Bayram, der älteste der vier Müllsammler, dem Publikum vor. Sein hageres Gesicht glänzt. Er trägt einen Gürtel, auf dessen Schnalle eine Laufschrift blinkt. "Visual pollution" steht darauf.
"In den Augen des Staates, der Stadt und des Premierministers bin ich 'visuelle Verschmutzung'", erklärt der 35-jährige Roma, der wie viele seiner Landsleute im heruntergekommenen Istanbuler Viertel Tarlabasi lebt. Es scheint, als hätte er sich mal eben von der Straße zufällig ins Theater verirrt, so authentisch wirken er und die anderen Darsteller.
Sie stehen zum ersten Mal auf der Bühne. Nur ihre Schubkarren haben sie mitgebracht, als einzige Dekoration hängt ein Bild von Atatürk an der Rückwand. Die Müllsammler sind die Recycler des türkischen Müllaufkommens, nicht einmal die Hälfte des Abfalls schafft es in der Türkei auf legale Deponien. Auf dieses Phänomen wurden Helgard Haug und Daniel Wetzel von "Rimini Protokoll" sofort aufmerksam.
"Diese Männer, die gigantische Wagen durch die Stadt ziehen. Auf denen Säcke geschnallt sind, worin sie alles sammeln, was sie auf den Straßen finden. Uns hat auch interessiert, wie spricht man einen Müllsammler an, wie schaltet man die Vorurteile, die Skepsis oder den Ekel aus?"
Mit Hilfe einer türkischen Kollegin stießen sie auf Abdullah Dagacar. Der 24-jährige Kurde stammt aus einem kleinen Dorf namens Cicrik in Südostanatolien, über tausend Kilometer von Istanbul entfernt:
"Als sie uns sagten, wir sollten unsere persönliche Geschichte auf der Bühne erzählen, fand ich das sehr interessant. Denn das ist mein Leben, das ist meine Arbeit, ich muss mich nicht dafür schämen."
Abdullah lebt mit Verwandten auf der asiatischen Seite der Megacity. Daniel Wetzel von "Rimini Protokoll" erinnert sich an seinen ersten Besuch in Abdullahs Verschlag:
"Wir saßen da in ihrer Hütte, in der sie schlafen, hier in Istanbul. Umgeben von dem Müll, den sie gesammelt haben. Die erste Frage war, nachdem ich erklärt habe, warum wir da sind, hieß es: Wir müssen eigentlich über Gott reden, alles andere hat keinen Sinn."
Die tief religiösen Ansichten der kurdischen Müllsammler und die liberal-westlichen der Theatermacher sollten immer wieder aufeinander prallen während des sechsmonatigen Produktionsprozesses. Doch "Rimini Protokoll" interessierte der Überlebenskampf der Müllsammler, sie folgten ihren Routen, lernten die Geschäfte auf den wilden Müllhalden kennen.
Videos von diesen Begegnungen vermengen sich auf der Bühne mit kurdischen Steinwurfspielen und Darbietungen des türkischen Schattentheaters "Karagöz" zu einem bunten Kaleidoskop der Türkei, einem Land zerrissen zwischen Moderne und Rückständigkeit.
Der Boden, der den Müllsammlern "Gold" verspricht, kann ständig ins Wanken geraten. Ein drohendes Erdbeben zieht sich wie ein roter Faden durch die Inszenierung. Aus den Lautsprechern rattern die Töne der Seismographen, die Bühne wird zur Erdbebenwarte…
"Ich verstehe gar nicht, wie man hier leben kann. Es ist ziemlich klar, dass es hier in den nächsten zehn Jahren ein ganz massives Beben geben wird. Ich fand das ganz interessant zu sehen, wie sich Leute mit diesem 'Todesurteil', mal überspitzt gesagt, mit ihrem Leben arrangieren. Dass man trotzdem bleibt…"
Nach eineinhalb Stunden verstummen die Seismographen leise. Es folgt anhaltender Applaus. Strahlende Gesichter bei den Zuschauern:
"So etwas haben wir noch nie zuvor gesehen. Die Inszenierung berührt mich, ich fand sie traurig und lustig zugleich. Ich habe die Müllsammler nie wirklich wahrgenommen, jetzt kann ich sie besser verstehen."
"Die Inszenierung war sehr vielschichtig. Man beginnt nachzudenken, was man selbst besitzt und welche Position man als Zuschauer hat."
Draußen in der kleinen Gasse vor dem Theater steckt sich Bayram Renklihavar zufrieden eine Zigarette an. Vor einiger Zeit hat er in Istanbul die Gewerkschaft der Müllsammler mitgegründet.
"Wir arbeiten oft nachts, aber niemand schützt uns. Wir wollen nicht, dass die Leute von uns denken, wir seien Diebe oder Kriminelle. Aber das denken sie von uns! Wenigstens könnten sie uns ein gutes Gelingen oder einen guten Tag wünschen!"
Mehr Informationen auf der Homepage der Gruppe Rimini Protokoll
"900 Kilogramm Plastik, das bringt die Haushaltskosten rein, 90 leere Pfandflaschen die Unterhaltskosten für die Kinder", rechnet Bayram, der älteste der vier Müllsammler, dem Publikum vor. Sein hageres Gesicht glänzt. Er trägt einen Gürtel, auf dessen Schnalle eine Laufschrift blinkt. "Visual pollution" steht darauf.
"In den Augen des Staates, der Stadt und des Premierministers bin ich 'visuelle Verschmutzung'", erklärt der 35-jährige Roma, der wie viele seiner Landsleute im heruntergekommenen Istanbuler Viertel Tarlabasi lebt. Es scheint, als hätte er sich mal eben von der Straße zufällig ins Theater verirrt, so authentisch wirken er und die anderen Darsteller.
Sie stehen zum ersten Mal auf der Bühne. Nur ihre Schubkarren haben sie mitgebracht, als einzige Dekoration hängt ein Bild von Atatürk an der Rückwand. Die Müllsammler sind die Recycler des türkischen Müllaufkommens, nicht einmal die Hälfte des Abfalls schafft es in der Türkei auf legale Deponien. Auf dieses Phänomen wurden Helgard Haug und Daniel Wetzel von "Rimini Protokoll" sofort aufmerksam.
"Diese Männer, die gigantische Wagen durch die Stadt ziehen. Auf denen Säcke geschnallt sind, worin sie alles sammeln, was sie auf den Straßen finden. Uns hat auch interessiert, wie spricht man einen Müllsammler an, wie schaltet man die Vorurteile, die Skepsis oder den Ekel aus?"
Mit Hilfe einer türkischen Kollegin stießen sie auf Abdullah Dagacar. Der 24-jährige Kurde stammt aus einem kleinen Dorf namens Cicrik in Südostanatolien, über tausend Kilometer von Istanbul entfernt:
"Als sie uns sagten, wir sollten unsere persönliche Geschichte auf der Bühne erzählen, fand ich das sehr interessant. Denn das ist mein Leben, das ist meine Arbeit, ich muss mich nicht dafür schämen."
Abdullah lebt mit Verwandten auf der asiatischen Seite der Megacity. Daniel Wetzel von "Rimini Protokoll" erinnert sich an seinen ersten Besuch in Abdullahs Verschlag:
"Wir saßen da in ihrer Hütte, in der sie schlafen, hier in Istanbul. Umgeben von dem Müll, den sie gesammelt haben. Die erste Frage war, nachdem ich erklärt habe, warum wir da sind, hieß es: Wir müssen eigentlich über Gott reden, alles andere hat keinen Sinn."
Die tief religiösen Ansichten der kurdischen Müllsammler und die liberal-westlichen der Theatermacher sollten immer wieder aufeinander prallen während des sechsmonatigen Produktionsprozesses. Doch "Rimini Protokoll" interessierte der Überlebenskampf der Müllsammler, sie folgten ihren Routen, lernten die Geschäfte auf den wilden Müllhalden kennen.
Videos von diesen Begegnungen vermengen sich auf der Bühne mit kurdischen Steinwurfspielen und Darbietungen des türkischen Schattentheaters "Karagöz" zu einem bunten Kaleidoskop der Türkei, einem Land zerrissen zwischen Moderne und Rückständigkeit.
Der Boden, der den Müllsammlern "Gold" verspricht, kann ständig ins Wanken geraten. Ein drohendes Erdbeben zieht sich wie ein roter Faden durch die Inszenierung. Aus den Lautsprechern rattern die Töne der Seismographen, die Bühne wird zur Erdbebenwarte…
"Ich verstehe gar nicht, wie man hier leben kann. Es ist ziemlich klar, dass es hier in den nächsten zehn Jahren ein ganz massives Beben geben wird. Ich fand das ganz interessant zu sehen, wie sich Leute mit diesem 'Todesurteil', mal überspitzt gesagt, mit ihrem Leben arrangieren. Dass man trotzdem bleibt…"
Nach eineinhalb Stunden verstummen die Seismographen leise. Es folgt anhaltender Applaus. Strahlende Gesichter bei den Zuschauern:
"So etwas haben wir noch nie zuvor gesehen. Die Inszenierung berührt mich, ich fand sie traurig und lustig zugleich. Ich habe die Müllsammler nie wirklich wahrgenommen, jetzt kann ich sie besser verstehen."
"Die Inszenierung war sehr vielschichtig. Man beginnt nachzudenken, was man selbst besitzt und welche Position man als Zuschauer hat."
Draußen in der kleinen Gasse vor dem Theater steckt sich Bayram Renklihavar zufrieden eine Zigarette an. Vor einiger Zeit hat er in Istanbul die Gewerkschaft der Müllsammler mitgegründet.
"Wir arbeiten oft nachts, aber niemand schützt uns. Wir wollen nicht, dass die Leute von uns denken, wir seien Diebe oder Kriminelle. Aber das denken sie von uns! Wenigstens könnten sie uns ein gutes Gelingen oder einen guten Tag wünschen!"
Mehr Informationen auf der Homepage der Gruppe Rimini Protokoll