"Etwas seichte Selbstfindungspopulärliteratur"
Fans wird es freuen, der japanische Erfolgsautor Haruki Murakami hat ein neues Buch geschrieben. "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tasaki" sei ein typischer Murakami, sagt die Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit. Geradlinig und für eine Generation mit den gleichen kulturellen Einflüssen.
Frank Meyer: Ein junger Mann will nichts als sterben. Tsukuru Tasaki, die Hauptfigur im neuen Roman von Haruki Murakami. Er will sterben, weil ihn sein Freundeskreis verstoßen hat. Ein eingeschworener Kreis von fünf Freunden, die von einem Tag auf den anderen nichts mehr von Tsukuru Tasaki wissen wollen. Wie er diesen Einschnitt überlebt und danach weiter macht, davon erzählt der Roman "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tasaki". Über dieses Buch und den Autor sprechen wir mit Irmela Hijiya-Kirschnereit, Sie ist Professorin für Japanologie an der Freien Universität Berlin und eine der Kennerinnen japanischer Kultur in Deutschland. Seien Sie herzlich willkommen!
Irmela Hijiya-Kirschnereit: Danke!
Meyer: Sagen Sie uns doch zuerst, was halten Sie von dem neuen Murakami-Roman?
Hijiya-Kirschnereit: Ja, also – der neue Murakami – wenn man schon so darüber sprechen darf, ist klar, das ist schon eine Marke, und man wird den Murakami wieder ganz so wiedererkennen, wie man ihn auch in Erinnerung hat von seinen letzten Büchern, nämlich als einen Autor, der sehr unterhaltsam erzählen kann, der Geschichten entfaltet, in die man sofort reingezogen wird, und jetzt ist die Frage, wie man damit umgeht. Ob man sagt, für mich ist da nicht genügend Neues drin, oder ob man sagt, ja, toll, jetzt hat er seine Thematik noch mal auf eine neue Weise entfaltet. Kann man beides machen.
Meyer: Damit sagen Sie gleich, die Themen, die ihn bewegen, tauchen offenbar hier wieder auf. Da gibt es ja, also, die Einsamkeit des Menschen, das ist ja so ein Grundthema bei ihm; die Untiefen unseres Bewusstseins, die Subjektivität der Realität und der Zeit – das taucht alles auch im neuen Roman wieder auf?
Hijiya-Kirschnereit: So ist es, und zwar auf eine Weise, die noch ein bisschen geradliniger erzählt wird, als wir das bisher, also zum Beispiel in dem letzten großen, eigentlich dreibändigen Roman kennen, der in Deutschland in zwei Teilen erschienen ist, dem – ja, ich weiß gar nicht, wie spricht man den Titel aus, "1q84" – da war das ja eine sehr verwickelte, verschachtelte Geschichte. Aber hier ist es, wie gesagt, eine etwas konzentriertere Geschichte der Suche auch eines etwas älteren Murakami-Helden, der ist jetzt so in der zweiten Hälfte seiner 30er-Jahre, und der sucht eben nach Problempunkten in seiner Vergangenheit, weil er eben auch durch seine Freundin dann darauf gestoßen wird, dass er nicht weiterleben kann, wenn er nicht diese Dinge aufklärt.
Und diese Suche, die findet im Wesentlichen so im zweiten Teil des Buches statt, und die führt auch bis nach Finnland hin. Und da haben wir den typischen Murakami, aber, wie gesagt, noch ein bisschen geradliniger und insofern auch nachvollziehbarer vielleicht erzählt als in den letzten Romanen.
Meyer: Wir werden morgen eine Kritik zu diesem Roman hier im Programm haben und wollen mit Ihnen auch gerade über den Autor Murakami sprechen, auch über seine Stellung in Japan. Er wird gerade dort immer wieder als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Damit wäre er der dritte japanische Autor, der diesen Nobelpreis bekommt. Was denken Sie denn, ist er Nobel-preiswürdig?
Hijiya-Kirschnereit: Ich muss vielleicht ein bisschen korrigieren. Ich glaube, er wird eher in den USA für den Nobelpreis gehandelt. In Japan würde man sich natürlich auch sehr freuen, und man wartet gespannt und gebannt jedes Jahr, klappt es jetzt oder klappt es jetzt nicht? Aber die Sache, dass ein Autor der eigenen Literatur so hoch gehandelt wird, ist natürlich etwas sehr Erfreuliches, das ist ja ganz klar, in Japan. Aber das Urteil über ihn ist immer gespalten gewesen, das muss man auch sagen, in Japan. Die Kritiker hatten sich in Japan in den letzten Jahren deutlich zurückgehalten, weil man eben auch gedacht hat, gut, wenn jetzt international so viel davon die Rede ist – und er hat ja auch andere große Preise gekriegt, dass er vielleicht die höchste Auszeichnung kriegt, dann wäre es ja schäbig, wenn wir jetzt an ihm rummäkeln würden.
Aber nachdem es jetzt im letzten Herbst noch mal wieder nicht geklappt hat, sind jetzt auch wieder deutlicher kritische Stimmen hörbar geworden. Aber Sie haben mich gefragt, ob ich ihn für Nobel-preiswürdig halte. Ja, also – ich glaube, dass es noch andere Kandidaten gäbe, aber – vielleicht bin ich da Nestbeschmutzerin – als Japanologin würde ich mich natürlich freuen, wenn es einen weiteren japanischen Autor als Nobelpreisträger gäbe, aber ich glaube, das Kaliber, das würde ich ihm jetzt nicht unbedingt unterstellen.
Meyer: Also Sie setzen ihn gar nicht so hoch an, was seine literarische Qualität angeht, und Sie sagen auch, japanische Kritiker haben da ihre Vorbehalte. Woher kommen die denn, was kreidet man ihm an?
Hijiya-Kirschnereit: Ja, das ist komplex. Ich muss nach wie vor sagen, ich halte ihn für einen hervorragenden Erzähler, und ich freue mich darüber und genieße das auch, dass er international so anerkannt ist, aber man kann ja anerkannt sein aus verschiedenen Gründen. Ich glaube erstens, dass die Marktmaschine bei ihm sehr gut funktioniert, dass er von Anfang an auch sehr bewusst diese internationale Karriere sehr klug, geschickt aufgebaut hat. Aber natürlich muss jemand auch so schreiben, dass die Leute das wirklich auch attraktiv genug finden. Aber was kreidet man ihm an? Er ist schwer einzuordnen. Man kann ihn weder voll als U- noch als E-Autor eintüten.
Meyer: Also weder als unterhaltenden Autor noch als ganz ernsten, seriösen.
Hijiya-Kirschnereit: Ja. Also in Japan, die Kritiker würden auch sagen, das ist etwas seichte Selbstfindungspopulärliteratur, schwimmt so auf dieser Konsumlinie, aber wir wissen ja natürlich auch, wenn wir seine Bücher lesen, und die sind ja komplex genug geschrieben, dass er dieses auch immer unterläuft. Er hat ja seine Welt in den Romanen so geschaffen, dass wir uns darin sehr gut wiedererkennen können, egal wo wir leben.
Ob wir in Berlin leben oder in Rio oder in Peking – die Orte, die dort aufgesucht werden, der Lifestyle ist der einer, sagen wir mal, einigermaßen gut situierten Mittelklasse, aber das sind eben auch Lebensgefühle, so ein bisschen melancholisch und das alles. Das kann man alles gut nachvollziehen, und das macht natürlich auch so den Reiz dessen aus, dass man sagt, ja, da finde ich mich auch wieder, auch mit den Problemen, die er anspricht.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über das Phänomen Haruki Murakami. Morgen wird sein neuer Roman bei uns erscheinen, und hier im Studio ist die Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit. Was Sie gerade gesagt haben, dass er in Berlin und in Tokio im Prinzip genauso gelesen werden kann, das, meinen Sie, ist auch eine der Voraussetzungen für seinen Erfolg. Dass auch westliche Tradition und japanische Tradition so geschickt kombiniert sind in seinen Büchern?
Hijiya-Kirschnereit: Ja. Das ist interessant, dass wir immer noch dazu tendieren, überhaupt westliche und japanische Tradition so auseinanderzudividieren. Sagen wir mal, Tradition ist es ja erst mal gar nicht, die angesprochen ist, wenn man so vom Alltagsleben spricht. Also, wenn jemand seine Spaghetti ins Nudelwasser schmeißt und nebenher, was weiß ich, ein Cool-Jazz-Stück hört. Oder in eine Bar geht oder sonst was. Das sind ja alles Dinge, wo wir uns einfach nur jetzt erst mal in unserem Alltag wiederfinden. Wo kommt die Tradition rein?
Die Tradition des Erzählens in Japan selber, muss ich ja jetzt mal als Japanologin sagen, ist schon mindestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts so stark auch von vielen europäischen Erzähltraditionen mitgeprägt, weil die Japaner das alles auch nicht nur aufgenommen haben, sondern als ihr eigenes auch und dann in Japan weiterentwickelt haben, dass ich jetzt gar nicht das so auseinanderdividieren wollte. Murakami selber ist natürlich als Übersetzer von amerikanischer Literatur auch stark von der geprägt.
Meyer: Aber wenn wir gerade auf dieses neue Buch schauen, "Die Pilgerjahre", da taucht zum Beispiel einmal so eine Figur auf, so wie ein Weiser aus den Bergen, der ist einerseits auch Jazz-Pianist, haben Sie auch gerade angesprochen, andererseits ist der so ein Todesbote, sagt, er wird demnächst sterben, er hat irgendwie einen Handel über seinen Tod abgeschlossen, der einerseits sein baldiges Ende bedeutet, andererseits eben aber auch eine tiefere Sicht auf das Dasein, auf die Ursprünge des Daseins, was weiß ich, ermöglicht. Das ist eine Figur, wo ich dachte, ja, kommt die aus dem japanischen Denken? Mir zumindest war sie als Leser ziemlich fremd.
Hijiya-Kirschnereit: Ja. Dass man einen weisen Mann irgendwo einbaut in eine Erzählung, ist ja jetzt nichts sehr spezifisch Japanisches. Klar gibt es das in vielen Traditionen. Und ich finde es einfach interessant: Wir tendieren dazu, bei den Murakami-Büchern sehr stark eben auch danach Ausschau zu halten, ist das jetzt japanisch oder nicht. Also, ein bisschen erinnert mich das auch an diesen Miyazaki Hayao, den Filmer.
Das kann man ja auch sehr schön sehen bei diesen Anime-Filmen – er hat ja auch den Oscar bekommen für "Chihiro und die Reise ins Wunderland" – wie da japanische, wenn man so will, aber eben auch westliche Mythen und Mystery und diese ganzen Geschichten miteinander verwoben werden auf eine Weise, dass man jetzt gar nicht mehr sagen kann, gut, das wäre das spezifisch Japanische daran. Aber es ist klar, natürlich gibt es eben gewisse Rückgriffe auf traditionelle Vorstellungen, eben zum Beispiel, dass überhaupt weise Menschen einem in bestimmten Lebensphasen dann eben auch Hinweise geben können und einen weiterbringen.
Meyer: Aber gerade, was in dieser Figur steckt und was ja typisch für Murakami ist, dieses Mystische, das Rätselvolle, was er in seine Bücher hinein tut – meinen Sie, das wird in Japan anders wahrgenommen als bei uns, oder hat das dort im Prinzip dieselbe Wirkung?
Hijiya-Kirschnereit: Ich denke schon. Ich glaube, dass diejenigen, die Murakami gerne lesen, einer Generation angehören, wo es nicht mehr so große kulturelle Unterschiede gibt. Muss man einfach sehen. Wir werden durch dieselben Dinge geprägt. Wir sehen dieselben Filme, hören dieselbe Musik, haben einen ganz ähnlichen Alltag, und die kulturellen Traditionen sind verschüttet. Ich meine, es reizt mich natürlich als Japanologin, und da werde ich auch sicherlich künftig noch genauer drauf gucken; man kann dann immer tiefe Schichten irgendwo ausgraben und sagen, gut, also das könnte man auch darauf zurückführen.
Aber bei Murakami ist es ja gerade so, dass er das auch stark verneint eher, zu sagen, ich bin jetzt von der japanischen Tradition geprägt. Er hat ja auch zum Beispiel auch früher immer abgelehnt, sich auf irgendwelche Leseerlebnisse japanischer Art zurückführen zu lassen. Er hat immer gesagt, nein, für mich ist die Weltliteratur, sprich vor allem anglofone Literatur, der entscheidende Bezugsrahmen. Und insofern: Man kann da versuchen, noch archäologische Grabungen zu machen, aber so auf der unmittelbaren Ebene und was das Lesen zum Vergnügen angeht, würde ich sagen, nö, das lesen Japaner sehr ähnlich wie Deutsche oder wie Amerikaner.
Meyer: Und wir können dieses Erlebnis ab morgen dann nachholen. Morgen erscheint der neue Roman von Haruki Murakami bei uns, "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tasaki" heißt das Buch, im DuMont-Verlag wird der Roman erscheinen. Morgen hören Sie, wie gesagt, bei uns auch eine Kritik zu dem Roman, um 10 Uhr 33. Die Japanologin Irmela Hijiya-Kirschnereit war bei uns. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Hijiya-Kirschnereit: Ich danke ebenfalls!
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