Der Revolutionär des deutschen Theaters

Von Almut Finck |
Gerhart Hauptmann führte die Probleme des kleinen Mannes und der industriellen Moderne in das Theater ein. Er brachte die Themen Ausbeutung, Arbeitslosigkeit und soziale Verrohung auf die Bühne und ließ erstmals im deutschen Theater die Proletarier sprechen.
Böses ahnend, hatte Doktor Kastan sich bewaffnet für den Besuch im Theater. "Vor Sonnenaufgang" hieß das Stück, das an einem Oktoberabend des Jahres 1889 in Berlin Premiere hatte, und schon im Vorfeld war Protest laut geworden. Zwar fand die befürchtete drastische Darstellung einer Niederkunft gar nicht statt, der Gynäkologe schmetterte trotzdem seine Geburtszange auf die Bühne, weitere Wurfgeschosse aus dem Publikum folgten.

Ein blasser junger Mann, blonde Locken, schmale Gestalt, hatte "Vor Sonnenaufgang" geschrieben – und besaß fortan einen Namen: Gerhart Hauptmann. Der Sohn eines mehrfach gescheiterten Provinzhoteliers, geboren am 15. November 1862, war grade 27, als sein Bühnenerstling über eine zwar reich gewordene, aber moralisch verkommene, dem Alkohol verfallene Bauernfamilie erst einen Skandal provozierte, dann aber dem Naturalismus in Deutschland zum Durchbruch verhalf.

Mit Hauptmann betraten unheroische Menschenkinder die Bühne, von dunklen inneren Mächten getrieben, von einem unentrinnbaren äußeren Schicksal gebeutelt: der Fuhrmann Henschel, die schwangere Magd Rose Bernd, die Putzfrau Henriette John aus den "Ratten". Ihrer aller Tragödie war keine antike mehr, sondern die der kleinen Leute – und der industriellen Moderne: Ausbeutung, Arbeitslosigkeit, soziale Verrohung. Bei Hauptmann durften erstmals im deutschen Theater die Proletarier sprechen, und wie sie redeten! – im Schlesischen, des Dichters Heimatdialekt! Hier ein Ausschnitt aus einer Hörspielfassung der "Weber" von 1952:

Zitat aus "Die Weber":
"Ich weeß gar nicht, wenn Se mir das Mal und geb’n mir keen’n Vorschuß, o Jesis, o Jesis."
"Was heißt’n hier Jesus? Lasst bloß a Herr Jesus in Frieden."
"Ich bin gewiss ni faul, aber ich kann ni mehr aso fort. Zwing’n kann ma’s doch nicht. Mir arbeit’n gewiß, was wir ufbringen. Bloss a paar Greschl, dass m’r zu Brote komm’n! D’r Pauer borgt nischt mehr. Ma hat a Häufl Kinder."
"Die Leinweber haben alle Jahre ein Kind, allewalle, allewalle, Puff, Puff, Puff …"


Es ist Hauptmanns von der preußischen Zensur anfangs verbotenes Stück über den schlesischen Weberaufstand, für das er 1912 den Nobelpreis erhält. Das Telegramm aus Stockholm erreicht ihn am 50. Geburtstag. In seiner Dankesrede beschwört er den Weltfrieden:

"Ich trinke auf den großen, letzten und rein ideellen Nobelpreis, den die Menschheit sich dann zusprechen wird, wenn die rohe Gewalt unter den Völkern eine ebenso verfemte Sache geworden sein wird, als es die rohe Gewalt unter den menschlichen Individuen der zivilisierten Gesellschaft bereits geworden ist."

Zwei Jahre später tönt Hauptmann anders. Er teilt die patriotische Begeisterung vieler seiner Zeitgenossen und unterzeichnet das sogenannte Manifest der 93, in dem Künstler und Intellektuelle den Ersten Weltkrieg zu legitimieren suchen.

"Komm, wir wollen sterben gehen!"

dichtet der Nobelpreisträger, als sein Sohn Ivo eingezogen wird, und verfällt mit den Jahren immer mehr in nationales Pathos. Im Goethejahr 1932 hält Hauptmann Vorträge in den USA. Vor seiner Abreise nach Übersee erklärt der 70-Jährige im Rundfunk:

"Ich stehe im Dienst einer geistigen Mission an die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Ich werde dort von Johann Wolfgang Goethe reden, dessen Werk ein Weltvermächtnis ist, freilich auch ein Geschenk Deutschlands an die Welt. Deutschland ist jung, wenn es sich für jung erklärt, und wenn es seine berechtigten Hoffnungen über seine Befürchtungen stellt. Ich glaube an Deutschlands ewige Jugend!"

Zum Nationalsozialisten wird Gerhart Hauptmann nicht, zum Sympathisanten der braunen Machthaber schon, wenn auch mit ambivalenten Zügen. Hitlers "Mein Kampf" erklärt er zur Bibel des Deutschtums, hält seinen jüdischen Freunden gleichwohl die Treue.

Im Juni 1946 stirbt Gerhart Hauptmann in seinem nun auf polnischem Staatsgebiet liegenden Haus am Fuße der Schneekoppe. Ein halbes Jahr vor Kriegsende hatte er noch verkündet:

"Der Führer kennt meine Achtung vor seiner gewaltigen, schicksalhaften Persönlichkeit."

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