Der Protest hat Sommerpause
Badehose statt Basisgruppe: Was ist los mit den Wutbürgern, wenn die Sonne scheint? Wo sich im kalten März noch Tausende Sympathisanten an der Berliner East Side Gallery zum Protest versammelten, waren es im strahlenden Sonnenschein nur wenige hundert, beobachtet Reinhard Mohr.
"Alle reden vom Wetter. Wir nicht." Mit diesem Slogan warb 1966 die Deutsche Bundesbahn, die noch nichts von der alljährlichen Klimakatastrophe im ICE wissen konnte. Kurz darauf übernahm der Sozialistische Deutsche Studentenbund SDS den Werbespruch, gab ihm aber einen Dreh ins Progressive: Klar, die SDS-Genossen redeten lieber von der Revolution.
Nicht erst seit Aristoteles wissen wir, wie sehr Bodenbeschaffenheit, Klima und Wetter den Menschen beeinflussen. So ließ auch zu Zeiten der 68er-Revolte und ihren Ausläufern der kämpferische Elan kurz vor Weihnachten merklich nach. Offenbar wirkten hier noch fatale Restbestände bürgerlich-christlicher Tradition.
Auch in den Semesterferien, vor allem während des Hochsommers, meldeten sich sogar hartgesottene Polit-Kämpfer an den Strand ab, ob Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit. Ein paar Tage Naturzustand statt Gesellschaftsveränderung, Badehose statt Basisgruppe.
Dennoch erstaunlich, dass die saisonalen wie wetterbedingten Beeinträchtigungen des politischen Protests auch in unserer dauererregten Mediengesellschaft anhalten, die eigentlich gar keine Pause mehr kennt.
Zur Demonstration gegen die Bebauung des Spreeufers an der Berliner "East Side Gallery" etwa kamen jüngst bei strahlendem Sonnenschein nur ein paar hundert Leute – an derselben Stelle, wo im bitterkalten März noch etliche tausend Sympathisanten David Hasselhoff zujubelten, als dieser seinen Protest-Song "Looking for Freedom" ins Megaphon schmetterte.
Eher dürftig sind auch die öffentlich sichtbaren Protestaktionen angesichts des globalen Überwachungsskandals. "Empört Euch, jetzt!" appellierte eine taz-Autorin an alle, doch ein Kollege derselben Zeitung konnte später nur noch die fehlende Wirkung des Aufrufs feststellen. Nicht einmal Jakob Augsteins flammende Selbstanklage "Wir Untertanen!" mobilisierte die kritischen Massen.
Und wo sind die großen Aktionen in der Euro-Banken-Schulden-Krise geblieben? Nichts mehr zu sehen. Die politischen Showrituale der "Troika" wiederholen sich derweil nach dem immer gleichen Muster – die Rechnung kommt später, nach der Bundestagswahl. Ob "Occupy" oder "Blockupy" – irgendwie scheint die warme Sommerluft raus.
Auch der Widerstand gegen die "Gentrifizierung" schwächelt derzeit – Zyniker würden behaupten, dass bei dem tollen Sommerwetter sowieso niemand eine Wohnung braucht.
Was ist also los mit der Wutbürgerin – der männliche Wutbürger ist hier natürlich gendergerecht mitgemeint?
Vielleicht hilft zur Erklärung ein kleiner Selbstversuch. Wenn Sie wieder einmal stundenlang vor Ihrem Laptop, iPad oder anderen Geräten der grenzenlosen Dauerkommunikation verbracht haben und Ihnen der Kopf brummt vor lauter Katastrophen, Skandalen und Online-Petitionen – dann gehen Sie mal raus, an die frische Luft, unter die Sonne. Setzen Sie sich in einen Park, radeln Sie an den nächstgelegenen Fluss oder See und schauen Sie in den Himmel.
Und dann passiert das Wunder: Sie fühlen sich weder vom BND noch von der NSA überwacht, die Eurokrise ist Ihnen gerade mal schnuppe, und Sie glauben auch nicht, dass die neue Abhörzentrale in Utah weiß, wo Sie gleich ein Bier trinken werden – falls Sie nicht gleich wieder eine Statusmeldung samt automatisch erfasstem Standort absetzen.
Aber hilft denn der Sommer dauerhaft gegen den Überwachungsstaat? Nein. Doch hierzulande war gutes Wetter immer schon tendenziell konterrevolutionär, das heißt: abwieglerisch, relativistisch, hedonistisch. Es lässt uns, wie die Helden der deutschen Romantik, von freiem Grunde auf freie Menschen zu schau’n. Gegen alle Orwell’schen Horrorszenarien glauben wir, dass wir frei sind, Eigentümer unseres Lebens.
All die prophezeiten Untergänge verschwinden im leuchtenden Abendrot, und die allzeit abrufbare Empörung wandelt sich in ein Selbstbewusstsein, das sich nicht als Opfer geheimer Mächte fühlt, sondern als autonomes Subjekt.
Aber klar, die Tage werden schon wieder kürzer. Und im Herbst heißt es dann: Der Kampf geht weiter.
Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für Spiegel Online und war langjähriger Kulturredakteur des Spiegel. Weitere journalistische Stationen waren der Stern, Pflasterstrand, die tageszeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Buchveröffentlichungen u. a.: "Bin ich jetzt reaktionär? Bekenntnisse eines Altlinken", "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".
Nicht erst seit Aristoteles wissen wir, wie sehr Bodenbeschaffenheit, Klima und Wetter den Menschen beeinflussen. So ließ auch zu Zeiten der 68er-Revolte und ihren Ausläufern der kämpferische Elan kurz vor Weihnachten merklich nach. Offenbar wirkten hier noch fatale Restbestände bürgerlich-christlicher Tradition.
Auch in den Semesterferien, vor allem während des Hochsommers, meldeten sich sogar hartgesottene Polit-Kämpfer an den Strand ab, ob Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit. Ein paar Tage Naturzustand statt Gesellschaftsveränderung, Badehose statt Basisgruppe.
Dennoch erstaunlich, dass die saisonalen wie wetterbedingten Beeinträchtigungen des politischen Protests auch in unserer dauererregten Mediengesellschaft anhalten, die eigentlich gar keine Pause mehr kennt.
Zur Demonstration gegen die Bebauung des Spreeufers an der Berliner "East Side Gallery" etwa kamen jüngst bei strahlendem Sonnenschein nur ein paar hundert Leute – an derselben Stelle, wo im bitterkalten März noch etliche tausend Sympathisanten David Hasselhoff zujubelten, als dieser seinen Protest-Song "Looking for Freedom" ins Megaphon schmetterte.
Eher dürftig sind auch die öffentlich sichtbaren Protestaktionen angesichts des globalen Überwachungsskandals. "Empört Euch, jetzt!" appellierte eine taz-Autorin an alle, doch ein Kollege derselben Zeitung konnte später nur noch die fehlende Wirkung des Aufrufs feststellen. Nicht einmal Jakob Augsteins flammende Selbstanklage "Wir Untertanen!" mobilisierte die kritischen Massen.
Und wo sind die großen Aktionen in der Euro-Banken-Schulden-Krise geblieben? Nichts mehr zu sehen. Die politischen Showrituale der "Troika" wiederholen sich derweil nach dem immer gleichen Muster – die Rechnung kommt später, nach der Bundestagswahl. Ob "Occupy" oder "Blockupy" – irgendwie scheint die warme Sommerluft raus.
Auch der Widerstand gegen die "Gentrifizierung" schwächelt derzeit – Zyniker würden behaupten, dass bei dem tollen Sommerwetter sowieso niemand eine Wohnung braucht.
Was ist also los mit der Wutbürgerin – der männliche Wutbürger ist hier natürlich gendergerecht mitgemeint?
Vielleicht hilft zur Erklärung ein kleiner Selbstversuch. Wenn Sie wieder einmal stundenlang vor Ihrem Laptop, iPad oder anderen Geräten der grenzenlosen Dauerkommunikation verbracht haben und Ihnen der Kopf brummt vor lauter Katastrophen, Skandalen und Online-Petitionen – dann gehen Sie mal raus, an die frische Luft, unter die Sonne. Setzen Sie sich in einen Park, radeln Sie an den nächstgelegenen Fluss oder See und schauen Sie in den Himmel.
Und dann passiert das Wunder: Sie fühlen sich weder vom BND noch von der NSA überwacht, die Eurokrise ist Ihnen gerade mal schnuppe, und Sie glauben auch nicht, dass die neue Abhörzentrale in Utah weiß, wo Sie gleich ein Bier trinken werden – falls Sie nicht gleich wieder eine Statusmeldung samt automatisch erfasstem Standort absetzen.
Aber hilft denn der Sommer dauerhaft gegen den Überwachungsstaat? Nein. Doch hierzulande war gutes Wetter immer schon tendenziell konterrevolutionär, das heißt: abwieglerisch, relativistisch, hedonistisch. Es lässt uns, wie die Helden der deutschen Romantik, von freiem Grunde auf freie Menschen zu schau’n. Gegen alle Orwell’schen Horrorszenarien glauben wir, dass wir frei sind, Eigentümer unseres Lebens.
All die prophezeiten Untergänge verschwinden im leuchtenden Abendrot, und die allzeit abrufbare Empörung wandelt sich in ein Selbstbewusstsein, das sich nicht als Opfer geheimer Mächte fühlt, sondern als autonomes Subjekt.
Aber klar, die Tage werden schon wieder kürzer. Und im Herbst heißt es dann: Der Kampf geht weiter.
Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für Spiegel Online und war langjähriger Kulturredakteur des Spiegel. Weitere journalistische Stationen waren der Stern, Pflasterstrand, die tageszeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Buchveröffentlichungen u. a.: "Bin ich jetzt reaktionär? Bekenntnisse eines Altlinken", "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".