Literaturtipp:
Das Buch "Über die Weiße Linie - Eine wahre Geschichte aus dem Vatikan" von Arne Molfenter und Rüdiger Strempel ist im Dumont-Verlag Köln erschienen und kostet 19,99 Euro.
Mit Chuzpe, Mut und Gottvertrauen
Der irische Priester Hugh O’Flaherty rettete in Rom während der deutschen Besetzung mehr als 6500 Menschen vor den Nationalsozialisten. Und auch seinem größten Widersacher, dem Obersturmbannführer Herbert Kappler, schenkte er nach Kriegsende Erbarmen.
"Der Mann kletterte den Kohlenberg hoch, griff sich einen der leeren Säcke, zog seine Priesterrobe aus, stopfte sie zusammen mit seinem Hut hinein und rieb sich sein Gesicht, sein Priesterhemd und seine langen Unterhosen mit Kohlenstaub ein … Dann stieg er den Kohlenhaufen hoch. Einer der Kohlenschlepper reichte ihm die Hand und half ihm aus dem Kellerloch herauszukommen. Der Priester ging dem Mann hinterher und – erschrak …"
Denn dort draußen stehen sie! Eine Schar SS-Männer! Ihre Maschinenpistolen blinken im hellen Sonnenlicht. Der Mann in den geschwärzten Unterhosen schultert seinen Kohlensack und stapft an der SS vorbei, den beiden anderen Kohlenschleppern hinterher – unbehelligt!
"Wenn er nicht die rettende Idee mit dem Kohlensack gehabt hätte, wäre er verhaftet und zweifellos gefoltert und hingerichtet worden. Insofern sieht man tatsächlich, wie akut das Bedrohungsszenario war …"
In diesem Bedrohungsszenario, von dem Rüdiger Strempel spricht, geht es um Leben und Tod: Der irische Priester Hugh O’Flaherty liefert sich im von Deutschen besetzten Rom ein mörderisches Katz-und-Maus-Spiel mit den deutschen Besatzern der Ewigen Stadt. Nachdem er im Palazzo eines Unterstützers vor seinen Häschern Zuflucht gesucht hat, stürmen die Deutschen das Gebäude. O’Flaherty gelingt die Flucht durch eine Tür zum Keller. Dort stößt er auf zwei Arbeiter, die gerade Kohlen liefern. Geistesgegenwärtig verwandelt sich der Gottesmann in einen Kohlenmann: wagemutig, listenreich und unerschrocken:
"In der Tat scheint er von Angst nicht geplagt gewesen zu sein. Also, zum einen hat er – ich denke, da spielt auch wieder die christliche Prägung mit – Gottvertrauen im Sinn des Wortes gehabt; zum anderen aber erinnere ich mich, dass seine Großnichte uns gesagt hat, dass er auch an dem Katz-und-Maus-Spiel und vor allem an den schauspielerischen Elementen durchaus seine Freude gehabt hat. Ihm hat das bei allem Ernst des Hintergrundes wohl auch Spaß gemacht, die Deutschen und die Faschisten in dieser Art und Weise zu narren."
Jagd auf Leben und Tod
Der irische Vatikan-Geistliche Hugh O’Flaherty versteckt und rettet ab 1943, nach dem Sturz Mussolinis, rund 6500 Menschen aus 25 Nationen – alliierte Kriegsgefangene, Juden, Oppositionelle – vor den Deutschen. Im besetzten Rom, unter den Augen des Papstes liefert er sich mit seinen Gegenspielern eine Jagd auf Leben und Tod. Eine Jagd in Kohlenkellern und Kirchenschiffen, ein Versteckspiel zwischen Kurienkardinälen, Diplomaten und Despoten. Ein einzelner Mann, eine Art Robin Hood in schwarzer Soutane stemmt sich mit seinen Hilfsaktionen gegen den Terrorapparat des mörderischsten Regimes der Weltgeschichte. Und ist dennoch heute vergessen.
Doch um die Erinnerung an Leben und Wirken dieses Mannes wiederzubeleben, haben Rüdiger Strempel und Arne Molfenter ihm mit ihrem Buch "Über die weiße Linie" ein Denkmal gesetzt:
Arne Molfenter: "Wir sind darauf gekommen, weil wir bei der BBC eine Meldung gehört haben. Und zwar kam in den Nachrichten, dass im Westen Irlands ein Denkmal errichtet werden soll und zwar für den 'Oskar Schindler Irlands'. Und das hat uns komplett überrascht. Wer zur Hölle ist der 'Oskar Schindler Irlands'?"
Ein baumlanger irischer Priester, 1898 in der Grafschaft Cork geboren, der nach seinem Theologiestudium 1922 nach Rom geht und in den diplomatischen Dienst des Heiligen Stuhls tritt. Nach Posten in Ägypten, Haiti, der Dominikanischen Republik und der Tschechoslowakei wird er Mitarbeiter im Heiligen Offizium - heute die Glaubenskongregation. Er macht eine Blitzkarriere:
Rüdiger Strempel: "Er hat fast die gesamte Mussolini-Zeit dort erlebt, und das war der Hintergrund, vor dem seine Karriere sich entfaltet hat. Die Mussolini-Herrschaft und dann die deutsche Besetzung wurden erst für ihn relevant, als er mit der Situation der Gefangenen und der Geflohenen konfrontiert wurde ..."
Das beginnt 1943.
Am 8. September hat Italien kapituliert. Einen Tag später landen britische und amerikanische Truppen bei Salerno. In Rom rücken die Deutschen ein. Der Vatikan und in ihm Papst Pius XII. sind auf einer neutralen Insel in einem besetzten Land eingeschlossen.
Aufbau eines Netzwerks von Helfern
Das Ende des Mussolini-Regimes und die Kriegserklärung Italiens an das Deutsche Reich im Oktober 1943 führen dazu, dass rund 50.000 alliierte Kriegsgefangene aus italienischen Lagern freikommen, dafür aber nun von den Deutschen verfolgt werden. Tausende fliehen nach Rom, um dort mit Juden und anderen Nazi-Gegnern Schutz und Hilfe zu suchen.
Das ist die Stunde des Hugh O‘ Flaherty:
Arne Molfenter: "Das hat sich herumgesprochen, dass jeden Abend auf den Stufen vor dem Petersdom ein hochgewachsener Monsignore steht. O’Flaherty war über 1,90, athletisch gebaut, ehemaliger Boxer – und die alliierten Soldaten, die aus diesen Kriegsgefangenenlagern geflohen sind, haben mitbekommen: dort steht jemand, der ansprechbar ist, der uns hilft, der ein Gebetbuch in der Hand hat und der uns dann, wenn wir Glück haben und uns bis zum Petersplatz durchschlagen, in Verstecke bringen wird. Nach relativ kurzer Zeit war es so, dass O’Flaherty das natürlich nicht mehr alleine geschafft hat. Er hat dann wirklich ein Netzwerk von Helfern aufbauen können."
Dieses Netzwerk besteht einerseits aus alliierten Flüchtlingen, zum anderen aus privaten Kontakten zu römischen Adelsfamilien und zum britischen Botschafter.
Für einen glühenden irischen Patrioten wie O’Flaherty, der kein Freund der Engländer ist, mag diese Verbindung Überwindung gekostet haben. Und doch wird dieser Diplomat bei aller britischen Zurückhaltung und vornehmen Diskretion zu einem wertvollen Mitverschwörer, einem Fels in der Brandung. Dazu trägt auch sein durchaus ungewöhnlicher Butler bei. Ein Mann namens John May:
Arne Molfenter: "Dieser John May hatte beste Schwarzmarktkontakte in Rom und war hauptverantwortlich dafür, Nahrung und Kleidung zu organisieren …"
Rüdiger Strempel: "Ein geborener Organisator, der auf seiner Ebene der Gesellschaft ebenso gut verkabelt war in Rom wie O’Flaherty auf seiner und insofern Möglichkeiten hatte, Dinge zu ermöglichen, die eigentlich nach außen hin nicht möglich erschienen."
In einer Art Schneeballsystem entwickelt sich aus den anfänglich bescheidenen privaten Hilfsaktionen schon bald ein hocheffizientes Netzwerk mit den unterschiedlichsten Akteuren:
Rüdiger Strempel: "Wir haben vier Partner. Wir haben einmal O’Flaherty selber, wir haben den Botschafter …sehr diskret und vorsichtig, dann seinen Butler …Und wir haben natürlich als vierten kongenialen Partner Sam Derry, der dann ja relativ rasch dazu stieß und der einmal ein erhebliches Organisationstalent aufwies, auch ein militärisches Organisationstalent und als hochrangiger Offizier dann auch die Autorität besaß, die Kriegsgefangenen, die sich zum Teil nicht sehr diszipliniert verhalten haben und deswegen das ganze Unternehmen auch durchaus gefährdet haben, immer wieder zur Ordnung zu rufen."
Die Gruppe baut eine geheime Fluchthilfeorganisation auf, die Tausenden alliierter Soldaten das Leben rettet. Dann kommt der Tag, an dem sie ihre Hilfe ausweiten muss:
Arne Molfenter: "Es gab die klare Order aus Berlin, alle römischen Juden zu deportieren. Das hat natürlich auch die Gruppe um O’Flaherty mitbekommen. O’Flaherty selbst wurde auch von römischen Juden häufiger kontaktiert, die versucht haben, ihr Leben zu retten."
Am 16. Oktober 1943 wird die erste Gruppe von 1250 römischen Juden auf Lastwagen geladen und nach Auschwitz deportiert. Nur eine einzige Überlebende dieses Transports wird wieder nach Rom zurückkehren. Vorher hatte O’Fla-hertys bösester und gefährlichster Gegenspieler, Obersturmbannführer Herbert Kappler, Kommandeur der Sicherheitspolizei noch ein übles Spiel getrieben, in-dem er von der jüdischen Gemeinde Gold erpresste.
Trotz wachsender Gefahr kümmert sich O’Flaherty weiter um die Versorgung der Flüchtlinge in den Verstecken. Oft verlässt er in aller Herrgottsfrühe den Vatikan – als Straßenkehrer, Handwerker oder Postbote verkleidet.
Mit einer Mischung aus Chuzpe, Mut und Gottvertrauen nutzt er die Spielräume, die ihm seine Stellung als Priester und die Institution Kirche bieten. Er handelt auf eigene Rechnung, teils mit stillschweigender Billigung der Vatikan-Hierarchie, teils aber auch gegen den Willen des Papstes.
Was genau Papst Pius XII. von all diesen Vorgängen weiß, ist nicht eindeutig geklärt. Sicher ist aber, dass er irgendwann eingreift und den störrischen Monsignore ins Gebet nimmt:
Rüdiger Strempel: "Was sicher mit hineinspielte, war die berechtigte Sorge, dass der Vatikan von den Deutschen besetzt werden könnte. Die Deutschen haben ja die Neutralität des Vatikans erstaunlicherweise weitgehend respektiert. Es gab aber durchaus Erwägungen in Berlin, das anders zu handhaben, und die Angst im Vatikan, dass das Territorium des Vatikans besetzt werden könnte, war groß. Es ist ja so, dass die Deutschen im Vatikan durchaus vorstellig geworden sind; unter anderem auch der deutsche Botschafter im Vatikan v. Weizsäcker vorstellig geworden ist und eine Warnung ausgesprochen hat."
Sie bleibt ohne Echo. Nach dem Gespräch lässt Pius XII. O’Flaherty gewähren. Und der macht unbeirrt weiter.
Komplott gegen O’Flaherty scheitert
Nun geht O’Flahertys Erzfeind in Aktion. Obersturmbannführer Kappler, wütend darüber, dass er O’Flaherty außerhalb des vatikanischen Gebiets nicht schnappen kann, schmiedet ein Komplott:
"Die Idee war, dass sich zwei Gestapobeamte während der Sonntagsmesse im Vatikan einfinden sollten – im Petersdom – und O’Flaherty dann rechts und links unter den Arm nehmen und quasi vom vatikanischen Gelände zerren sollte. Er hätte dann, dem gebräuchlichen Terminus damals entsprechend, 'auf der Flucht erschossen' werden sollen."
Doch Kappler hat die Rechnung ohne den umtriebigen Butler John May gemacht. Dem ist dieser Plan längst bekannt:
Und so tauchen während der Messe plötzlich hinter einem Pfeiler zwei überaus athletisch gebaute Schweizergardisten mit gezückten Hellebarden auf, packen die beiden Gestapobeamten mit eisernem Griff und führen sie aus dem Petersdom hinaus:
"Die beiden dachten, sie würden nun einfach über die weiße Linie eskortiert, aber ganz so glimpflich ist es nicht abgegangen, sondern die Schweizer Garde hat sie dann einigen jugoslawischen Partisanen ausgehändigt, die ebenfalls in Rom im Versteck waren, die die beiden dann übel zugerichtet, aber am Leben gelassen haben, damit sie das ihrem Chefschergen Kappler berichten konnten."
Der ist zu allem bereit. Auch zum Mord. 1944 ist er maßgeblich an dem Massaker in den Ardeatinischen Höhlen beteiligt, bei dem die Deutschen über 350 italienische Zivilisten, darunter 75 Juden erschießen.
Als Rom am 4. Juni 1944 von den Alliierten befreit wird, haben O’Flaherty und seine Mitstreiter, die von ihren Helfern mit einer Summe von umgerechnet 35 Millionen Euro unterstützt wurden, etwa 6500 Menschen gerettet.
Herbert Kappler gelingt es, aus Rom zu fliehen. Im Mai 1945 stellt er sich in Bozen der britischen Militärpolizei und wird zu lebenslanger Festungshaft verurteilt. Nur ein Besucher erscheint regelmäßig in seiner Gefängniszelle: Hugh O'Flaherty.
1959 konvertiert Kappler zum katholischen Glauben – und wird von Hugh O’Flaherty getauft. Heftige Vorwürfe, etwa aus der italienischen Presse, prasseln danach auf den Priester nieder:
Arne Molfenter: "Wie kannst du unserem schlimmsten Feind in Rom vergeben und dich regelmäßig mit ihm treffen? O’Flaherty hat auf diese Vorwürfe sehr gelassen reagiert und hat immer einen Satz wiederholt: In jedem steckt etwas Gutes."
Arne Molfenter und Rüdiger Strempel haben ein Buch vorgelegt, das eine Fülle an Informationen in unterhaltsamer, ja, spannender Form bietet.Es gelingt ihnen, das Katz-und-Maus-Spiel in den Gassen der Ewigen Stadt als Sachbuch mit Kriminalroman-Qualitäten zu erzählen.
Sie halten sich klug zurück, wo endgültige Urteile noch ausstehen, etwa bei der Beurteilung der Rolle Pius XII.; sie machen aber deutlich, dass man es sich mit Pauschalurteilen – etwa über die Kirche im Nationalsozialismus – nicht zu leicht machen soll. Und schließlich zollen sie einem mutigen Christen Tribut, der für alle Menschen einstand, ganz gleich welcher Konfession oder Nation. Getreu seinem Motto: "God knows no country".