"Der NSU-Prozess: Das Protokoll"

Rückblick auf einen historischen Prozess

Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz und Moderator Joachim Scholl stehen an einem Gesprächspult und reden miteinander
Die Journalistin Annette Ramelsberger (links) und Tanjev Schultz (rechts) auf der Frankfurter Buchmesse 2018 © David Kohlruss
Annette Ramelsberger und Tanjev Schultz im Gespräch mit Joachim Scholl |
Fünf Jahre dauerte der NSU-Prozess: Jeden Verhandlungstag haben Journalisten minutiös protokolliert. Jetzt erscheint die Mitschrift als Buch: Annette Ramelsberger und Tanjev Schultz berichten von einer einzigartigen journalistischen Herausforderung.
Joachim Scholl: Sie hören die "Lesart", heute live von der Frankfurter Buchmesse. Wir widmen uns nun einem zeitgeschichtlichen Dokument, das mit Sicherheit Zeitgeschichte schreiben wird. Über 2000 Seiten werden die fünf Bände von "Der NSU-Prozess. Das Protokoll" umfassen. Sie erscheinen kommende Woche. Zwei der Herausgeber sind jetzt bei uns: Annette Ramelsberger und Tanjev Schultz.
Vom Mai 2013 bis zu diesem Juli, über fünf Jahre, hat dieser Prozess gedauert. Fünf Angeklagte, 14 Verteidiger, 91 Nebenkläger, 600 Zeugen, 438 Verhandlungstage. Sie gehörten zu einem Team von Reportern, die wirklich jeden Tag, buchstäblich jeden Tag dabei waren. "Nichts", haben Sie, Frau Ramelsberger, mal in einem Artikel geschrieben, "wollten wir diesmal übersehen." Was wollten Sie denn diesmal nicht übersehen?

"Gibt es eine braune RAF?"

Ramelsberger: Wir haben ja ein bisschen was abzuleisten. Es gab ja über Jahre hinweg Berichterstattung über die "Döner-Morde", dieses schreckliche Wort. Als wenn hier Döner gestorben wären und keine Menschen. Und niemand von uns hat es in Frage gestellt, was denn da war. Wir saßen zwar oft in Hintergrundrunden in Berlin, beim Verfassungsschutz, beim Innenministerium, und fragten immer wieder: "Gibt es eine braune RAF?" Aber wir haben denen geglaubt, die sagten: "Nee, die Rechten sind zu dumm, die haben keinen Anführer." Und wenn da was wäre, dann würden wir es wissen. Sie wussten nichts.
Scholl: Und Sie haben wirklich alles protokolliert, jedes Wort mitgeschrieben - eine Großtat von Ihnen und Ihren Kollegen. Denn was man durch Ihr Protokoll und durch das Material als verblüffter juristischer Laie auch erfährt: Die deutsche Strafgesetzordnung sieht ein Protokoll nicht zwingend vor. Es gibt keine offiziellen Mitschriften der Zeugenaussagen, des ganzen Prozesses, keine Tonbandaufnahmen. Man kann sich das bei einem so hochpolitischen Prozess gar nicht vorstellen. Wie kann das eigentlich sein, Herr Schultze?

Mitschrift auf den eigenen Knien

Schultz: Es wirkt wirklich verrückt, und wir fanden das auch selbst empörend bei so einem wichtigen Prozess. Deswegen haben wir uns ans Werk gemacht. Aber das ist tatsächlich gang und gäbe in deutschen Strafverfahren, dass es solche Protokolle nicht gibt. Das heißt, alle Beteiligten, wie Sie sagen, schreiben einfach mit, und dann gibt es die Möglichkeit, auch als Journalist mitzuschreiben. Das haben wir dann genutzt, und tatsächlich war das dann sehr, sehr mühsam über all diese Jahre, ein richtiger Kraftakt.
Ramelsberger: Ja, Laptop auf den Knien, immer in gebückter Haltung. Und wir durften ja nicht mitschneiden. Wir haben wirklich getippt, und am Abend, in der Nacht haben wir dann alles ins Reine gebracht.
Scholl: 12.000 Seiten Mitschriften in fünf Jahren an Hunderten von Tagen im Gerichtssaal. Wie erlebt man diese Zeit? Oder jetzt auch im Nachhinein, was würden Sie sagen, was haben diese fünf Jahre mit Ihnen gemacht?

"Eine unglaublich schwere Situation"

Ramelsberger: Ehrlich gesagt, ich fühlte mich irgendwann wie die Zellennachbarin von Beate Zschäpe.
Scholl: Das ist ja bitter.
Ramelsberger: Ich war da wirklich in diesem Gericht, und es gibt ja so einen abgesperrten Bereich, in dem man sich aufhalten darf. Man geht da auf braunem Klinker immer vom Kaffeeautomaten wieder zurück zum Gericht, zur Toilette, wieder zurück – mehr gibt es nicht. Und Sie sind da, und Sie sind vor allem dem Gericht unterworfen, also in des Richters und Gottes Hand. Sie können nicht raus, Sie können nichts planen. Sie müssen jeden Tag hin, und Sie dürfen nicht nachlassen.
Schultz: Außer dass wir teilweise wirklich auch körperlich gelitten haben – Sehnenscheidenentzündung, Rückenprobleme und -leiden und so weiter –, ist uns da auch noch wichtig zu sehen, wie das für die Angehörigen der Opfer sein muss, für die Betroffenen, die über fünf Jahre auch dieses "stop and go" im Gericht erlebt haben, die da natürlich auch genauso im Gerichtssaal gelitten haben. Das war eine unglaublich schwere Situation. Da haben wir dann immer versucht, unser eigenes Leiden wieder ins Verhältnis zu setzen.

"Ein Hochamt der Zermürbung"

Scholl: Frau Ramelsberger, über diese lange Zeit haben Sie auch geschrieben, dass das eigentlich auch fatal war für diesen Prozess. Am Anfang war es natürlich eine Sensation: der ganze NSU-Komplex, gewaltiges Thema, breit diskutiert, rechtsradikale Mörderbande. Doch irgendwann wurde aus dem Jahrhundertprozess ein "Hochamt der Zermürbung", wie Sie es formulieren, Frau Ramelsberger. Die Nachrichtenminuten wurden immer kürzer, Interesse schwand angesichts einer endlosen Serie von Prozessquerelen. Sie sagen selbst, in Ihrer Redaktion sagten die: "Um Gottes Willen, schon wieder NSU..."
Ramelsberger: Ja, rollende Augen. Die Ramelsberger schon wieder mit dem NSU-Prozess.
Scholl: Wenn man das aber hört, denkt man, der Rechtsstaat hat sich mit seinen eigenen, demokratisch verfassten, juristisch einwandfreien Mitteln selbst ein Bein gestellt.
Ramelsberger: Ja. Dieser Rechtsstaat ist sehr aufwendig und manchmal auch ein bisschen unendlich. Und diese Unendlichkeit, die Richter und Juristen an sich schon mal vor sich her tragen, die kommt in der Öffentlichkeit überhaupt nicht mehr an. Und was ich so einem Prozess eben auch vorwerfe, ist, dass so gar nicht geguckt wird, wie das in der Öffentlichkeit ankommt. Also nicht so nach Volkes Stimme, überhaupt nicht. Aber man muss doch auch sehen: Das ist ein historischer Prozess. Auf dieses Urteil wartet ein ganzes Land. Und dann muss man natürlich gucken, dass man zu Potte kommt.

Rehabilitation der Opfer

Scholl: Man denkt ja auch, so ein Prozess sollte unsere Demokratie, unser Bewusstsein weiterbringen. Herr Schultz, hat es das?
Schultz: Ein Stück schon, glaube ich. Er hat zum Beispiel dazu beigetragen, die Opfer und deren Familien zu rehabilitieren, und zwar offiziell, und einfach mal festzustellen, wer die eigentlichen Täter sind. Es wurde ja über Jahre eher in Richtung der Opferfamilien ermittelt. Das ist jetzt auch von Justizseite richtig aufgerollt worden. Das ist ein wichtiger Faktor.
Andere Dinge konnten möglicherweise nicht geleistet werden. Die Frage ist weiterhin offen, ob es möglicherweise doch noch Komplizen oder Mittäter gab, die wir nicht kennen. Und deswegen sind auch viele dieser Opferangehörigen weiterhin nicht zufrieden mit dem Ausgang. Aber gleichwohl, ich glaube, er hat schon mehr geleistet, als es oft den Eindruck erweckt.
Scholl: Und es gibt ja jetzt schon so gespenstische Reminiszenzen an diesen NSU. Jüngst, jene SEK-Beamten, die sich "Uwe Böhnhardt" als Tarnname gaben.
Ramelsberger: Unglaublich.

Die Mythenbildung ist im vollen Gang

Scholl: Völlig bizarr, einer der NSU-Mörder. Dann die kürzlich aufgeflogene verhaftete Terrorgruppe von Chemnitz. Die bezeichnen den NSU als "Kindergartenvorschulgruppe". Gibt es jetzt schon so eine Art auf der einen Seite so eine rechte Mythenbildung – man nimmt den Namen irgendwie so zum Spaß –, und auf der anderen Seite eine größere Radikalisierung? Was meinen Sie?
Ramelsberger: Ja, die Mythenbildung ist im Gange, und zwar seitdem Ralf Wohlleben und André Eminger als freie Männer aus dem Prozess rausmarschiert sind - zwei Rechtsradikale, die auch vor Gericht standen und sich nirgends von der Szene abgegrenzt haben, sondern sogar gesagt haben: "Wir sind überzeugte Nationalsozialisten." Nach dem Urteil gelten die als Märtyrer in der Szene, und man bezieht sich auf sie, man bezieht sich auf den NSU. Das ist jetzt die Referenzgröße sozusagen. "Wir müssen es besser machen", weil man sieht es ja bei der "Revolution Chemnitz", wie diese neue Terrorgruppe heißt. Die wollten am 3. Oktober losschlagen, am 1. hat man sie festgenommen.
Scholl: Sie jedenfalls, Frau Ramelsberger und Herr Schultz, haben mit Ihren Kollegen alles dafür getan, dass uns die Augen offen bleiben. Ich glaube, dieses Protokoll wird wirklich nicht nur in die Archive gehen, sondern hoffentlich auch in viele private Hände: eine wichtige Grundlage für jegliche Aufarbeitung. Das ist schon mal garantiert. Was würden Sie uns trotzdem als Laienlesern empfehlen? Wie sollen wir dieses Protokoll, dieses Buch lesen?
Schultz: Sie können natürlich anfangen bei der ersten Seite und bis zum Schluss lesen die 2.000 Seiten. Aber es ist bei diesem Prozess, der eben auch gesprungen ist von den Themen her, auch möglich, einfach irgendwo einzusteigen und sich dann hin und her vorzuarbeiten. Und wir haben unseren Materialienband, der einem eben hoffentlich auch die Lektüre erleichtert.
Ramelsberger: Lesen Sie Tag 118. Da ist eine junge Frau, die vom NSU mit einer Bombe sozusagen in die Luft gesprengt worden ist, deren Gesicht es zerrissen hat, die überlebt hat, die noch im gleichen Jahr Abitur gemacht hat, Chirurgie studiert hat, jetzt Chirurgin ist, und die gesagt hat vor Gericht: "So lasse ich mich nicht aus meinem Heimatland hinaustreiben."

Auszug aus dem Buch, mit freundlicher Genehmigung des Kunstmann Verlags:
"Wir sind hier aufgewachsen und haben deutsche Freunde, akademische Abschlüsse – und am Ende sieht man im Video nur: 'Jetzt wisst ihr, wie wichtig uns der Erhalt der deutschen Nation ist.' Das ist traurig für mich, traurig für meine Familie. … Wenn du mitbekommst, du wirst wegen deiner Herkunft so angegriffen, dann ist der erste Gedanke: Was soll ich denn noch hier? Ich hab mir so viel Mühe gegeben, ich bin ein Muster an Integration. Aber das war ja die Absicht dieser Leute. Im Nachhinein habe ich deshalb gedacht: Nein, jetzt erst recht! Ich lass' mich mit Sicherheit nicht aus Deutschland rausjagen."

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Buchhinweis:

Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz, Rainer Stadler, Wiebke Ramm: "Der NSU-Prozess. Das Protokoll"
Kunstmann Verlag, München 2018
Fünf Bände, 2000 Seiten, 80 Euro

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