Zuviel oder zu wenig Zensur im Netz?
Ist das Löschen beleidigender und hasserfüllter Kommentare in sozialen Netzwerken "Zensur"? Nein, es geht vielmehr schlicht um die Durchsetzung klar formulierter Anstandsregeln, meint Catherine Newmark in unserem philosophischen Wochenkommentar.
Zensur, das ist ein hartes Wort für eine harte Tatsache: Den Gebrauch und vor allem den Missbrauch von politischer Macht, um als gefährlich angesehene oder bloß missliebige Meinungen, Bilder, Medien zu unterdrücken. Staatliche Zensur in diesem Sinne gibt es in Deutschland nur noch vereinzelt, etwa beim Jugendschutz.
Das Wort "Zensur" fällt allerdings aktuell auch in ganz anderen Zusammenhängen. Zum einen wird als Zensur gerne diejenige Pflege von Internet-Foren aufgefasst, die Facebook bisher nicht leistet: Grob beleidigende und hasserfüllte Kommentare in Kommentarspalten und in sozialen Netzwerken werden vom jeweiligen Social-Media-Team gelöscht. Das ist aber noch lange keine Zensur kritischer Stimmen; es droht – außer im Falle justiziabler Beleidigungen oder der Volksverhetzung – keine staatliche Verfolgung. Es geht vielmehr schlicht um die Durchsetzung klar formulierter Anstandsregeln.
Kritik wird als Zensur aufgefasst
Neben der Löschung von vermeintlicher Kritik wird gegenwärtig aber auch oft genau der umgekehrte Fall, nämlich Kritik selbst, als "Zensur" aufgefasst. So beim im Internet oft sehr robust geäußerten Protest gegen Meinungen, denen eine signifikante Gruppe von Menschen nichts abgewinnen kann. Wer für eine umstrittene Äußerung – etwa über die Sinnlosigkeit von Gender Studies – einigen Gegenwind bekommt, ruft schnell "Zensur" und "Meinungsdiktatur". Und stilisiert noch die harmloseste Brise des netzöffentlichen Protestes zum "Shitstorm" hoch, der orkanartig gegen freie Meinungsäußerung wüte.
Aber: Inwiefern schränkt Kritik, selbst gehäuft auftretende, die Meinungsfreiheit wirklich ein?
Aber: Inwiefern schränkt Kritik, selbst gehäuft auftretende, die Meinungsfreiheit wirklich ein?
Seit der Aufklärung fassen Philosophen sowohl Meinungsfreiheit als auch Kritikfähigkeit als Bedingung für die bürgerliche Öffentlichkeit auf. Freilich haben sie den öffentlichen Meinungsaustausch immer als vernunftgebunden aufgefasst. So fordert Kant in „Was ist Aufklärung" die bürgerliche Freiheit ein, „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen".
Auch für Jürgen Habermas, den klassische Verfechter einer "deliberativen Demokratie", ist die vernünftige Debatte in der Öffentlichkeit von zentraler Bedeutung: "demokratische Legitimität" erfordert ihm zufolge "die Kombination vernünftiger Kommunikation mit der Teilnahme aller potentiell Betroffenen am Entscheidungsprozess".
Zeitalter minimaler Zensur
Dem wohltemperierten öffentlichen Abwägen von rationalen Positionen, das diese philosophische Tradition im Sinn hat, entspricht die permanente Aufgeregtheit der sozialen Netzwerke wahrscheinlich nur noch sehr begrenzt. Tatsächlich ist heute die Antwort "interessante Meinung, ich hätte noch diesen oder jenen wohlbegründeten Einwand dagegen" seltener geworden; häufiger liest man kurz und kritisch: "Du Depp!" Weniger als von Vernunft scheint die Netz-Öffentlichkeit von Emotionen geprägt zu sein – Entrüstung, Empörung, Kränkung und Gekränktheit.
Bedeutet aber diese Emotionalisierung und Polarisierung der öffentlichen Debatte, dass sie nicht mehr geeignet ist, zur Meinungsbildung beizutragen? Selbst wenn der betagte Habermas dem Internet als öffentlichem Raum skeptisch gegenübersteht: Auch Emotionalität ist eine Möglichkeit, Meinung und Konsens herzustellen. Die beispielslose Solidarität mit Flüchtlingen, die wir in Deutschland gerade erleben, ist nicht nur das Resultat des Schocks, den die Bilder aus Heidenau ausgelöst haben. Sondern ebenso sehr auch des kollektiven Entsetzens über den Schwall von Hasskommentaren auf Facebook. Auch ein auf emotionalem Wege etablierter Konsens ist ein gesellschaftlicher Konsens.
Gewiss, wir leben nicht in einem Zeitalter übertriebener Zivilität. Sehr wohl aber in einem Zeitalter minimaler Zensur. Und das ist gut so.