Der RIAS als kritischer Begleiter
Nach über sechs Jahrzehnten trennt sich Deutschlandradio Kultur von einem Stück Rundfunkgeschichte - und ist nicht mehr über den ehemaligen RIAS-Standort in Berlin-Britz zu hören. Der scheidende Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse erinnert sich an die bedeutende Rolle des Senders in der DDR.
Jörg Degenhardt: Heute, am 4. September 2013, wird ein Kapitel Rundfunkgeschichte endgültig zugeklappt. Nach über sechs Jahrzehnten stellt unser Haus den Sendebetrieb aus Berlin-Britz ein. Das heißt natürlich nicht, dass Sie Deutschlandradio Kultur nicht mehr hören können; das heißt nur, aber immerhin: nicht mehr auf der Mittelwelle 990 Kilohertz. Von dort kam 67 Jahre lang das Programm: anfangs das des RIAS, anschließend das von Deutschlandradio Berlin beziehungsweise Deutschlandradio Kultur.
Wir wollen zurückschauen auf eine Zeit, in der das Radio und speziell das Programm von RIAS Berlin half, Mauern zu überwinden, als die Kollegen hier das Informationsloch füllten, das die DDR-Medien drüben jeden Tag aufs neue anlegten. Und nicht zu vergessen die Musik vom Klassenfeind, die auch über den Sender Britz in den Osten gelangte. Wolfgang Thierse ist am Telefon, der scheidende Vizepräsident des Deutschen Bundestages, bekanntermaßen im Osten aufgewachsen. Wann und wo haben Sie zum ersten Mal das RIAS-Programm gehört?
Wolfgang Thierse: Ich bin ja weit weg von Berlin aufgewachsen, im Süden Thüringens, in einer Kleinstadt, und wenn ich mich richtig erinnere, ist mir der RIAS schon relativ früh ein Begriff geworden, weil mein Vater natürlich immer Nachrichten hören wollte und Kommentare und der RIAS ja gestört wurde von DDR-Störsendern, was den unangenehmen, aber zu meiner politischen Bildung beitragenden Effekt hatte, dass mein Vater immer, wenn Nachrichten kamen und zum Beispiel ein Kommentar von Egon Bahr, am Tisch Ruhe befahl und wir gezwungen waren zuzuhören und anschließend dem Vater dumme oder intelligente Fragen zum Gehörten stellten. Das verbinde ich mit dem RIAS und namentlich auch das Jahr 1953, 17. Juni, die Meldungen über das, was in der DDR in Berlin passierte, weit weg von der Kleinstadt, aber was natürlich uns aufregte, meinen Vater vor allem, und uns sehr beschäftigte.
Degenhardt: Welchen Stellenwert hatte das Programm für die Hörer insgesamt in der DDR? Sie haben sich ja sicherlich auch mit anderen ausgetauscht über das, was Sie gehört haben.
Thierse: Ja, das tat man natürlich hinter vorgehaltener Hand und nicht allzu offenherzig. Es gab ja
immer irgendwelche Leute, die einen dann verpfiffen, dass man Westen hörte. RIAS zu hören, war zwar sehr verbreitet, aber man versuchte, es doch geheim zu halten, weil es eben gelegentlich mit Sanktionen verbunden war.
Es gab ja richtige Aktionen gegen das RIAS-Hören, die Störsender gegen Westfernsehen anschauen, man stürzte Antennen von den Dächern und so weiter. Der RIAS war, zumal für Ost-Berliner – ich bin ja dann ‘64 nach Berlin gekommen – natürlich ein selbstverständlicher alltäglicher Begleiter ihres Lebens.
Degenhardt: Nun gab es ja aus Ostsicht verschiedene Westsender. Gab es etwas, was speziell den RIAS so einmalig machte?
Wir wollen zurückschauen auf eine Zeit, in der das Radio und speziell das Programm von RIAS Berlin half, Mauern zu überwinden, als die Kollegen hier das Informationsloch füllten, das die DDR-Medien drüben jeden Tag aufs neue anlegten. Und nicht zu vergessen die Musik vom Klassenfeind, die auch über den Sender Britz in den Osten gelangte. Wolfgang Thierse ist am Telefon, der scheidende Vizepräsident des Deutschen Bundestages, bekanntermaßen im Osten aufgewachsen. Wann und wo haben Sie zum ersten Mal das RIAS-Programm gehört?
Wolfgang Thierse: Ich bin ja weit weg von Berlin aufgewachsen, im Süden Thüringens, in einer Kleinstadt, und wenn ich mich richtig erinnere, ist mir der RIAS schon relativ früh ein Begriff geworden, weil mein Vater natürlich immer Nachrichten hören wollte und Kommentare und der RIAS ja gestört wurde von DDR-Störsendern, was den unangenehmen, aber zu meiner politischen Bildung beitragenden Effekt hatte, dass mein Vater immer, wenn Nachrichten kamen und zum Beispiel ein Kommentar von Egon Bahr, am Tisch Ruhe befahl und wir gezwungen waren zuzuhören und anschließend dem Vater dumme oder intelligente Fragen zum Gehörten stellten. Das verbinde ich mit dem RIAS und namentlich auch das Jahr 1953, 17. Juni, die Meldungen über das, was in der DDR in Berlin passierte, weit weg von der Kleinstadt, aber was natürlich uns aufregte, meinen Vater vor allem, und uns sehr beschäftigte.
Degenhardt: Welchen Stellenwert hatte das Programm für die Hörer insgesamt in der DDR? Sie haben sich ja sicherlich auch mit anderen ausgetauscht über das, was Sie gehört haben.
Thierse: Ja, das tat man natürlich hinter vorgehaltener Hand und nicht allzu offenherzig. Es gab ja
immer irgendwelche Leute, die einen dann verpfiffen, dass man Westen hörte. RIAS zu hören, war zwar sehr verbreitet, aber man versuchte, es doch geheim zu halten, weil es eben gelegentlich mit Sanktionen verbunden war.
Es gab ja richtige Aktionen gegen das RIAS-Hören, die Störsender gegen Westfernsehen anschauen, man stürzte Antennen von den Dächern und so weiter. Der RIAS war, zumal für Ost-Berliner – ich bin ja dann ‘64 nach Berlin gekommen – natürlich ein selbstverständlicher alltäglicher Begleiter ihres Lebens.
Degenhardt: Nun gab es ja aus Ostsicht verschiedene Westsender. Gab es etwas, was speziell den RIAS so einmalig machte?
"Mit besonderer Intensität über die DDR berichtet"
Thierse: Der RIAS hat ja mit besonderer Intensität über die DDR berichtet, über innere Entwicklungen, und das war schon wichtig, die Aufmerksamkeit, auch der kritische Blick auf diese Seite unserer eigenen Geschichte. Westmedien waren der Ersatz für die mangelnde politische Öffentlichkeit, die mangelnde freie Presse und freien Rundfunk und Fernsehen in der DDR, und darin war der RIAS von besonderem Gewicht, weil er sich ja schon ganz früh Verdienste erworben hatte durch die kritische Begleitung des Lebens und der Politik in der DDR.
Degenhardt: Sie sprachen gerade vom kritischen Blick, Herr Thierse. War das, was vom RIAS kam, für Sie eigentlich immer glaubwürdig, oder haben Sie gelegentlich auch "Propaganda" gehört aus der Kufsteiner Straße?
Thierse: Ja natürlich. Wenn man halbwegs politisch intelligent ist, hörte man und sah Westmedien natürlich auch kritisch und hat schon unterschieden, wer hat da was berichtet, wer hat was kommentiert. Ich kann jetzt mich nicht an Namen erinnern, so auf die Schnelle, aber viele Namen waren einem vertraut und die Ansichten des einen waren einem sympathischer als die Ansichten des anderen. Also es war nicht die päpstliche Offenbarung immer, was der RIAS von sich brachte, aber es war ein ganz wichtiger Beitrag für die eigene kritische Meinungsbildung.
Degenhardt: Welche Rolle hat denn aus Ihrer Sicht auch die Tatsache gespielt, dass man im RIAS die Musik hören konnte, die man im Osten nicht bekam?
Degenhardt: Sie sprachen gerade vom kritischen Blick, Herr Thierse. War das, was vom RIAS kam, für Sie eigentlich immer glaubwürdig, oder haben Sie gelegentlich auch "Propaganda" gehört aus der Kufsteiner Straße?
Thierse: Ja natürlich. Wenn man halbwegs politisch intelligent ist, hörte man und sah Westmedien natürlich auch kritisch und hat schon unterschieden, wer hat da was berichtet, wer hat was kommentiert. Ich kann jetzt mich nicht an Namen erinnern, so auf die Schnelle, aber viele Namen waren einem vertraut und die Ansichten des einen waren einem sympathischer als die Ansichten des anderen. Also es war nicht die päpstliche Offenbarung immer, was der RIAS von sich brachte, aber es war ein ganz wichtiger Beitrag für die eigene kritische Meinungsbildung.
Degenhardt: Welche Rolle hat denn aus Ihrer Sicht auch die Tatsache gespielt, dass man im RIAS die Musik hören konnte, die man im Osten nicht bekam?
"Wir haben eine gespaltene Existenz geführt"
Thierse: Das wird für ganz viele Leute eine besondere Rolle gespielt haben. Ich war nicht so sonderlich interessiert an Schlagermusik und Popmusik und so weiter. Das habe ich so nebenbei mitgenommen. Aber ich glaube, dass es für ganz viele eine unerhörte Rolle gespielt hat, die ausdrücklich deswegen RIAS oder dann eben auch den SFB, um bei Berlin und Westberliner Sendern zu bleiben, sich angehört haben, ausdrücklich wegen der alternativen Musik, die man in der DDR nicht direkt zu hören bekam.
Sie wissen ja: Wir sind jeden Abend ausgewandert via Westfernsehen in den Westen, wir haben eine gespaltene Existenz geführt. Das wirkliche Leben fand natürlich gezwungenermaßen in der DDR statt, aber das andere Leben, das ging über die Westmedien, politische Informationen, kulturelle Informationen, Musik und so weiter, und da spielte gerade bei den Ostberlinern RIAS eine außerordentlich wichtige Rolle und auch in den übrigen Teilen der DDR, wo man ihn hören konnte. Im Tal der Ahnungslosen, in Dresden, konnte man ihn ja schlecht hören.
Degenhardt: In der Tat. Das ist Geschichte. Aus dem RIAS ist über Umwege Deutschlandradio Kultur geworden, Ost und West senden jetzt gemeinsam hier vom Hans-Rosenthal-Platz, und das bundesweit. Damals war Radiohören etwas anderes als heute. Wie sehen Sie heute, Herr Thierse, dieses Medium? Informieren Sie sich eigentlich immer noch so stark auch über das Radio?
Thierse: Ja sicher! Ich bin ein regelmäßiger Hörer des Deutschlandfunks. Das hat den Vorteil: Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur, da wird man nicht belästigt durch ständige Reklame, sondern das sind verlässliche Informationsmedien, verlässlicher als vieles andere und seriöser und informativer als viele private Rundfunkanbieter.
Degenhardt: Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Wir sprachen über den RIAS und wie wichtig das Programm für den Osten war, denn heute wird am Standort Britz die Ausstrahlung über die Mittelwelle 990 Kilohertz eingestellt. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Thierse.
Thierse: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Sie wissen ja: Wir sind jeden Abend ausgewandert via Westfernsehen in den Westen, wir haben eine gespaltene Existenz geführt. Das wirkliche Leben fand natürlich gezwungenermaßen in der DDR statt, aber das andere Leben, das ging über die Westmedien, politische Informationen, kulturelle Informationen, Musik und so weiter, und da spielte gerade bei den Ostberlinern RIAS eine außerordentlich wichtige Rolle und auch in den übrigen Teilen der DDR, wo man ihn hören konnte. Im Tal der Ahnungslosen, in Dresden, konnte man ihn ja schlecht hören.
Degenhardt: In der Tat. Das ist Geschichte. Aus dem RIAS ist über Umwege Deutschlandradio Kultur geworden, Ost und West senden jetzt gemeinsam hier vom Hans-Rosenthal-Platz, und das bundesweit. Damals war Radiohören etwas anderes als heute. Wie sehen Sie heute, Herr Thierse, dieses Medium? Informieren Sie sich eigentlich immer noch so stark auch über das Radio?
Thierse: Ja sicher! Ich bin ein regelmäßiger Hörer des Deutschlandfunks. Das hat den Vorteil: Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur, da wird man nicht belästigt durch ständige Reklame, sondern das sind verlässliche Informationsmedien, verlässlicher als vieles andere und seriöser und informativer als viele private Rundfunkanbieter.
Degenhardt: Wolfgang Thierse, Vizepräsident des Deutschen Bundestages. Wir sprachen über den RIAS und wie wichtig das Programm für den Osten war, denn heute wird am Standort Britz die Ausstrahlung über die Mittelwelle 990 Kilohertz eingestellt. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Thierse.
Thierse: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.