Der Preis der Freiheit
Jedes Jahr Anfang Mai fahren dutzende Wohnwagen auf einen kleinen Platz zwischen Berliner Autobahn Avus und Grunewald - die Sinti und Roma-Familien beziehen ihr alljährliches Sommerquartier. Für die nächsten sechs Monate leben Männer, Frauen und Kinder nicht mehr in ihren festen Wohnungen irgendwo in Deutschland, sondern auf dem Dauerstellplatz Dreilinden.
Die Freiheit hat ihren Preis: Gemeinschaftsduschen und Toiletten sind im Container, ebenso Kinderbetreuung und Schule. Eigentlich wollte der Berliner Senat den Platz einmal richtig ausbauen, doch dann ging der Stadt das Geld aus. Seit 13 Jahren ist das Ganze ein Provisorium.
"Weil das im Blut liegen tut bei uns. Wenn Du Zuhause bist, der erste Sonnenstrahl kommen tut, dann zieht es dich raus. Wo du sagst, Wohnwagen fertig machen und ab. Das freie Leben ist das."
"Aufm Campingplatz, wenn man die Gesichter schon sieht, man kommt sich vor wie ein Paradepferd, die beobachten einen dann so und guck die Zigeuner, guck die Zigeuner."
"Unsere Toten, die haben gelitten, aber dann sollen sie doch für die Lebenden was machen. Die Toten brauchen keine Statuen mehr, die sind weg."
"Und dann wird man hier noch wie so ein kleines Kind bevormundet, also das stinkt einem langsam, wir sind keine, die aus dem Wald kommen, wir sind zivilisierte Menschen!"
"Guten Morgen, bei Euch alles okay? Alles klar. Wie viel Wagen seid ihr denn? – Wie viel immer – jut, denn, Freitag, Samstag, Sonntag, mit heute, 56 Euro. – Geldgeklimper – okay, dann mach ich Quittung gleich fertig. Seid ihr wieder mit der gleichen Besatzung da wie beim letzten Mal – ja wir waren ja nur ein paar Tage weg – ja, man wees es bei euch ja nie, wann kommt ihr wieder."
Sozialarbeiterin Beatrix Decking plaudert noch eine Weile mit dem rundlichen, braungebrannten Mann, zählt ihm das Wechselgeld auf den Schreibtisch, fragt, ob sein Wohnmobil in der letzten Reihe auf dem Platz gut steht. Sie kennt den Österreicher schon länger. Er ist Roma, kommt im Sommer häufiger nach Berlin. Kaum ist er draußen, steht ein kleiner Junge in der Tür. Alles an ihm ist dunkel, seine Augen, seine Haut, seine langen Haare. Er ist Sinti, sein ganzer Clan wohnt seit ein paar Tagen auf dem Platz.
"Was ist los, ist dir schon so warm. – mein Hals tut weh – was hast du gemacht, hast Du Dich erkältet? Nimmst Du schon Medizin – ja, - ja? aber hilft nicht. – hab keine- hmm, aber wenn Du Halsschmerzen hast, musst du noch was für die Halsschmerzen tun."
Während Beatrix Decking mit dem Kleinen redet, wischt sich die junge Frau den Schweiß von der Stirn, streicht die langen, dunkelblonden Haare zurück, schiebt die blaue Brille die verschwitzte Nase hoch. Es ist ziemlich warm in ihrem Büro-Container, dabei ist erst Vormittag. Richtig heiß wird es, wenn die Sonne über die Bäume steigt, der dunkelgrüne Metallkasten nicht mehr im Schatten liegt. Dann muss sie den Ventilator anschalten, eine Klimaanlage gibt es hier nicht, wie so vieles andere auch nicht. Seit 1995 ist der Berliner Stellplatz für Sinti und Roma, der gut versteckt im Grunewald, nahe der Autobahn liegt, ein Provisorium. "Jedes Jahr Anfang Mai werden unzählige Meter Wasserschläuche und Stromkabel verlegt", erzählt Beatrix Decking, während sie gleichzeitig eine Geldkassette in ihre Schreibtischschublade sperrt. Außerdem stellt der Senat zwölf Sanitär-Container auf, sowie drei weitere für Büro, Schule und Kinderbetreuung. Ende Oktober wird alles wieder abgebaut. Kosten: 138.000 Euro jährlich.
"Es gibt die drei Container hier, aber es gibt keinen Versammlungsraum, wo man sich mal treffen könnte, es gibt keinen Spielplatz, weil wir hier im Herbst alles abbrechen, so hinterlassen müssen, wie wir es vorgefunden haben, all so Geschichten, die auf einem normalen Campingplatz auch Standard sind. Und das macht es auch schwer und es ist für die Leute auch frustrierend zu sehen, dass obwohl es mal große Pläne gab, hier das auszubauen, nie was passiert ist."
"Und die Wut darüber landet dann bei mir" sagt Beatrix Decking und zuckt ein wenig resigniert mit den Schultern, "dabei kann ich doch auch nichts dafür". Decking arbeitet für die Caritas, die den Platz seit 2003 betreibt und von der Stadt das Geld dafür erhält. Eigentlich wollte der Berliner Senat schon vor Jahren den Stellplatz winterfest ausbauen. Dann kam eine Haushaltssperre, seitdem liegen die Pläne verschlossen in einer Schublade.
Sorgfältig schließt Beatrix den Container ab, bricht zu ihrer morgendlichen Platzrunde auf. Die Sozialpädagogin wirkt etwas unsicher. In letzter Zeit haben sich die Menschen häufiger bei ihr beschwert wegen zu kleiner Stellflächen, wegen der 98 Euro, die sie jede Woche bezahlen müssen, dreckiger Toiletten, lauwarmem Trinkwasser und der fehlenden Spielmöglichkeiten für die vielen Kinder.
Auf dem Platz, den die junge Frau an diesem Morgen kontrollieren muss, ist von der schlechten Stimmung jedoch nichts zu merken. Alles wirkt sehr malerisch und friedlich, nur etwa die Hälfte der 36 Stellplätze ist belegt, leise ist das gleichmäßige Rauschen der nahen Autobahn zu hören. Unter den hohen Bäumen stehen große Wohnwagen mit offenen Vorzelten, darunter Tische und Stühle mit bunten Polstern und Decken. Auf den gespannten Leinen flattert die Wäsche, überall rennen spielende Kinder umher, lachen und toben, alte und junge Frauen plaudern miteinander oder kochen unterm Vorzelt schon das Mittagessen. Die Männer sind unterwegs, ziehen von Haus zu Haus, arbeiten als Dachdecker, Schrottsammler, Scherenschleifer und Markthändler. Beatrix steuert auf zwei große Wohnwagen zu, die eng nebeneinander auf einer Parzelle stehen. Ein winziges, weißes Hündchen begrüßt sie kläffend.
"Hey Süße – Hundeknurren, - ist doch gut – Hallo – Bellen – Hm super, nicht da. Bellen."
Unverrichteter Dinge zieht Beatrix weiter zum nächsten Wagen. Nanni kann sie nicht hören. Sie füllt gerade im nahen Duschcontainer einen 20-Liter-Kanister voll Wasser für den Abwasch. Der Container sieht innen aus wie alte Tankstellentoiletten früher. Waschbecken, Ablage und Klobrille sind aus billigem Plastik, die Duschwände dünnes Sperrholz, wackelig zusammengezimmert, grau in grau. Nanni sieht einfach darüber hinweg, bleibt fröhlich.
"Also nehmen wir gleich warmes mit, wir brauchen kein warmes Wasser zu machen. Heißes Wasser und kaltes Wasser, das haben wir ja. Siehste Luxus wie Zuhause. Und als Frau, jeder Gang macht schlank. Stimmt’s?".
Die zierliche, schmale Frau trägt ein eng anliegendes buntes Kleid mit Spaghettiträgern, Gold-Sandaletten mit Absatz, die Haare sorgfältig hochgesteckt, viel Schmuck und den schweren Wasserkanister zurück zu ihren beiden Wohnwagen.
Langsam gießt Nanni Wasser in zwei Plastikschüsseln, die auf einem Klapptisch seitlich unterm Vorzelt stehen. Sie wäscht das Geschirr vom Frühstück ab. Durch die geöffneten Seitenwände des Vorzeltes beobachtet sie das Treiben auf dem Platz, dabei umspielt ein zufriedenes Lächeln ihre Lippen. Nanni hat sich dieses Leben selbst ausgesucht, als sie mit 15 Jahren ihren Mann geheiratet hat. Jetzt ist sie 43 und hat vier Jungs. Der älteste ist 27, der jüngste 14. Ihren wirklichen Namen möchte sie lieber nicht nennen. Wie alle hier ist auch Nanni misstrauisch gegenüber Fremden. In den Wintermonaten leben sie und ihre Familie in einer festen Wohnung im Weser Bergland, im Sommer sind sie mit zwei großen Wohnwagen unterwegs.
"Das liegt im Blut, wenn Du Zuhause bist, der erste Sonnenstrahl kommen tut, dann zieht es dich raus. Wo du sagst, Wohnwagen fertig machen und ab. Das freie Leben ist das. Das ist doch ganz anders als in der Wohnung, wo Du eingesperrt bist, da hast du vier Wände, hier hast Du das Freie."
"Manchmal brauche ich zwei Stunden vom Wohnwagen zu den Waschmaschinen und zurück", erzählt Nanni und lacht.
"Wenn ich jetzt nach vorne gehen will wegen die Wäsche, komm ich an die Wagens vorbei, hältst du hier, quasselst ein bisschen bei denen wieder, statt du schnell hingelaufen bist und bist wieder hier beim Zelt, ja das ist das Schöne dabei. Du sitzt morgens, frühstückst, siehst du den ersten, den zweiten, dann heißt es morgen, morgen, morgen, unsere Männer fahren auf Geschäft, dann sind das so drei, vier Frauen, dann wird morgens so Kaffeeklatsch gemacht. Das hast du Zuhause nicht. Da bist du alleine. So. Oder wenn’s du in die Stadt fahren tust, bist du auch wieder mit mehreren Frauen. Du bist nicht immer alleine, du hast Gesellschaft. Wir sind Menschen, wir müssen unter Menschen sein, dann fühlen wir uns wohl."
Der Abwasch ist fertig, jetzt sind die Betten dran. Mit großer Ausdauer streicht Nanni die orangefarbenen Satin-Laken glatt, faltet die gemusterten Decken exakt kantig übereinander, schüttelt Kissen auf.
"Dadurch bleiben die Kissen und alles dick. Immer schön aufschütteln."
"Weil das schön aussieht einfach so die Betten machen. Das ist die Optik, wollen wir mal so sagen. Wenn’s du in den Campingwagen rein kommst und die Betten sind schön gemacht, sieht irgendwie schöner aus als einfach nur so aufgeschlagen und hingelegt."
Aus den aufgeschüttelten Kissen formt Nanni zwei pralle Dreiecke, platziert sie mit einer schwungvollen Bewegung mitten auf dem Doppelbett. Die beiden Betten der jüngeren Kinder baut sie zur Sitzecke um, auf den Tisch legt sie Spitzendeckchen und eine rosenbesteckte Porzellanterrine. Nanni liebt Kitsch, wie alle Frauen hier. In den eingebauten Wohnwagen-Vitrinen stehen reichlich Kristallleuchter, Porzellantellerchen und Sammeltassen. In den Wintermonaten hat Nanni für sämtliche Fenster und Wände einheitliche Gardinen und Zierbordüren genäht, für den Plastiktisch und die Stühle unterm Vorzelt dicke Polster mit breiten Volants und die dazu passende Tischdecke. Wenn die sechsköpfige Familie mit ihren zwei Wohnwagen zum nächsten Stellplatz weiter zieht, werden alle Sachen sorgfältig eingepackt und mitgenommen.
"Man hat einen Komfort, mancher besser, wie manche Wohnungen eingerichtet sind. Das ist Schränke, das sind Schränke. Waschkabine, man stellt da Sachen rein, aber da wascht man sich nicht. Also ich nicht. Weil wir hier ja die Duschkabinen haben. Man nimmt morgens seinen Duschkoffer und geht in die Dusche rein und macht sich da fertig."
Nach Abwasch und Bettenmachen muss Nanni bügeln. Das Bügelbrett steht ebenfalls unterm Vorzelt zwischen den beiden Wagen. Hausarbeit ist ausschließlich Frauensache bei Sinti und Roma. Die Rollen sind klar verteilt.
"Mann muss ein Mann bleiben und Frau muss Frau bleiben. Als Frau kennst Du auch Deine Grenzen, was Du machen darfst, was Du sagen darfst. Wenn ich ne Frau haben wollte, hätte ich ne Frau geheiratet."
"Ich wollte immer schon Hausfrau und Mutter sein" sagt sie weiter und faltet die achtlos herum geschmissenen T-Shirts ihrer Jungs zusammen. Nanni fehlt nichts, weder der eigene Beruf, noch die Hosen, die sie als verheiratete Sinti nicht tragen darf.
"Die Mädchen, solange sie nicht verheiratet sind dürfen die Mädchen auch noch heutzutage, weil es ja moderner geworden ist die Zeit, Hosen tragen, aber wenn sie heiraten und einen Mann haben, sind sie Frauen und dann müssen sie leider Röcke tragen. Aber so sind sie groß geworden. Sie fühlen sich auch wohl drinne, ich die Röcke, wollen wir es mal so sagen, also ich jedenfalls! Nach 28 Jahre Ehe, wenn Du 28 Jahre nur Rock getragen hast, dann kennst du das Gefühl gar nicht. Und was du nicht kennen tust, vermisst du ja auch gar nicht. Ist wahr!"
Auf dem Stellplatz Dreilinden vermisst sie dagegen einiges. Fest gebaute sanitäre Anlagen zum Beispiel, einen Spielplatz für die vielen Kinder, einen Gemeinschaftsraum. "Super ist dagegen, dass es eine eigene Schule gibt" sagt Nanni und hört mit dem Bügeln auf. Ihr 14-jähriger Sohn, der Proppo genannt werden will, kommt gerade. Gemeinsam machen es sich die beiden unterm Vorzelt gemütlich, trinken Wasser und eiskalte Cola, Nanni zündet sich eine Zigarette an. Viele Frauen hier rauchen. Schon nach wenigen Minuten gesellen sich einige Nachbarn zu Nanni und Proppo, plaudern mit, zum Beispiel über die Platzschule. Die finden die meisten gut, weil sie mit ganz normalen Schulen schlechte Erfahrungen gemacht haben.
"Als erstes heißt es, Zigeunerkinder. Die Kinder sitzen Ende der Klasse, in der Ecke, immer. So sieht es aus und wenn sie Glück haben, kriegen sie Schularbeiten. – Zum Beispiel ich, hier in der Schule drüben auf der anderen Straßenseite, haben sie mich in die letzte Ecke gesetzt und haben mir noch nicht einmal eine Aufgabe gegeben. Nur gesessen mehr nicht. Das ist eben so. Die Vorurteile werden auch meine Kinder zu spüren kriegen. Das wird immer so bleiben."
Proppo ist ein rundlicher, gutmütiger Typ, gerade mal 14. Nicht wirklich ein Alter, in dem man solche resignierten Sätze sagt. Doch die Vorurteile gegenüber Roma und Sinti bekommen auch Kinder regelmäßig zu spüren. Zum Beispiel dann, wenn sie wie Proppo in der letzten Reihe sitzen müssen oder mit ihren Eltern und Verwandten, mal wieder nicht auf einen normalen Campingplatz gelassen werden. Das Schild am Eingang ‚nicht für Fahrende’ kennen sie alle. "Deshalb ist der Stellplatz hier so wichtig", sagt Nannis Mann Papeli, der inzwischen nach Hause gekommen ist und jetzt mit unterm Vorzelt sitzt.
"Aufm Campingplatz, wenn man die Gesichter schon sieht, man kommt sich vor wie ein Paradepferd, die beobachten einen dann so und guck die Zigeuner, guck die Zigeuner, das passt einem dann auch nicht so. – Campingplätze kommen wir auch gar nicht drauf durch Vorurteile – manche lassen einen schon drauf, sagen wir mal Campingplätze, die nicht viel besucht werden und dann muss man auch gleich bezahlen und wenn de dann ein bisschen lauter bist, bisschen feiert und die Kinder machen bisschen Radau, dann fliechste runter ! Ja, was ist das für ein Argument."
"Jeder, wo nicht richtig Deutsch aussieht, wird immer blöd angeguckt, ob das Sintis sind, Italiener oder Türken sind, das ist egal. Und wenn Du zu dick bist, wirst du auch blöd angeguckt und es wird nachgeschaut hinter dir und es wird gesagt, oh Gott, ist die dick. Da brauchst Du keine Sinti zu sein. Ja so isses im Leben und es wird auch so bleiben! Ne?"
Nanni klingt nur so fröhlich. In Wirklichkeit fühlt auch sie sich schnell angegriffen, wenn sie irgendwo eine Ungerechtigkeit vermutet. Kein Wunder, ihr Vater war sieben Jahre im KZ, hat dort drei Kinder, seine Frau, die Eltern und weiter Verwandte verloren. "Mit dieser Geschichte lebe ich - jeden Tag", sagt Nanni und die anderen in der Runde nicken wissend.
"Das tut jedem Menschen weh. Wir sind ja auch Menschen, wie jeder andere auch. Man hat ja auch Herz und Seele und die Vorurteile bleiben ewig. Die waren schon ewig und die werden auch ewig so weiter bleiben. Immer. Immer."
Nanni hat ihren Sohn deshalb in der öffentlichen Schule gleich wieder ab- und für die Platzschule angemeldet.
"Hast du das irgendwie sortiert nach Englisch, Deutsch Religion, - nööö – alles durcheinander, gut. Und hier sind noch Übungen, die Du noch nicht gemacht hast – ja, das waren auch nicht als Hausaufgabe, das sollten wir auch nicht machen – aber wir können es ja hier machen."
Franziska Kohlmeier-Lemke bleibt gelassen, lässt sich vom Chaos in Chayennes Ordner nicht aus der Ruhe bringen. Sie ist Montessori Heilpädagogin und seit letztem Jahr die Lehrerin der Platzschule. Mit ruhiger Stimme gibt sie jedem der drei Kinder, die gemeinsam im Schulcontainter um einen Tisch sitzen, eine andere Aufgabe. Gianni ist 10, seine Schwester Chayenne 11 und ihr Cousin Richy 13. Proppo hat Kopfweh, bleibt heute bei seiner Mutter im Wohnwagen. Normalerweise würden alle verschiedene Klassen besuchen.
"Das geht wunderbar, ging ja früher in den kleinen Dorfschulen auch und diese Kinder sind ja zum Großteil miteinander verwandt und sind es gewöhnt sich zu helfen und aufeinander Rücksicht zu nehmen und wenn es dann sehr viele Kinder werden, dann trenn ich auch ein bisschen, dann nehm ich früh die Kleineren, weil die gerne früher aufstehen und die größeren nehm ich später, weil die schlafen nämlich gerne länger."
Franziska Kohlmeier-Lemke ist Mitte 50, trägt sportliche Jeans, buntes T-Shirt, die blonden Haare mittellang. Gelassen bleiben und Improvisieren sind ihre Stärken. Je nachdem welches Kind gerade auf dem Platz wohnt, klettert sie auf ihren Dachboden und sucht aus verschiedenen Kisten die passenden Bücher und Hefte raus. Sie unterrichtet alles, von der ersten bis zur 10. Klasse. Kommt ein Kind neu auf den Platz, klärt sie ab, was es besonders gut kann. Dann darf der Junge oder das Mädchen genau das machen, hat gleich sein erstes Erfolgserlebnis. Gianni zum Beispiel kann gut lesen:
Während Gianni das Märchen vorliest, hört Chayenne auf, ihren Ordner zu sortieren, Ricky unterbricht seine Matheaufgaben.
"Ich begrüße das sehr, wenn sie gucken, was macht der andere, denn dadurch lernen sie auch sehr, sehr viel. Sie gucken sich mit den Augen ganz viel ab, die Großen zeigen auch, was sie gerade machen, sind auch ein Stück stolz, weil sie das erklären dürfen, lernen dabei auch zu erklären. Also ich finde das wunderbar. Ich denke, dass einer den anderen ablenkt, ist für mich gar nicht ein Problem."
Ein Problem ist für Franziska Kohlmeier-Lemke, dass sie auf dem Platz die einzige Lehrerin ist, dass es nur einen Raum und zu wenig Material in ihrer Zwergenschule gibt. In den dunkel gebeizten schweren Holzregalen an der Wand, stehen ein paar abgegriffene Bücher und Hefte, daneben Stifte und Papier, mehr nicht. Die Kinder kommen trotzdem sehr gerne her.
"Also hier eher die her, weil hier sind auch meine sehr vertrauten Freunde und Cousins und Geschwister und Cousinen."
"Sehr gut von den Leuten her und von der Schule auch, ja. Die Menschen, meine Freunde, meine Cousins, meine Cousinen und dass im Sommer so schön warm ist hier."
Was Gianni, Chayenne und die anderen Kinder im Sommer unterwegs lernen, wird ihnen Zuhause in ihrer Regelschule anerkannt. Zum Glück, denn ihre Eltern legen wie alle Sinti- und Romafamilien neuerdings immer mehr Wert auf Bildung. "Abitur machen, will ich aber nicht", sagt Gianni und ist damit ebenfalls keine Ausnahme. Er steigt wie die meisten Jungs mit 15 oder 16 Jahren ins Gewerbe des Vaters ein. Chayenne fängt wahrscheinlich gar nicht erst an zu arbeiten, weil sie die typischen Frauenberufe sowieso nicht mit dem Herumreisen vereinbaren kann. Für heute Nachmittag haben Gianni, Chayenne und Richy genug von der Schule. Während ihre Lehrerin noch ein wenig mit den Müttern plaudert, rennen die Kinder auf dem Platz rum, sehen den heimgekehrten Männern beim Feuermachen und Schweinebauch-Grillen zu.
Es ist früher Abend, auf dem Platz wird wie so häufig ein Geburtstag gefeiert. Um die zusammengestellten Tische unter den Bäumen versammeln sich Freunde und die große Familie von Richy, ungefähr 30 Leute. Das Gespräch dreht sich wie so oft in den letzten Tagen um ein Thema: die schlechten Bedingungen auf dem Platz. Familienoberhaupt Horst Lehmann sitzt in einem Campingstuhl etwas abseits der großen Tafel. Seine Frau Karin trägt große Schüsseln Krautsalat und Bohnensuppe auf. Auch sie beide wollen ihre wahren Namen nicht sagen, aus Vorsicht. Wenn die Leute draußen wissen, dass sie Sinti sind, bekommen Horst Lehmann und seine Söhne als Handwerker keine Aufträge mehr. An solche Vorurteile hat der alte Mann sich gewöhnt, nicht aber daran, wie er hier leben muss.
"Also das stinkt einem langsam. Ich bin Steuerzahler, meine Kinder sind zur Bundeswehr gegangen, wir haben auch Ansprüche, an die Stadt Berlin, an den Staat haben wir Ansprüche. Wir sind keine die aus dem Wald kommen. Wir sind zivilisierte Menschen. Der Senat hat uns schon seit zwei Jahren zugesagt, Baumaßnahmen zu treffen. Schriftlich, mit Architekt, alles drum und dran, ich habe es selber gesehen, ich habe auch den Zettel da. Zugesagt. Bis jetzt noch nicht. Die lassen das Geld quasi durch die Toilette gehen. Das Abpumpen kostet das ganze Geld, das wir hier zahlen. Ich weiß nicht, warum sie das nicht machen, aber der Sache gehe ich jetzt auf den Grund."
Besonders sauer ist Horst, weil er mit seiner Familie vor Jahren den Platz quasi eröffnet hat.
"Der Platz war noch gar nicht auf, da hab ich mich hier hin gestellt und dadurch ist der Platz eröffnet worden. Weil woanders durften sie nicht mehr stehen, am Funkturm, da durften sie nicht mehr stehen. Karin: haben se gesagt, wenn wir hier stehen, wird auch der Platz eröffnet. Dann haben wir das damals auch gemacht. Hat mein Mann gesagt, ist okay, ist gut, alles, was Familie ist stellen wir uns hier hin, hat der gesagt, nur so sind wir stark. Haben sie für uns den Platz eröffnet."
Horst Mutter sitzt zwischen den vielen Kindern, Enkeln und Urenkeln mit am Tisch. Ab und zu, wenn sich der lange Ärmel ihrer bunt gemusterten Bluse ein wenig nach oben schiebt, kann man die verblasste blaue KZ-Nummer auf dem Unterarm der alten Frau sehen. Auch Karins Eltern waren im Konzentrationslager. Deshalb fangen ihre strahlend blauen Augen über den hohen Wangenknochen immer dann vor Wut an zu funkeln, wenn sie irgendwo eine Ungerechtigkeit erlebt.
"Ausgegrenzt sind wir indem wir hier so leben, dass keiner was für uns macht. Deshalb sind wir ausgegrenzt. Wenn wir nicht ausgegrenzt wären, hätte der Staat auch was für uns gemacht, wie sich das gehört. Unsere Toten, die haben gelitten, aber dann sollen sie doch für die Lebenden was machen. Die Toten brauchen keine Statuen mehr, die sind weg. Die sollen lieber für die Statuen, sollen sie lieber hier den Platz fest machen. Das ist wichtiger. Wenn nicht, stellen wir uns alle vor das Lager was hier ist, stellen wir uns alle davor, dann brauchen sie nur unsere Doppelbetten wieder rein bauen. Gehen wir wieder da rein! Zigeunerghetto. Ganz genau, so ist das, anders kann man nix zu sagen. Zigeunerghetto."
Abreisen will Karin trotz aller Wut aber nicht. "Ich werde wahrscheinlich sogar im nächsten Sommer wieder kommen, wenn es den Platz dann noch gibt", sagt sie und zuckt resigniert die Schultern. Etwas anderes bliebt ihr nicht übrig. Weitere Stellflächen, auf die man sie lässt, gibt es in der Hauptstadt nicht und die Familie braucht dringend das Geld, das die Männer hier verdienen können. Horst hat sich beim Berliner Senat schon mehrfach über die schlechten Zustände beschwert. Die Antwort: im Moment laufe ein "ergebnisoffenes Prüfverfahren, was so viel bedeutet wie: der Platz wird vielleicht geschlossen, vielleicht ausgebaut, vielleicht weiter betrieben. Im Haushalt 2009 sind wieder nur die 138.000 Euro für das Provisorium eingeplant.
"Weil das im Blut liegen tut bei uns. Wenn Du Zuhause bist, der erste Sonnenstrahl kommen tut, dann zieht es dich raus. Wo du sagst, Wohnwagen fertig machen und ab. Das freie Leben ist das."
"Aufm Campingplatz, wenn man die Gesichter schon sieht, man kommt sich vor wie ein Paradepferd, die beobachten einen dann so und guck die Zigeuner, guck die Zigeuner."
"Unsere Toten, die haben gelitten, aber dann sollen sie doch für die Lebenden was machen. Die Toten brauchen keine Statuen mehr, die sind weg."
"Und dann wird man hier noch wie so ein kleines Kind bevormundet, also das stinkt einem langsam, wir sind keine, die aus dem Wald kommen, wir sind zivilisierte Menschen!"
"Guten Morgen, bei Euch alles okay? Alles klar. Wie viel Wagen seid ihr denn? – Wie viel immer – jut, denn, Freitag, Samstag, Sonntag, mit heute, 56 Euro. – Geldgeklimper – okay, dann mach ich Quittung gleich fertig. Seid ihr wieder mit der gleichen Besatzung da wie beim letzten Mal – ja wir waren ja nur ein paar Tage weg – ja, man wees es bei euch ja nie, wann kommt ihr wieder."
Sozialarbeiterin Beatrix Decking plaudert noch eine Weile mit dem rundlichen, braungebrannten Mann, zählt ihm das Wechselgeld auf den Schreibtisch, fragt, ob sein Wohnmobil in der letzten Reihe auf dem Platz gut steht. Sie kennt den Österreicher schon länger. Er ist Roma, kommt im Sommer häufiger nach Berlin. Kaum ist er draußen, steht ein kleiner Junge in der Tür. Alles an ihm ist dunkel, seine Augen, seine Haut, seine langen Haare. Er ist Sinti, sein ganzer Clan wohnt seit ein paar Tagen auf dem Platz.
"Was ist los, ist dir schon so warm. – mein Hals tut weh – was hast du gemacht, hast Du Dich erkältet? Nimmst Du schon Medizin – ja, - ja? aber hilft nicht. – hab keine- hmm, aber wenn Du Halsschmerzen hast, musst du noch was für die Halsschmerzen tun."
Während Beatrix Decking mit dem Kleinen redet, wischt sich die junge Frau den Schweiß von der Stirn, streicht die langen, dunkelblonden Haare zurück, schiebt die blaue Brille die verschwitzte Nase hoch. Es ist ziemlich warm in ihrem Büro-Container, dabei ist erst Vormittag. Richtig heiß wird es, wenn die Sonne über die Bäume steigt, der dunkelgrüne Metallkasten nicht mehr im Schatten liegt. Dann muss sie den Ventilator anschalten, eine Klimaanlage gibt es hier nicht, wie so vieles andere auch nicht. Seit 1995 ist der Berliner Stellplatz für Sinti und Roma, der gut versteckt im Grunewald, nahe der Autobahn liegt, ein Provisorium. "Jedes Jahr Anfang Mai werden unzählige Meter Wasserschläuche und Stromkabel verlegt", erzählt Beatrix Decking, während sie gleichzeitig eine Geldkassette in ihre Schreibtischschublade sperrt. Außerdem stellt der Senat zwölf Sanitär-Container auf, sowie drei weitere für Büro, Schule und Kinderbetreuung. Ende Oktober wird alles wieder abgebaut. Kosten: 138.000 Euro jährlich.
"Es gibt die drei Container hier, aber es gibt keinen Versammlungsraum, wo man sich mal treffen könnte, es gibt keinen Spielplatz, weil wir hier im Herbst alles abbrechen, so hinterlassen müssen, wie wir es vorgefunden haben, all so Geschichten, die auf einem normalen Campingplatz auch Standard sind. Und das macht es auch schwer und es ist für die Leute auch frustrierend zu sehen, dass obwohl es mal große Pläne gab, hier das auszubauen, nie was passiert ist."
"Und die Wut darüber landet dann bei mir" sagt Beatrix Decking und zuckt ein wenig resigniert mit den Schultern, "dabei kann ich doch auch nichts dafür". Decking arbeitet für die Caritas, die den Platz seit 2003 betreibt und von der Stadt das Geld dafür erhält. Eigentlich wollte der Berliner Senat schon vor Jahren den Stellplatz winterfest ausbauen. Dann kam eine Haushaltssperre, seitdem liegen die Pläne verschlossen in einer Schublade.
Sorgfältig schließt Beatrix den Container ab, bricht zu ihrer morgendlichen Platzrunde auf. Die Sozialpädagogin wirkt etwas unsicher. In letzter Zeit haben sich die Menschen häufiger bei ihr beschwert wegen zu kleiner Stellflächen, wegen der 98 Euro, die sie jede Woche bezahlen müssen, dreckiger Toiletten, lauwarmem Trinkwasser und der fehlenden Spielmöglichkeiten für die vielen Kinder.
Auf dem Platz, den die junge Frau an diesem Morgen kontrollieren muss, ist von der schlechten Stimmung jedoch nichts zu merken. Alles wirkt sehr malerisch und friedlich, nur etwa die Hälfte der 36 Stellplätze ist belegt, leise ist das gleichmäßige Rauschen der nahen Autobahn zu hören. Unter den hohen Bäumen stehen große Wohnwagen mit offenen Vorzelten, darunter Tische und Stühle mit bunten Polstern und Decken. Auf den gespannten Leinen flattert die Wäsche, überall rennen spielende Kinder umher, lachen und toben, alte und junge Frauen plaudern miteinander oder kochen unterm Vorzelt schon das Mittagessen. Die Männer sind unterwegs, ziehen von Haus zu Haus, arbeiten als Dachdecker, Schrottsammler, Scherenschleifer und Markthändler. Beatrix steuert auf zwei große Wohnwagen zu, die eng nebeneinander auf einer Parzelle stehen. Ein winziges, weißes Hündchen begrüßt sie kläffend.
"Hey Süße – Hundeknurren, - ist doch gut – Hallo – Bellen – Hm super, nicht da. Bellen."
Unverrichteter Dinge zieht Beatrix weiter zum nächsten Wagen. Nanni kann sie nicht hören. Sie füllt gerade im nahen Duschcontainer einen 20-Liter-Kanister voll Wasser für den Abwasch. Der Container sieht innen aus wie alte Tankstellentoiletten früher. Waschbecken, Ablage und Klobrille sind aus billigem Plastik, die Duschwände dünnes Sperrholz, wackelig zusammengezimmert, grau in grau. Nanni sieht einfach darüber hinweg, bleibt fröhlich.
"Also nehmen wir gleich warmes mit, wir brauchen kein warmes Wasser zu machen. Heißes Wasser und kaltes Wasser, das haben wir ja. Siehste Luxus wie Zuhause. Und als Frau, jeder Gang macht schlank. Stimmt’s?".
Die zierliche, schmale Frau trägt ein eng anliegendes buntes Kleid mit Spaghettiträgern, Gold-Sandaletten mit Absatz, die Haare sorgfältig hochgesteckt, viel Schmuck und den schweren Wasserkanister zurück zu ihren beiden Wohnwagen.
Langsam gießt Nanni Wasser in zwei Plastikschüsseln, die auf einem Klapptisch seitlich unterm Vorzelt stehen. Sie wäscht das Geschirr vom Frühstück ab. Durch die geöffneten Seitenwände des Vorzeltes beobachtet sie das Treiben auf dem Platz, dabei umspielt ein zufriedenes Lächeln ihre Lippen. Nanni hat sich dieses Leben selbst ausgesucht, als sie mit 15 Jahren ihren Mann geheiratet hat. Jetzt ist sie 43 und hat vier Jungs. Der älteste ist 27, der jüngste 14. Ihren wirklichen Namen möchte sie lieber nicht nennen. Wie alle hier ist auch Nanni misstrauisch gegenüber Fremden. In den Wintermonaten leben sie und ihre Familie in einer festen Wohnung im Weser Bergland, im Sommer sind sie mit zwei großen Wohnwagen unterwegs.
"Das liegt im Blut, wenn Du Zuhause bist, der erste Sonnenstrahl kommen tut, dann zieht es dich raus. Wo du sagst, Wohnwagen fertig machen und ab. Das freie Leben ist das. Das ist doch ganz anders als in der Wohnung, wo Du eingesperrt bist, da hast du vier Wände, hier hast Du das Freie."
"Manchmal brauche ich zwei Stunden vom Wohnwagen zu den Waschmaschinen und zurück", erzählt Nanni und lacht.
"Wenn ich jetzt nach vorne gehen will wegen die Wäsche, komm ich an die Wagens vorbei, hältst du hier, quasselst ein bisschen bei denen wieder, statt du schnell hingelaufen bist und bist wieder hier beim Zelt, ja das ist das Schöne dabei. Du sitzt morgens, frühstückst, siehst du den ersten, den zweiten, dann heißt es morgen, morgen, morgen, unsere Männer fahren auf Geschäft, dann sind das so drei, vier Frauen, dann wird morgens so Kaffeeklatsch gemacht. Das hast du Zuhause nicht. Da bist du alleine. So. Oder wenn’s du in die Stadt fahren tust, bist du auch wieder mit mehreren Frauen. Du bist nicht immer alleine, du hast Gesellschaft. Wir sind Menschen, wir müssen unter Menschen sein, dann fühlen wir uns wohl."
Der Abwasch ist fertig, jetzt sind die Betten dran. Mit großer Ausdauer streicht Nanni die orangefarbenen Satin-Laken glatt, faltet die gemusterten Decken exakt kantig übereinander, schüttelt Kissen auf.
"Dadurch bleiben die Kissen und alles dick. Immer schön aufschütteln."
"Weil das schön aussieht einfach so die Betten machen. Das ist die Optik, wollen wir mal so sagen. Wenn’s du in den Campingwagen rein kommst und die Betten sind schön gemacht, sieht irgendwie schöner aus als einfach nur so aufgeschlagen und hingelegt."
Aus den aufgeschüttelten Kissen formt Nanni zwei pralle Dreiecke, platziert sie mit einer schwungvollen Bewegung mitten auf dem Doppelbett. Die beiden Betten der jüngeren Kinder baut sie zur Sitzecke um, auf den Tisch legt sie Spitzendeckchen und eine rosenbesteckte Porzellanterrine. Nanni liebt Kitsch, wie alle Frauen hier. In den eingebauten Wohnwagen-Vitrinen stehen reichlich Kristallleuchter, Porzellantellerchen und Sammeltassen. In den Wintermonaten hat Nanni für sämtliche Fenster und Wände einheitliche Gardinen und Zierbordüren genäht, für den Plastiktisch und die Stühle unterm Vorzelt dicke Polster mit breiten Volants und die dazu passende Tischdecke. Wenn die sechsköpfige Familie mit ihren zwei Wohnwagen zum nächsten Stellplatz weiter zieht, werden alle Sachen sorgfältig eingepackt und mitgenommen.
"Man hat einen Komfort, mancher besser, wie manche Wohnungen eingerichtet sind. Das ist Schränke, das sind Schränke. Waschkabine, man stellt da Sachen rein, aber da wascht man sich nicht. Also ich nicht. Weil wir hier ja die Duschkabinen haben. Man nimmt morgens seinen Duschkoffer und geht in die Dusche rein und macht sich da fertig."
Nach Abwasch und Bettenmachen muss Nanni bügeln. Das Bügelbrett steht ebenfalls unterm Vorzelt zwischen den beiden Wagen. Hausarbeit ist ausschließlich Frauensache bei Sinti und Roma. Die Rollen sind klar verteilt.
"Mann muss ein Mann bleiben und Frau muss Frau bleiben. Als Frau kennst Du auch Deine Grenzen, was Du machen darfst, was Du sagen darfst. Wenn ich ne Frau haben wollte, hätte ich ne Frau geheiratet."
"Ich wollte immer schon Hausfrau und Mutter sein" sagt sie weiter und faltet die achtlos herum geschmissenen T-Shirts ihrer Jungs zusammen. Nanni fehlt nichts, weder der eigene Beruf, noch die Hosen, die sie als verheiratete Sinti nicht tragen darf.
"Die Mädchen, solange sie nicht verheiratet sind dürfen die Mädchen auch noch heutzutage, weil es ja moderner geworden ist die Zeit, Hosen tragen, aber wenn sie heiraten und einen Mann haben, sind sie Frauen und dann müssen sie leider Röcke tragen. Aber so sind sie groß geworden. Sie fühlen sich auch wohl drinne, ich die Röcke, wollen wir es mal so sagen, also ich jedenfalls! Nach 28 Jahre Ehe, wenn Du 28 Jahre nur Rock getragen hast, dann kennst du das Gefühl gar nicht. Und was du nicht kennen tust, vermisst du ja auch gar nicht. Ist wahr!"
Auf dem Stellplatz Dreilinden vermisst sie dagegen einiges. Fest gebaute sanitäre Anlagen zum Beispiel, einen Spielplatz für die vielen Kinder, einen Gemeinschaftsraum. "Super ist dagegen, dass es eine eigene Schule gibt" sagt Nanni und hört mit dem Bügeln auf. Ihr 14-jähriger Sohn, der Proppo genannt werden will, kommt gerade. Gemeinsam machen es sich die beiden unterm Vorzelt gemütlich, trinken Wasser und eiskalte Cola, Nanni zündet sich eine Zigarette an. Viele Frauen hier rauchen. Schon nach wenigen Minuten gesellen sich einige Nachbarn zu Nanni und Proppo, plaudern mit, zum Beispiel über die Platzschule. Die finden die meisten gut, weil sie mit ganz normalen Schulen schlechte Erfahrungen gemacht haben.
"Als erstes heißt es, Zigeunerkinder. Die Kinder sitzen Ende der Klasse, in der Ecke, immer. So sieht es aus und wenn sie Glück haben, kriegen sie Schularbeiten. – Zum Beispiel ich, hier in der Schule drüben auf der anderen Straßenseite, haben sie mich in die letzte Ecke gesetzt und haben mir noch nicht einmal eine Aufgabe gegeben. Nur gesessen mehr nicht. Das ist eben so. Die Vorurteile werden auch meine Kinder zu spüren kriegen. Das wird immer so bleiben."
Proppo ist ein rundlicher, gutmütiger Typ, gerade mal 14. Nicht wirklich ein Alter, in dem man solche resignierten Sätze sagt. Doch die Vorurteile gegenüber Roma und Sinti bekommen auch Kinder regelmäßig zu spüren. Zum Beispiel dann, wenn sie wie Proppo in der letzten Reihe sitzen müssen oder mit ihren Eltern und Verwandten, mal wieder nicht auf einen normalen Campingplatz gelassen werden. Das Schild am Eingang ‚nicht für Fahrende’ kennen sie alle. "Deshalb ist der Stellplatz hier so wichtig", sagt Nannis Mann Papeli, der inzwischen nach Hause gekommen ist und jetzt mit unterm Vorzelt sitzt.
"Aufm Campingplatz, wenn man die Gesichter schon sieht, man kommt sich vor wie ein Paradepferd, die beobachten einen dann so und guck die Zigeuner, guck die Zigeuner, das passt einem dann auch nicht so. – Campingplätze kommen wir auch gar nicht drauf durch Vorurteile – manche lassen einen schon drauf, sagen wir mal Campingplätze, die nicht viel besucht werden und dann muss man auch gleich bezahlen und wenn de dann ein bisschen lauter bist, bisschen feiert und die Kinder machen bisschen Radau, dann fliechste runter ! Ja, was ist das für ein Argument."
"Jeder, wo nicht richtig Deutsch aussieht, wird immer blöd angeguckt, ob das Sintis sind, Italiener oder Türken sind, das ist egal. Und wenn Du zu dick bist, wirst du auch blöd angeguckt und es wird nachgeschaut hinter dir und es wird gesagt, oh Gott, ist die dick. Da brauchst Du keine Sinti zu sein. Ja so isses im Leben und es wird auch so bleiben! Ne?"
Nanni klingt nur so fröhlich. In Wirklichkeit fühlt auch sie sich schnell angegriffen, wenn sie irgendwo eine Ungerechtigkeit vermutet. Kein Wunder, ihr Vater war sieben Jahre im KZ, hat dort drei Kinder, seine Frau, die Eltern und weiter Verwandte verloren. "Mit dieser Geschichte lebe ich - jeden Tag", sagt Nanni und die anderen in der Runde nicken wissend.
"Das tut jedem Menschen weh. Wir sind ja auch Menschen, wie jeder andere auch. Man hat ja auch Herz und Seele und die Vorurteile bleiben ewig. Die waren schon ewig und die werden auch ewig so weiter bleiben. Immer. Immer."
Nanni hat ihren Sohn deshalb in der öffentlichen Schule gleich wieder ab- und für die Platzschule angemeldet.
"Hast du das irgendwie sortiert nach Englisch, Deutsch Religion, - nööö – alles durcheinander, gut. Und hier sind noch Übungen, die Du noch nicht gemacht hast – ja, das waren auch nicht als Hausaufgabe, das sollten wir auch nicht machen – aber wir können es ja hier machen."
Franziska Kohlmeier-Lemke bleibt gelassen, lässt sich vom Chaos in Chayennes Ordner nicht aus der Ruhe bringen. Sie ist Montessori Heilpädagogin und seit letztem Jahr die Lehrerin der Platzschule. Mit ruhiger Stimme gibt sie jedem der drei Kinder, die gemeinsam im Schulcontainter um einen Tisch sitzen, eine andere Aufgabe. Gianni ist 10, seine Schwester Chayenne 11 und ihr Cousin Richy 13. Proppo hat Kopfweh, bleibt heute bei seiner Mutter im Wohnwagen. Normalerweise würden alle verschiedene Klassen besuchen.
"Das geht wunderbar, ging ja früher in den kleinen Dorfschulen auch und diese Kinder sind ja zum Großteil miteinander verwandt und sind es gewöhnt sich zu helfen und aufeinander Rücksicht zu nehmen und wenn es dann sehr viele Kinder werden, dann trenn ich auch ein bisschen, dann nehm ich früh die Kleineren, weil die gerne früher aufstehen und die größeren nehm ich später, weil die schlafen nämlich gerne länger."
Franziska Kohlmeier-Lemke ist Mitte 50, trägt sportliche Jeans, buntes T-Shirt, die blonden Haare mittellang. Gelassen bleiben und Improvisieren sind ihre Stärken. Je nachdem welches Kind gerade auf dem Platz wohnt, klettert sie auf ihren Dachboden und sucht aus verschiedenen Kisten die passenden Bücher und Hefte raus. Sie unterrichtet alles, von der ersten bis zur 10. Klasse. Kommt ein Kind neu auf den Platz, klärt sie ab, was es besonders gut kann. Dann darf der Junge oder das Mädchen genau das machen, hat gleich sein erstes Erfolgserlebnis. Gianni zum Beispiel kann gut lesen:
Während Gianni das Märchen vorliest, hört Chayenne auf, ihren Ordner zu sortieren, Ricky unterbricht seine Matheaufgaben.
"Ich begrüße das sehr, wenn sie gucken, was macht der andere, denn dadurch lernen sie auch sehr, sehr viel. Sie gucken sich mit den Augen ganz viel ab, die Großen zeigen auch, was sie gerade machen, sind auch ein Stück stolz, weil sie das erklären dürfen, lernen dabei auch zu erklären. Also ich finde das wunderbar. Ich denke, dass einer den anderen ablenkt, ist für mich gar nicht ein Problem."
Ein Problem ist für Franziska Kohlmeier-Lemke, dass sie auf dem Platz die einzige Lehrerin ist, dass es nur einen Raum und zu wenig Material in ihrer Zwergenschule gibt. In den dunkel gebeizten schweren Holzregalen an der Wand, stehen ein paar abgegriffene Bücher und Hefte, daneben Stifte und Papier, mehr nicht. Die Kinder kommen trotzdem sehr gerne her.
"Also hier eher die her, weil hier sind auch meine sehr vertrauten Freunde und Cousins und Geschwister und Cousinen."
"Sehr gut von den Leuten her und von der Schule auch, ja. Die Menschen, meine Freunde, meine Cousins, meine Cousinen und dass im Sommer so schön warm ist hier."
Was Gianni, Chayenne und die anderen Kinder im Sommer unterwegs lernen, wird ihnen Zuhause in ihrer Regelschule anerkannt. Zum Glück, denn ihre Eltern legen wie alle Sinti- und Romafamilien neuerdings immer mehr Wert auf Bildung. "Abitur machen, will ich aber nicht", sagt Gianni und ist damit ebenfalls keine Ausnahme. Er steigt wie die meisten Jungs mit 15 oder 16 Jahren ins Gewerbe des Vaters ein. Chayenne fängt wahrscheinlich gar nicht erst an zu arbeiten, weil sie die typischen Frauenberufe sowieso nicht mit dem Herumreisen vereinbaren kann. Für heute Nachmittag haben Gianni, Chayenne und Richy genug von der Schule. Während ihre Lehrerin noch ein wenig mit den Müttern plaudert, rennen die Kinder auf dem Platz rum, sehen den heimgekehrten Männern beim Feuermachen und Schweinebauch-Grillen zu.
Es ist früher Abend, auf dem Platz wird wie so häufig ein Geburtstag gefeiert. Um die zusammengestellten Tische unter den Bäumen versammeln sich Freunde und die große Familie von Richy, ungefähr 30 Leute. Das Gespräch dreht sich wie so oft in den letzten Tagen um ein Thema: die schlechten Bedingungen auf dem Platz. Familienoberhaupt Horst Lehmann sitzt in einem Campingstuhl etwas abseits der großen Tafel. Seine Frau Karin trägt große Schüsseln Krautsalat und Bohnensuppe auf. Auch sie beide wollen ihre wahren Namen nicht sagen, aus Vorsicht. Wenn die Leute draußen wissen, dass sie Sinti sind, bekommen Horst Lehmann und seine Söhne als Handwerker keine Aufträge mehr. An solche Vorurteile hat der alte Mann sich gewöhnt, nicht aber daran, wie er hier leben muss.
"Also das stinkt einem langsam. Ich bin Steuerzahler, meine Kinder sind zur Bundeswehr gegangen, wir haben auch Ansprüche, an die Stadt Berlin, an den Staat haben wir Ansprüche. Wir sind keine die aus dem Wald kommen. Wir sind zivilisierte Menschen. Der Senat hat uns schon seit zwei Jahren zugesagt, Baumaßnahmen zu treffen. Schriftlich, mit Architekt, alles drum und dran, ich habe es selber gesehen, ich habe auch den Zettel da. Zugesagt. Bis jetzt noch nicht. Die lassen das Geld quasi durch die Toilette gehen. Das Abpumpen kostet das ganze Geld, das wir hier zahlen. Ich weiß nicht, warum sie das nicht machen, aber der Sache gehe ich jetzt auf den Grund."
Besonders sauer ist Horst, weil er mit seiner Familie vor Jahren den Platz quasi eröffnet hat.
"Der Platz war noch gar nicht auf, da hab ich mich hier hin gestellt und dadurch ist der Platz eröffnet worden. Weil woanders durften sie nicht mehr stehen, am Funkturm, da durften sie nicht mehr stehen. Karin: haben se gesagt, wenn wir hier stehen, wird auch der Platz eröffnet. Dann haben wir das damals auch gemacht. Hat mein Mann gesagt, ist okay, ist gut, alles, was Familie ist stellen wir uns hier hin, hat der gesagt, nur so sind wir stark. Haben sie für uns den Platz eröffnet."
Horst Mutter sitzt zwischen den vielen Kindern, Enkeln und Urenkeln mit am Tisch. Ab und zu, wenn sich der lange Ärmel ihrer bunt gemusterten Bluse ein wenig nach oben schiebt, kann man die verblasste blaue KZ-Nummer auf dem Unterarm der alten Frau sehen. Auch Karins Eltern waren im Konzentrationslager. Deshalb fangen ihre strahlend blauen Augen über den hohen Wangenknochen immer dann vor Wut an zu funkeln, wenn sie irgendwo eine Ungerechtigkeit erlebt.
"Ausgegrenzt sind wir indem wir hier so leben, dass keiner was für uns macht. Deshalb sind wir ausgegrenzt. Wenn wir nicht ausgegrenzt wären, hätte der Staat auch was für uns gemacht, wie sich das gehört. Unsere Toten, die haben gelitten, aber dann sollen sie doch für die Lebenden was machen. Die Toten brauchen keine Statuen mehr, die sind weg. Die sollen lieber für die Statuen, sollen sie lieber hier den Platz fest machen. Das ist wichtiger. Wenn nicht, stellen wir uns alle vor das Lager was hier ist, stellen wir uns alle davor, dann brauchen sie nur unsere Doppelbetten wieder rein bauen. Gehen wir wieder da rein! Zigeunerghetto. Ganz genau, so ist das, anders kann man nix zu sagen. Zigeunerghetto."
Abreisen will Karin trotz aller Wut aber nicht. "Ich werde wahrscheinlich sogar im nächsten Sommer wieder kommen, wenn es den Platz dann noch gibt", sagt sie und zuckt resigniert die Schultern. Etwas anderes bliebt ihr nicht übrig. Weitere Stellflächen, auf die man sie lässt, gibt es in der Hauptstadt nicht und die Familie braucht dringend das Geld, das die Männer hier verdienen können. Horst hat sich beim Berliner Senat schon mehrfach über die schlechten Zustände beschwert. Die Antwort: im Moment laufe ein "ergebnisoffenes Prüfverfahren, was so viel bedeutet wie: der Platz wird vielleicht geschlossen, vielleicht ausgebaut, vielleicht weiter betrieben. Im Haushalt 2009 sind wieder nur die 138.000 Euro für das Provisorium eingeplant.