Der Natur abgeschaut

Von Carolin Pirich |
Ein Faden aus Spinnenseide ist dünner als ein Haar, elastischer als Gummi, reißfester als Stahl und Nylon. Ein nur daumendickes gesponnenes Seil aus Spinnenseide könnte ein Flugzeug tragen ohne abzureißen. An der Technischen Universität in München ist es gelungen, dieses leistungsstarke Naturprodukt künstlich herzustellen.
Eine schmutzig gelbe Flüssigkeit dreht sich langsam in einem Glasmixer. Thomas Scheibel kontrolliert Temperatur, PH-Wert, Säuregehalt und Rührgeschwindigkeit. Es ist ein Nährmedium für Bakterien, die Scheibel und seine Mitarbeiter gentechnisch so verändert haben, dass sie wie Spinnen Seidenproteine herstellen.

"Wir leisten Übersetzertätigkeit, dass die Bakterien die Sprache der Spinnen verstehen."

Scheibel fügt dem Nährmedium bestimmte Chemikalien hinzu. Daraufhin beginnen die Bakterien mit der Produktion von Seidenproteinen. Nach etwa drei Stunden kann geerntet werden.

"Wir holen dann alle Zellen raus, die werden dann mechanisch aufgeschlossen, die Moleküle kommen raus und dann muss man nur noch nur noch die Seide von den restlichen Molekülen abtrennen. Das sieht aus wie Eiklar. Wir gefriertrocknen das Ganze, das sieht dann aus wie Pulver, Zucker. Mehl."

In dieser Form können die Seidenmoleküle auf unbestimmte Zeit gelagert und später zu Folien oder Vliesstoffen verarbeitet werden.

Um einen hauchdünnen Seidenfaden zu gewinnen, haben die Forscher eine Art Roboter-Spinne entwickelt - allerdings mit sechs Füßen anstatt acht.

"Das ist jetzt wirklich Bionik wie sie im Buche steht. Das ist eine technische Umsetzung des Prinzips, wie es die Spinne auch macht. Die Spinne zieht die Seidenmoleküle mit den Hinterbeinen aus dem Leib und macht den Faden. Wir haben das hier mit einem technischen Prinzip, mit elektrischen Motoren, mit Stahl und Eisen und Kunststoffen umgesetzt und empfinden das Prinzip nach."

Ein Prinzip aus der Natur verstehen und umsetzen, das ist die Grundlage der Bionik. Dieser interdisziplinären Wissenschaft zwischen Biologie und Technik sind zum Beispiel auch der Klettverschluss oder das Flugzeug zu verdanken.

Wegen seiner hohen Belastbarkeit ist Spinnenseide ein sehr begehrter Rohstoff. Schon vor Tausenden von Jahren benutzten Fischer in Papua-Neuguinea die wasser- und reißfesten Spinnennetze zum Fischfang. Spinnenseide ist aber nicht nur mechanisch außerordentlich stabil. Sie löst beim Menschen keine Allergien aus und hemmt Krankheitserreger. Deshalb deckten schon die Griechen in der Antike Wunden mit Spinnenseide ab.

"Aber es ist der Menschheit jahrhundertelang verwehrt geblieben, das Material im großen Stil herzustellen. Spinnen sind kannibalistisch. Im Zeitalter der Biotechnologie ist das also das neue Tor, das aufgestoßen wurde, man versucht jetzt, Seide ohne Spinnen herzustellen."

Natürliche Seidenproteine könnten zum Beispiel schon bald in Crèmes oder Shampoos für Glanzeffekte ohne Chemie sorgen. Auch atmungsaktive Textilien oder Schutzkleidung sollen aus Spinnenseide hergestellt werden. Noch gibt es aber keine Maschinen, die diese hauchdünnen Fäden verarbeiten können.

Den wichtigsten Anwendungsbereich für die Spinnenseide allerdings sieht Scheibel wegen ihrer antimikrobiellen Wirkung und hohen Belastbarkeit in der Medizin.

"Damit kann man zum Beispiel Implantate neu beschichten, Wirkstoffe im Körper implantieren. Krebsheilung ist ein großes Thema, aber auch Implantatverbesserung, künstlicher Sehnenersatz zum Beispiel beim Kreuzband, der Achillesferse, dort wo man besonders belastbares Material benötigt."

Ähnliche positive Eigenschaften weist der Muschel-Byssus auf, ein Faden, mit dem sich die Muschel am Meeresgrund festhält. Anja Hagenau führt im Münchner Fiberlab Versuche durch, diesen Faden künstlich zu erzeugen.

"Das Material an sich ist goldglänzend und hat ganz bestimmte Eigenschaften. Es ist zum Einen sehr zäh, sehr reißfest, aber auf der anderen Seite sehr flexibel. Das sind Sachen, die sehr faszinierend sind, denn ein einziges Material, ein Faden kombiniert sehr unterschiedliche mechanische Eigenschaften: flexibel und andererseits sehr steif."

Die Muschel-Kollagene sind den menschlichen Eiweißen in Zähnen, Haut, Knochen und Knorpel sehr viel ähnlicher als die Proteine der Spinnenseide. Daher könnten sie vom Menschen besser vertragen werden.

"Größtenteils könnte man es sich in der Medizintechnik vorstellen als Oberflächenbeschichtung von Transplantaten oder für künstliche Gefäße."

Diese Kollagene können allerdings nicht von Bakterien produziert werden wie die Spinnenseide. Anja Hagenau ist es bereits gelungen, Hefen die genetische Information einzubauen, Muschel-Kollagene zu erzeugen. Aber ob es klappen wird, das weiß sie noch nicht.

"Entweder man findet den Stein der Weisen oder man hat für Nichts gearbeitet, weil man sich das zwar schön ausgedacht hat, aber es funktioniert einfach nicht. Bei der Spinnenseide sind wir soweit, dass es funktionieren kann. Beim Muschelkollagen stehen wir noch ganz am Anfang."