Der Mythos von Tel Aviv und seine Kritiker
Tel Aviv, die Weiße Stadt: Die Zeitschrift der Stiftung Bauhaus Dessau widmet sich dem architektonischen Mythos der israelischen Mittelmeermetropole. Herausgeber Philipp Oswalt spricht über Legendenbildungen und stellt die Ausstellung "Bauhaus und Kibbuz" in Dessau vor.
Susanne Führer: Heute mit Philipp Oswalt, dem Herausgeber der Zeitschrift "Bauhaus", das ist die Zeitschrift der Stiftung Bauhaus Dessau. Guten Tag, Herr Oswalt!
Philipp Oswalt: Guten Morgen!
Führer: Die zweite Nummer Ihrer noch jungen Zeitschrift, es ist nämlich erst die zweite Nummer, die ist fast in Gänze Israel gewidmet. Warum?
Oswalt: Na ja, zum einen, weil wir da momentan einen Schwerpunkt haben, nicht nur mit unserer Kibbuz-Ausstellung, auch mit weiteren Ausstellungen, die wir in Vorbereitung haben. Es ist aber auch so, dass einfach Israel und Bauhaus für viele sehr eng zusammenhängt. Ich werde auch immer darauf angesprochen: Habt ihr Kontakte nach Israel? Das hängt auch natürlich mit dem Mythos von Tel Aviv zusammen.
Führer: Genau, und diesem Mythos widmen Sie auch einen großen Teil des Heftes. Sie schreiben, Herr Oswalt, im Editorial: "Keine Stadt außerhalb Deutschlands ist so sehr mit dem Namen Bauhaus verbunden wie Tel Aviv" - und bringen dann aber einen Artikel des israelischen Architekten Scharon Rotbart, und der meint, dass die Architektur dieser sogenannten Weißen Stadt Tel Aviv kaum etwas mit dem Bauhaus zu tun habe.
Oswalt: Ja, so ist es. Und das ist ja das Verblüffende: Wie kommt es dazu, dass Israelis etwas als von deutscher Herkunft "branden" im positiven Sinne, das ist ja wirklich verblüffend. Also wie eine heimliche Sehnsucht nach dem Guten im Deutschen neben all dem anderen. Es ist so, dass natürlich es viele moderne Architektur in Tel Aviv gibt, das kennen die Leute, die schon dort waren, oder auch andere aus Bildern, aber es ist tatsächlich so, es ist eher mit Corbusier oder anderen Vertretern der europäischen Moderne verknüpft als mit dem Bauhaus.
Führer: Ich habe noch mal, wie das der halbgebildete Mensch heute tut, in Wikipedia nachgeguckt, und da steht: "Als weiße Stadt wird eine Sammlung von etwa 4.000 Gebäuden in Tel Aviv bezeichnet, die überwiegend im Bauhaus-Stil errichtet wurden" - von deutschstämmigen Juden und so weiter - "Seit 2003 gehört die Weiße Stadt von Tel Aviv zum UNESCO-Welterbe." Also hat die UNESCO sich vertan?
Oswalt: Nein, das ist halt diese komische Entwicklung, die dieses Branding als Stadt der Moderne genommen hat. Natürlich gibt es die moderne Architektur, und das ist schon auch bemerkenswert, aber sie ist halt viel eher von Corbusier geprägt, diese Häuser auf den Säulen, die praktisch schweben, wo der Garten unten durch geht und solche Dinge, das hat mit dem Bauhaus herzlich wenig zu tun. Was aber auch - und das ist, was Scharon Rotbart auch darlegt -, es ist natürlich auch ein Branding, was auch andere Aspekte der Stadt total ausblendet. Und da wird es halt wirklich problematisch, dieser Mythos.
Führer: Bevor wir zum Ausblenden kommen, bleiben wir doch mal beim Einblenden. Also er schreibt ja, dieses Label - oder Branding nennen Sie das - der Weißen Stadt hat auch die Identitätsbildung der Bewohner Tel Avivs befördert, die sich offensichtlich - in meinem platten Worten - für etwas Besseres halten und die "kultivieren eine hedonistische und eskapistische Haltung" - ich zitiere - "zur israelischen Realität." Das heißt, sie halten die Illusion aufrecht, sie würden nicht im Nahen Osten leben, das sind nur die anderen, sondern die leben sozusagen auf einen europäischen Eiland der Zivilisation?
Oswalt: Ja, es ist natürlich schon so. Also Scharon Rotbart ist schon etwas polemisch, das kann man nicht bestreiten. Tel Aviv ist natürlich die säkulare Stadt in Israel, Jerusalem ist natürlich sehr stark religiös geprägt und auch andere Orte. Und insofern ist es schon auch sozusagen die Stadt des Feierns, auch da, wo sich die Jugendlichen treffen. Das ist schon wichtig, und es ist für viele, die, sagen wir, liberaler eingestellt sind, ein Muss, in Tel Aviv zu sein, weil es andernorts doch etwas rigider zugeht. Aber mit diesem Mythos ist es halt schon ein Problem auch, dass es ja so europäisch "gebrandet" ist. Es ist nicht nur eine Frage, was ist mit den Arabern eigentlich, sondern es ist auch eine innerisraelische Frage, weil es gibt nicht nur das europäische Judentum. Gerade nach 1945 sind auch viele sephardische Juden aus afrikanischen Länden und aus asiatischen Ländern nach Israel gekommen, und die haben in diesem Mythos von der Bauhausstadt nichts verloren, das ist auch ein Problem.
Führer: Genau, und da sind wir bei dem Ausblenden eben weiter Teile der Geschichte Tel Avivs wie auch der Gegenwart. Denn Rotbart schreibt eben nicht nur, dass Tel Aviv weder eine Weiße noch eine Bauhausstadt ist, sondern dass Tel Aviv in einem Krieg liege mit Jaffa - also das ist sozusagen die Altstadt, die alte arabische Stadt -, ursprünglich war Tel Aviv ja mal ein Vorort Jaffas, heute hat sich das komplett umgedreht. Also er spricht von Krieg, Auslöschung, Zerstörung und Unterdrückung.
Oswalt: Ja, und er nimmt starke Worte in den Mund, aber da ist ein doch wahrer und auch substantieller Kern. Es gibt diesen Mythos der Bauhausstadt aus den Dünen. Da gibt es auch populäre Cartoons aus den 50er-Jahren, es gibt Songs zu Tel Aviv, und das ist sozusagen dieses Selbstverständnis, sozusagen die neue Stadt aus den Dünen am Meer.
Führer: Genau, da stehen so ein paar vereinzelte Würfel auf diesen sonst ganz leeren Dünen, kein Mensch da.
Oswalt: Ja, und es ist natürlich diese - wir wissen es ja auch aus der Kritik der Moderne - diese kolonialistische sozusagen Tabula Rasa. Man fängt neu an, das ist sozusagen die Fiktion, die da besteht. Realiter waren da natürlich Menschen, haben dort Menschen gelebt. Es gab die Stadt Jaffa, es gab die Vororte von Jaffa, es gab eine Bevölkerung, und Tel Aviv war erst mal ein Vorort von Jaffa, und dann ist natürlich sukzessive in den Entwicklungen im 20. Jahrhundert die arabische Bevölkerung auch vertrieben worden. Wir haben im Heft abgebildet - es war sehr erschütternd, als ich letztes Jahr in Israel war und mich mit Scharon Rotbart getroffen habe. Er wohnt auch in so einem Stadtviertel, was etwas gemischter ist, und um die Ecke ist dann ein Friedhof, ein muslimischer Friedhof, der ist wirklich devastiert, der ist verwüstet. Also da sieht man das, da wird es anschaulich. Wir haben ein Foto von diesem Friedhof in dem Heft. Und das ist halt etwas, was total ausgeblendet wird. Es geht lang zurück, Napoleon ist der erste Europäer, der ordentlich mordet und die arabische Bevölkerung malträtiert. Da gibt es leider eine sehr lange Tradition.
Führer: Deutschlandradio Kultur, ich spreche mit Philipp Oswalt, dem Herausgeber der Zeitschrift "Bauhaus". Herr Oswalt, Sie haben vorhin kurz erwähnt, es läuft gerade eine Ausstellung bei Ihnen in Dessau, "Bauhaus und Kibbuz" heißt die, und diesem Thema ist natürlich jetzt in dem Heft auch ein langes Gespräch gewidmet, was Regina Bittner und Werner Möller vom Bauhaus in Dessau mit den beiden israelischen Kuratoren der Ausstellung geführt haben, über Skype übrigens. Kurze Frage: Setzen Sie das öfter in Ihrer Arbeit ein?
Oswalt: Nein, ich glaube, das ist ja einfach genau so, wie man telefoniert und mailt, gehört das zu den Arbeitsmitteln dazu. Ich mache das selber nicht so oft, aber ich finde es angenehm, auch das Gegenüber zu sehen, wenn man auch ein bisschen intensiveren Kontakt haben will. Aber wir haben uns auch getroffen. So ist es nicht, wir haben jetzt nicht alles digital gemacht, wir haben uns mehrfach getroffen, hier und dort.
Führer: Okay, die Architekten dann doch auch in menschlichem Kontakt. Also kommen wir zur Beziehung von Bauhaus und Kibbuz. Da gibt es ja zum einen die architektonische Beziehung - also die Kibbuz-Bewegung ist ja etwas älter als das Bauhaus. Wie hat denn das Bauhaus die Architektur der Kibbuzim beeinflusst?
Oswalt: Das ist relativ intensiv. Überhaupt ist die Kibbuz-Bewegung ja etwas, was einem europäischen Denken entsprungen ist. Es ist halt die erste Phase der Migration, an sich ist ja das ganze sozusagen vorstaatliche Israel bis 1948 ist im wesentlichen durch europäische Migranten geprägt, und zwar aus allen möglichen Ländern. Das beginnt in Russland durch die Pogrome dort, dann Polen, Deutschland und so weiter. Die ganze zionistische Idee ist eine europäische, aber auch die sozialen Utopien, die damit einhergehen. Und da gibt es eine enge Verwandtschaft der Utopien der Kibbuz-Bewegung mit der des Bauhauses, eigentlich linksgerichtet mit dem Sozialismus, mit der Idee eines neuen Menschen, einer neuen Gesellschaft, dem Verzicht auf Privateigentum - und das ist etwas, wo es eine sehr starke konzeptuelle Verwandtschaft gibt. Insofern kann man eigentlich sagen, dass die Kibbuz-Bewegung diejenige ist, die ein Kernstück der europäischen Moderne, der Architektur realisiert hat, wie sonst nirgendwo. Und deswegen findet sich da auch so viel Bauhaus wieder.
Führer: Weil die Ideengeschichte auch sehr ähnlich ist, also der Traum des kollektiven Arbeitens, des kollektiven Werkes. Interessant fand ich ja am Ende des Gespräches, dass da gesagt wird, dass heute der Grundgedanke der Solidarität und Gemeinschaftlichkeit in Israel eine Renaissance erfährt. Ich hatte den Eindruck, das Interview ist so entstanden im Sommer vielleicht, als die Hochzeit dieser Sozialproteste, -demonstrationen war -, und es gebe ein erneutes Interesse an den Traditionen des Kibbuz als einer direkten Demokratiebewegung. Also der Kibbuz, den ja doch heute wenige Menschen in Israel leben, erfährt auf diesem Wege dann doch wieder eine Renaissance bei der Jugend.
Oswalt: Ja, die Kibbuz-Bewegung ist durch viele Höhen und Tiefen gegangen, und es gibt jetzt schon auch sehr starke Veränderungen in Hinsicht auf Privatisierung und dergleichen. Das setzt eigentlich auch in den 70er-Jahren ein mit der konservativen Regierungsmehrheit unter Begin, die kibbuz-feindlich ist. Das muss man ganz klar sagen, das sind auch wieder diese innerisraelischen Konflikte. Und es hat in Israel in den letzten Jahrzehnten, so wie wir es ja auch aus Westeuropa und Nordamerika kennen, eine sehr stark neoliberal ausgerichtete Politik gegeben, und auch eine natürlich sehr nationalistische und auch sehr stark im Konflikt mit den Palästinensern orientierte Politik. Und das hat auch innerhalb der israelischen Gesellschaft zu starken Konflikten geführt, zur Vernachlässigung eben halt von sozialen Fragen, und es gibt verschärfte soziale Probleme, es gibt zum Beispiel in Tel Aviv eine große Wohnraumknappheit, sehr hohe Mieten, und dieser soziale Druck ist so gestiegen, dass der Protest des israelischen Sommers nach dem Arabischen Frühling ja sich sehr stark bemerkbar gemacht hat. Jetzt soll man das nicht missverstehen, es ist nicht die wörtliche Aufnahme der Kibbuz-Bewegung.
Führer: Das war Philipp Oswalt, er ist Herausgeber der Zeitschrift Bauhaus, und die Ausstellung "Bauhaus und Kibbuz" ist noch bis zum 9. April übrigens im Bauhaus Dessau zu sehen, und in Dessau hören Sie Deutschlandradio Kultur auf der UKW-Frequenz 97,4. Und ich danke Ihnen für Ihren Besuch hier, Herr Oswalt!
Oswalt: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Philipp Oswalt: Guten Morgen!
Führer: Die zweite Nummer Ihrer noch jungen Zeitschrift, es ist nämlich erst die zweite Nummer, die ist fast in Gänze Israel gewidmet. Warum?
Oswalt: Na ja, zum einen, weil wir da momentan einen Schwerpunkt haben, nicht nur mit unserer Kibbuz-Ausstellung, auch mit weiteren Ausstellungen, die wir in Vorbereitung haben. Es ist aber auch so, dass einfach Israel und Bauhaus für viele sehr eng zusammenhängt. Ich werde auch immer darauf angesprochen: Habt ihr Kontakte nach Israel? Das hängt auch natürlich mit dem Mythos von Tel Aviv zusammen.
Führer: Genau, und diesem Mythos widmen Sie auch einen großen Teil des Heftes. Sie schreiben, Herr Oswalt, im Editorial: "Keine Stadt außerhalb Deutschlands ist so sehr mit dem Namen Bauhaus verbunden wie Tel Aviv" - und bringen dann aber einen Artikel des israelischen Architekten Scharon Rotbart, und der meint, dass die Architektur dieser sogenannten Weißen Stadt Tel Aviv kaum etwas mit dem Bauhaus zu tun habe.
Oswalt: Ja, so ist es. Und das ist ja das Verblüffende: Wie kommt es dazu, dass Israelis etwas als von deutscher Herkunft "branden" im positiven Sinne, das ist ja wirklich verblüffend. Also wie eine heimliche Sehnsucht nach dem Guten im Deutschen neben all dem anderen. Es ist so, dass natürlich es viele moderne Architektur in Tel Aviv gibt, das kennen die Leute, die schon dort waren, oder auch andere aus Bildern, aber es ist tatsächlich so, es ist eher mit Corbusier oder anderen Vertretern der europäischen Moderne verknüpft als mit dem Bauhaus.
Führer: Ich habe noch mal, wie das der halbgebildete Mensch heute tut, in Wikipedia nachgeguckt, und da steht: "Als weiße Stadt wird eine Sammlung von etwa 4.000 Gebäuden in Tel Aviv bezeichnet, die überwiegend im Bauhaus-Stil errichtet wurden" - von deutschstämmigen Juden und so weiter - "Seit 2003 gehört die Weiße Stadt von Tel Aviv zum UNESCO-Welterbe." Also hat die UNESCO sich vertan?
Oswalt: Nein, das ist halt diese komische Entwicklung, die dieses Branding als Stadt der Moderne genommen hat. Natürlich gibt es die moderne Architektur, und das ist schon auch bemerkenswert, aber sie ist halt viel eher von Corbusier geprägt, diese Häuser auf den Säulen, die praktisch schweben, wo der Garten unten durch geht und solche Dinge, das hat mit dem Bauhaus herzlich wenig zu tun. Was aber auch - und das ist, was Scharon Rotbart auch darlegt -, es ist natürlich auch ein Branding, was auch andere Aspekte der Stadt total ausblendet. Und da wird es halt wirklich problematisch, dieser Mythos.
Führer: Bevor wir zum Ausblenden kommen, bleiben wir doch mal beim Einblenden. Also er schreibt ja, dieses Label - oder Branding nennen Sie das - der Weißen Stadt hat auch die Identitätsbildung der Bewohner Tel Avivs befördert, die sich offensichtlich - in meinem platten Worten - für etwas Besseres halten und die "kultivieren eine hedonistische und eskapistische Haltung" - ich zitiere - "zur israelischen Realität." Das heißt, sie halten die Illusion aufrecht, sie würden nicht im Nahen Osten leben, das sind nur die anderen, sondern die leben sozusagen auf einen europäischen Eiland der Zivilisation?
Oswalt: Ja, es ist natürlich schon so. Also Scharon Rotbart ist schon etwas polemisch, das kann man nicht bestreiten. Tel Aviv ist natürlich die säkulare Stadt in Israel, Jerusalem ist natürlich sehr stark religiös geprägt und auch andere Orte. Und insofern ist es schon auch sozusagen die Stadt des Feierns, auch da, wo sich die Jugendlichen treffen. Das ist schon wichtig, und es ist für viele, die, sagen wir, liberaler eingestellt sind, ein Muss, in Tel Aviv zu sein, weil es andernorts doch etwas rigider zugeht. Aber mit diesem Mythos ist es halt schon ein Problem auch, dass es ja so europäisch "gebrandet" ist. Es ist nicht nur eine Frage, was ist mit den Arabern eigentlich, sondern es ist auch eine innerisraelische Frage, weil es gibt nicht nur das europäische Judentum. Gerade nach 1945 sind auch viele sephardische Juden aus afrikanischen Länden und aus asiatischen Ländern nach Israel gekommen, und die haben in diesem Mythos von der Bauhausstadt nichts verloren, das ist auch ein Problem.
Führer: Genau, und da sind wir bei dem Ausblenden eben weiter Teile der Geschichte Tel Avivs wie auch der Gegenwart. Denn Rotbart schreibt eben nicht nur, dass Tel Aviv weder eine Weiße noch eine Bauhausstadt ist, sondern dass Tel Aviv in einem Krieg liege mit Jaffa - also das ist sozusagen die Altstadt, die alte arabische Stadt -, ursprünglich war Tel Aviv ja mal ein Vorort Jaffas, heute hat sich das komplett umgedreht. Also er spricht von Krieg, Auslöschung, Zerstörung und Unterdrückung.
Oswalt: Ja, und er nimmt starke Worte in den Mund, aber da ist ein doch wahrer und auch substantieller Kern. Es gibt diesen Mythos der Bauhausstadt aus den Dünen. Da gibt es auch populäre Cartoons aus den 50er-Jahren, es gibt Songs zu Tel Aviv, und das ist sozusagen dieses Selbstverständnis, sozusagen die neue Stadt aus den Dünen am Meer.
Führer: Genau, da stehen so ein paar vereinzelte Würfel auf diesen sonst ganz leeren Dünen, kein Mensch da.
Oswalt: Ja, und es ist natürlich diese - wir wissen es ja auch aus der Kritik der Moderne - diese kolonialistische sozusagen Tabula Rasa. Man fängt neu an, das ist sozusagen die Fiktion, die da besteht. Realiter waren da natürlich Menschen, haben dort Menschen gelebt. Es gab die Stadt Jaffa, es gab die Vororte von Jaffa, es gab eine Bevölkerung, und Tel Aviv war erst mal ein Vorort von Jaffa, und dann ist natürlich sukzessive in den Entwicklungen im 20. Jahrhundert die arabische Bevölkerung auch vertrieben worden. Wir haben im Heft abgebildet - es war sehr erschütternd, als ich letztes Jahr in Israel war und mich mit Scharon Rotbart getroffen habe. Er wohnt auch in so einem Stadtviertel, was etwas gemischter ist, und um die Ecke ist dann ein Friedhof, ein muslimischer Friedhof, der ist wirklich devastiert, der ist verwüstet. Also da sieht man das, da wird es anschaulich. Wir haben ein Foto von diesem Friedhof in dem Heft. Und das ist halt etwas, was total ausgeblendet wird. Es geht lang zurück, Napoleon ist der erste Europäer, der ordentlich mordet und die arabische Bevölkerung malträtiert. Da gibt es leider eine sehr lange Tradition.
Führer: Deutschlandradio Kultur, ich spreche mit Philipp Oswalt, dem Herausgeber der Zeitschrift "Bauhaus". Herr Oswalt, Sie haben vorhin kurz erwähnt, es läuft gerade eine Ausstellung bei Ihnen in Dessau, "Bauhaus und Kibbuz" heißt die, und diesem Thema ist natürlich jetzt in dem Heft auch ein langes Gespräch gewidmet, was Regina Bittner und Werner Möller vom Bauhaus in Dessau mit den beiden israelischen Kuratoren der Ausstellung geführt haben, über Skype übrigens. Kurze Frage: Setzen Sie das öfter in Ihrer Arbeit ein?
Oswalt: Nein, ich glaube, das ist ja einfach genau so, wie man telefoniert und mailt, gehört das zu den Arbeitsmitteln dazu. Ich mache das selber nicht so oft, aber ich finde es angenehm, auch das Gegenüber zu sehen, wenn man auch ein bisschen intensiveren Kontakt haben will. Aber wir haben uns auch getroffen. So ist es nicht, wir haben jetzt nicht alles digital gemacht, wir haben uns mehrfach getroffen, hier und dort.
Führer: Okay, die Architekten dann doch auch in menschlichem Kontakt. Also kommen wir zur Beziehung von Bauhaus und Kibbuz. Da gibt es ja zum einen die architektonische Beziehung - also die Kibbuz-Bewegung ist ja etwas älter als das Bauhaus. Wie hat denn das Bauhaus die Architektur der Kibbuzim beeinflusst?
Oswalt: Das ist relativ intensiv. Überhaupt ist die Kibbuz-Bewegung ja etwas, was einem europäischen Denken entsprungen ist. Es ist halt die erste Phase der Migration, an sich ist ja das ganze sozusagen vorstaatliche Israel bis 1948 ist im wesentlichen durch europäische Migranten geprägt, und zwar aus allen möglichen Ländern. Das beginnt in Russland durch die Pogrome dort, dann Polen, Deutschland und so weiter. Die ganze zionistische Idee ist eine europäische, aber auch die sozialen Utopien, die damit einhergehen. Und da gibt es eine enge Verwandtschaft der Utopien der Kibbuz-Bewegung mit der des Bauhauses, eigentlich linksgerichtet mit dem Sozialismus, mit der Idee eines neuen Menschen, einer neuen Gesellschaft, dem Verzicht auf Privateigentum - und das ist etwas, wo es eine sehr starke konzeptuelle Verwandtschaft gibt. Insofern kann man eigentlich sagen, dass die Kibbuz-Bewegung diejenige ist, die ein Kernstück der europäischen Moderne, der Architektur realisiert hat, wie sonst nirgendwo. Und deswegen findet sich da auch so viel Bauhaus wieder.
Führer: Weil die Ideengeschichte auch sehr ähnlich ist, also der Traum des kollektiven Arbeitens, des kollektiven Werkes. Interessant fand ich ja am Ende des Gespräches, dass da gesagt wird, dass heute der Grundgedanke der Solidarität und Gemeinschaftlichkeit in Israel eine Renaissance erfährt. Ich hatte den Eindruck, das Interview ist so entstanden im Sommer vielleicht, als die Hochzeit dieser Sozialproteste, -demonstrationen war -, und es gebe ein erneutes Interesse an den Traditionen des Kibbuz als einer direkten Demokratiebewegung. Also der Kibbuz, den ja doch heute wenige Menschen in Israel leben, erfährt auf diesem Wege dann doch wieder eine Renaissance bei der Jugend.
Oswalt: Ja, die Kibbuz-Bewegung ist durch viele Höhen und Tiefen gegangen, und es gibt jetzt schon auch sehr starke Veränderungen in Hinsicht auf Privatisierung und dergleichen. Das setzt eigentlich auch in den 70er-Jahren ein mit der konservativen Regierungsmehrheit unter Begin, die kibbuz-feindlich ist. Das muss man ganz klar sagen, das sind auch wieder diese innerisraelischen Konflikte. Und es hat in Israel in den letzten Jahrzehnten, so wie wir es ja auch aus Westeuropa und Nordamerika kennen, eine sehr stark neoliberal ausgerichtete Politik gegeben, und auch eine natürlich sehr nationalistische und auch sehr stark im Konflikt mit den Palästinensern orientierte Politik. Und das hat auch innerhalb der israelischen Gesellschaft zu starken Konflikten geführt, zur Vernachlässigung eben halt von sozialen Fragen, und es gibt verschärfte soziale Probleme, es gibt zum Beispiel in Tel Aviv eine große Wohnraumknappheit, sehr hohe Mieten, und dieser soziale Druck ist so gestiegen, dass der Protest des israelischen Sommers nach dem Arabischen Frühling ja sich sehr stark bemerkbar gemacht hat. Jetzt soll man das nicht missverstehen, es ist nicht die wörtliche Aufnahme der Kibbuz-Bewegung.
Führer: Das war Philipp Oswalt, er ist Herausgeber der Zeitschrift Bauhaus, und die Ausstellung "Bauhaus und Kibbuz" ist noch bis zum 9. April übrigens im Bauhaus Dessau zu sehen, und in Dessau hören Sie Deutschlandradio Kultur auf der UKW-Frequenz 97,4. Und ich danke Ihnen für Ihren Besuch hier, Herr Oswalt!
Oswalt: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.