Der Patient als Opfer

Bei rund 40.000 Patienten pro Jahr führen die Behandlungsfehler von Ärzten zu schweren bleibenden Schäden. Weshalb trotz unseres hochtechnisierten Gesundheitssystems immer wieder Menschen zu Schaden kommen, analysiert Udo Ludwig in seinem Buch "Tatort Krankenhaus".
Der vierjährige Franjo wacht aus der Narkose nicht mehr auf, weil eine Ärztin ihm versehentlich die 45-fache Dosis einer Lösung verabreicht. Daniela Plum, 29 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern, müssen beide Beine amputiert werden, weil Mediziner trotz eindeutiger Untersuchungsergebnisse eine falsche Diagnose stellen. Elke von Grabowski, 59 Jahre, stirbt nach einem Routineeingriff, weil vorgeschriebene Hygienemaßnahmen nicht eingehalten wurden.

Drei Schicksale von jährlich 40.000 Fällen aus dem Klinikalltag in Deutschland, wo Menschen streben oder lebenslänglich behindert sind, weil Ärzte schwere Fehler machen.

Wie es dazu kommt und warum trotz fortschrittlicher Medizin so viele Menschen Schaden in Kliniken erleiden, analysiert der Spiegel-Autor Udo Ludwig in seinem Buch "Tatort Krankenhaus". Sein dramatischer Bericht über die Zustände in deutschen Krankenhäusern zeigt, wie wenig Verständnis immer noch für Fehlervermeidung im Medizinbetrieb vorhanden ist. Vielen Ärzten mangelt es schlichtweg am Bewusstsein für Qualitätsstandards, kritisiert der Autor. Und genau das sei die Ursache für die hohe Fehlerquote.

Udo Ludwig ist nicht der erste, der die Zustände im Gesundheitsbetrieb kritisiert. Seit mehreren Jahren schon schreiben Journalisten, Politiker, Ärzte und Betroffene Bücher über die Probleme in Kliniken, Praxen und Notaufnahmen. Ob der Titel "Ärztehasserbuch", "Zweiklassenmedizin" oder "Gesundheitsmafia" lautet, keines der Bücher lässt ein gutes Haar am Medizinalltag. Die Problematik ist also bekannt, aber trotzdem ändert sich nichts. Hier setzt Udo Ludwig an. Er nimmt gezielt die Strukturen unter die Lupe und zeigt für jeden Einzelfall in seinem Buch, wie es zur Katastrophe kam. So wie bei Romy Schoenfeld, sie erwartete Zwillinge. Doch im Provinzkrankenhaus verliert sie eines der beiden Kinder, die zu früh auf die Welt kommen, weil übersehen wird, dass sie an einer schweren Schwangerschaftsdiabetes leidet. Extrem Frühgeborene haben aber nachweislich eine doppelt so hohe Überlebenschance, wenn sie in einer Spezialklinik auf die Welt kommen. Da 90 Prozent aller Frühgeburten sich ankündigen, könnten die meisten Frühgeborenen optimal versorgt werden – wenn die behandelnden Ärzte rechtzeitig die Weichen stellen. Doch die Winzlinge bringen den Kliniken bis zu 90.000 Euro ein und sind daher eine begehrte Patientengruppe für die seit langem unter Spardruck stehenden Krankenhäuser.

Ein anderer Fall: Christel Lenzen wird mit Verdacht auf einen drohenden Herzinfarkt ins Krankenhaus eingewiesen, bekommt dann aber – völlig unnötig wie sich später zeigt - die Gallenblase entfernt und stirbt zwei Wochen später an einer eitrigen Nierenentzündung. Das Krankenhaus hatte nicht die notwendige Fachabteilung, dafür aber einen selbstherrlichen Chefarzt und Klinikchef, denn niemand sich traut zu kritisieren.

Machtverhältnissen, Eitelkeiten und finanzielle Interessen sind häufig die Hintergründe für schwere Behandlungsfehler, schreibt Udo Ludwig. Für den Leser eine unerlässliche und zugleich frustrierende Lektüre, denn wer einen Unfall erleidet, kann nicht auswählen, in welches Krankenhaus er eingeliefert wird. Und wer vor einer Behandlung versucht herauszufinden, welche Klinik für ihn die Beste ist, findet kaum aussagekräftige Informationen dazu. Der Grund: die Qualitätsberichte zu den die Krankenhäuser verpflichtet sind, sind nicht öffentlich zugänglich, zudem verschwinden die Todesfälle und Komplikationen hinter komplizierten, für den Laien unverständlichen Formulierungen, schreibt Ludwig, und fordert hier die Politik zum Handeln auf. Denn erst, wenn Krankenhausberichte zugänglich gemacht werden, kann die notwendige Transparenz gewährleistet werden.

Doch nicht nur Ärzte und Kliniken kritisiert der Journalist. Er weist auch auf die Interessenkonflikte der Schiedsstellen für Behandlungsfehler hin. Sie werden nicht von unabhängigen Personen, sondern von Ärzten geführt. Kommt es zu Klagen vor Gericht, verlieren meist die Patienten, weil Gutachter sich nicht festlegen und Richter nur nach Aktenlage entscheiden. Interessant ist hier der Hinweis, dass immer mehr Krankenkassen Geschädigten Hilfe anbieten, weil sie nicht bereit sind, für falsche oder schlechte Behandlungen zu bezahlen.

Die enorme Fülle an aktuellen Fallbeispielen, die das Buch bietet, belegt wie schwerwiegend die Probleme im Gesundheitswesen sind. Doch solange die Strukturen und Abläufe nicht transparent gemacht werden und das System Medizin sich weiter selbst verwaltet, kann man keine Verbesserung erwarten, kritisiert Ludwig. Dabei gibt es bereits genügend erprobte Möglichkeiten, den Medizinbetrieb sicherer zu gestalten, betont der Autor. Er fordert deshalb, in Kliniken flächendeckend Fehlermeldesysteme zu installieren und empfiehlt Medizinern, offen über Behandlungsmängel zu sprechen. Patienten wiederum sollten von Anfang an ihre Behandlung dokumentieren, sich penibel Notizen machen und im Zweifelsfall einen erfahrenen Fachanwalt konsultieren.

Rezensiert von Susanne Nessler

Udo Ludwig: Tatort Krankenhaus. Wie Patienten zu Opfern werden
DVA, München 2008
280 Seiten, 16,95 Euro