Der Richter vor dem Richter

Von Peter-Alexis Albrecht · 25.06.2012
Die Staatsanwaltschaft wird in der Rechtswissenschaft als objektivste Behörde der Welt bezeichnet. Ihre zentrale Aufgabe ist es, die von der Polizei vorgelegten Ermittlungsergebnisse justizförmig zu bearbeiten: durch Anklage zum Gericht oder durch Einstellung des Verfahrens.
Überraschenderweise ist die Staatsanwaltschaft völlig frei, welchen Weg sie wählt. Sie ist kreativ und betreibt in breitem Umfang Kriminalpolitik – freilich ohne verfassungsrechtlichen Auftrag. Die Not der Verfahrensfülle hat den Staatsanwalt zum Scharnier justizieller Beliebigkeit werden lassen – vornehm als Opportunität bezeichnet.

Schon früh wurde der Staatsanwalt als "Richter vor dem Richter" beschrieben. Waren 1981 noch die Hälfte aller staatsanwaltschaftlichen Verfahren Anklagen und Anträge auf Strafbefehl, ist dieser Anteil 2008 auf 22 Prozent aller Verfahrenserledigungen geschrumpft. Der gewaltige Rest – also fast 80 Prozent – geht den Weg einer Informalisierung, das heißt Verfahrenseinstellungen ohne echte gerichtliche Kontrolle, ohne ausreichenden Rechtsschutz, still und heimlich. Das Gerichtsverfahren wird zur seltenen Ausnahme.

Man kann es auch schärfer formulieren: Der Beschwerdemächtige singt das Lied des Reuevollen und Zahlungswilligen, er ist nach Geldbuße und Verfahrenseinstellung nicht bestraft. Vor allem die Mittellosen und Dummen bleiben im Netz der Strafjustiz hängen.

Ist doch gut, wird oft gesagt, ist doch Entkriminalisierung auf stillem Wege. Was wollt ihr noch? Der Rechtsstaat darf indes so nicht argumentieren. Es gibt immerhin noch das Gleichheitsprinzip (Art. 3 GG) und das verfassungsrechtliche Gebot, wonach die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist (Art. 92 GG). Das nennt man alteuropäisch auch Gewaltenteilung, was richtig und gut ist.

Nur der Richter ist von der Verfassung als einigermaßen unabhängig für seine Entscheidungen ausgestattet. Der Staatsanwalt hingegen hängt ab von der politischen Interessenlage der Exekutive. Es liegt beim Justizminister zu bestimmen, ob und was eingestellt und was gerichtlich verfolgt wird.

Was wäre der richtige Weg? Die Staatsanwaltschaften müssten entlastet werden. Sofort. Sie sind die von der Politik eingerichteten Reparaturanstalten für Staat und Gesellschaft – aber eben nur scheinbar. Drogenmissbrauch, Jugendgewalt, Alkoholismus, unlautere Wirtschaftsmethoden, politischer Extremismus, all diese gesellschaftlichen Baustellen sollen abgewickelt werden – auch durch Einstellung von Verfahren, was organisatorisch entlastet und nebenbei, so hofft man, eine präventive Wirkung haben möge.

Aber das ist noch nicht alles an Reparaturaufträgen: Hunderte von Nebengesetzen – von der Hackfleischordnung bis zur Weinpanscherei, soweit die politische Fantasie reicht – sind den Staatsanwaltschaften zur Bearbeitung aufgegeben. Dem einzelnen Staatsanwalt droht Verfolgung wegen Strafvereitelung, wenn er sich dem widersetzt.

Dieser Aufgabenfülle kann niemand gerecht werden, auch nicht die objektivste Behörde der Welt. Strafrecht kann niemals die Gesellschaft steuern, es kann nur schweres Unrecht öffentlich kenntlich machen. Aber das geht nicht millionenfach, sondern nur in rechtsstaatlicher öffentlicher Hauptverhandlung. Geschieht dies unter dem Ladentisch, ist das Teppichhandel.

Am allermeisten belasten die Staatsanwaltschaften heute Fälle von Verwaltungsunrecht, Straßenverkehrsunrecht, Verstöße gegen die Wirtschaftsordnung: Das ließe sich oft durch Verwaltungsentscheidungen oder Zivilgerichte sachgerecht erledigen, aber auch durch sinnvolle sozialpolitische Hilfestellungen – wie zum Beispiel im Bereich des Rauschdrogenkonsums.

Wenn der Gesetzgeber demgegenüber sein Heil im Strafrecht sucht, dann sprengt er damit das System der Kriminaljustiz. Die Falllast ist nicht mehr zu bewältigen. Das Strafrecht durch Entkriminalisierung auf Kernsachen zu konzentrieren, also auf real Sozialschädliches und Menschenrechtswidriges, ist das Gebot der Stunde. Dann kann sich die Staatsanwaltschaft auf ihre eigentliche Aufgabe, die Strafverfolgung, stützen. Und erst dann kann die unabhängige Justiz in öffentlichen Verfahren der Gerechtigkeit dienen – jenseits von Mauschelei im Stile eines Teppichhandels.

Peter Alexis Albrecht, geboren 1946, ist Jurist, Sozialwissenschaftler und Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsgebiete sind das Strafrecht in seinen Grundlagenbezügen zur Kriminologie, zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie sowie die Methoden empirischer Sozialwissenschaften zur Erforschung der Wirkungsweisen des Kriminaljustizsystems.

Veröffentlichungen u.a.: "Die vergessene Freiheit" (2. Auflage, 2006) und "Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft – Auf der Suche nach staatskritischen Absolutheitsregeln" (2010).

Peter-Alexis Albrecht ist Herausgeber und Schriftleiter der Zeitschrift "Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft".
Prof. Dr. Peter Alexis Albrecht
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