Der neue Geist von Tunesien

Von Jenni Roth |
Am 14. Januar stürzte das tunesische Volk seinen Diktator Ben Ali nach Jahrzehnten an der Macht. An den Protesten beteiligt waren auch die Kunstschaffenden des Landes. Jetzt suchen sie nach einer neuen Sprache.
Ein Volk stürzt seinen Diktator. Mittendrin: Tunesiens Künstler und Intellektuelle. Der Rapper "El General" etwa hat der Revolte mit seinem Song "Rais Lebled" einen Sound gegeben – der Fotograf Hamideddine Bouali ein Gesicht: Bouali hat das eine Bild gemacht, das jeder Fotograf machen will: Das Bild, das als Ikone in die Geschichte eingehen wird.

"Das war am 19. Februar, eine Demonstration für ein säkulares Tunesien. Ich habe gemerkt, gleich passiert etwas. Da war diese junge Frau, schön, selbstbewusst. Sie stand nur einen Meter von mir entfernt, furchtlos und wütend, sie riss ihre Hände mit unserer roten Flagge in die Luft, auf ihrem T-Shirt stand rot auf weiß: 'Tunesien gehört mir, gehört dir, gehört allen': egal ob religiös, ob jemand Schleier trägt oder Minirock."

Bouali sitzt mit einem Espresso in einem Café in der Altstadt von Tunis. Er ist um die 50, wirkt schmächtig mit seinem schütteren Haar und dem Schnurrbart. Früher, da sei er im Land herumgereist, habe Landschaften fotografiert. Von Reportagefotografie hatte er keine Ahnung. Die Revolution habe ihm Angst gemacht, sagt Bouali. Trotzdem ist er hingegangen: mit seiner Lumix und einer Maske – gegen Tränengas.

"Ich habe die Bilder als Fotograf gemacht und nicht als Tunesier. Sonst wären zu viele Emotionen dabei gewesen. Ein Chirurg kann ja auch nicht operieren, wenn Gefühle im Spiel sind."

Bouali kuratiert Ausstellungen, unterrichtet und hat den einzigen Fotoclub von Tunis gegründet. Vor der Revolution war er unbekannt. Jetzt stellt er in London aus und Paris, bald auch in Deutschland. In Tunis zeigen mehrere Ausstellungen gleichzeitig seine Bilder. Zum Beispiel das Kulturzentrum Mad'Art in Karthago, eine halbe Autostunde von Tunis entfernt.

Einst eine der mächtigsten Städte der Antike, ist Karthago heute ein Villenviertel, die Straßen sind gesäumt von rot blühenden Bougainvilleen. Hier, im Mad'Art, hat Raja Ben Ammar, die bekannteste Schauspielerin des Landes, ihr Theater. Auch ihre Arbeit hat sich verändert.

"Jetzt dreht sich alles um den Tanz, wichtig ist der Körper. Gerade arbeiten wir an Strawinskis 'Sacre de Printemps': Das Stück ist immer in schwierigen Augenblicken der Geschichte, zumindest der neueren Geschichte, aufgeführt worden. Es geht um Chaos, um rhythmisches Chaos. Da ist eine große Energie, etwas explodiert. Strawinski erzählt vom Erwachen aller Lebewesen. Es ist nicht sanft, aber auch nicht blutig – und das gleicht unserer Revolution."

Früher hatte Ben Ammar ihr Theater in Tunis. Doch der Ben-Ali-Clan riss es ab und setzte an die Stelle einen sterilen Supermarktbau. Es dauerte 15 Jahre, bis der Umzug nach Karthago vollzogen war – 15 Jahre ohne nennenswertes Gegenwartstheater im Land.

"Man muss die Notwendigkeit von Theater gerade jetzt verstehen. Ich mache radikales Gegenwartstheater – und das hat Tunesien nötig: Wir haben nicht einmal eine Kunst- oder Tanzakademie. Die Kunst an sich muss wieder zählen, in ihrer ganzen Tiefe, nicht nur als Nutzwert."

Ihr neues Stück ist eine Huldigung an die Revolte und heißt "Facebook". Dabei mochte Ben Ammar das soziale Netzwerk gar nicht – bis ihre Schwester ihr kleine Filme von Medienkünstlern zeigte, Tunesier, die auf ihre Art Widerstand leisteten. Jetzt nennt sie Facebook ein "geniales Paralleluniversum".

Auch Faten Rouissi war schon vor der Revolte aktiv. Doch die Zensoren ließen die bildende Künstlerin, die zur Ironie in der Kunst promoviert hat, in Ruhe. "Diese Analphabeten haben meine Kunst wohl nicht verstanden", sagt sie.

Ihre Antwort auf die Revolution liegt auf einer ausgedörrten Brache in Karthago. Rouissi trägt rote Lederjacke, eine große Sonnenbrille und zeigt auf einen Haufen ausgebrannter Autowracks.

"Ich kam immer hier durch das Viertel und entdeckte die Wracks. Ich sah darin sofort Skulpturen. Also rief ich über Facebook Künstler vom Performer bis zum Sprayer auf, herzukommen und mitzumachen."

Unter den ausgebrannten Wagen sind auch Porsche und Ferrari. Sie gehörten einem Schwiegersohn Ben Alis, der die exklusive Importlizenz hatte und an jedem Wagen verdiente.

Während der Aufstände lagen die Autos im nahegelegenen Hafen. Wütende Jugendliche brachten sie auf das Grundstück und zündeten sie an. Jetzt stehen die revolutionären Graffitis und Gedichte für ein neues Tunesien.

"Früher waren wir isoliert, jetzt schaffen wir öffentliche Kunst über Genre-Grenzen hinweg. Kunst darf nicht in Ateliers isoliert werden, sie muss nach draußen. Wer das nicht tut, hat nichts verstanden. Das ist doch der neue Geist von Tunesien."


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