Der Riese, der aus dem Wasser steigt

Von Guylaine Tappaz |
Zwei große, lebensechte Marionetten von 14 bzw. 7 Metern laufen ab morgen vier Tage lang durch die Straßen Berlins, um den Fall der Mauer zu feiern. Die Riesen aus Frankreich gehören zur Straßentheatertruppe "Royal de Luxe". Ihr Erfinder ist Jean-Luc Courcoult.
"Ich habe dieses einfache, kindliche Bedürfnis, Menschen träumen zu lassen, der Realität eine andere Dimension zu geben."

Jean-Luc Courcoult ist im Hauptquartier von Royal de Luxe gerade von seinem Motorroller abgestiegen. 54 Jahre alt, quietschgelbes Hemd, knallrosa Leinenjacke – und: eine riesige rechteckige Brille mit gelb getönten Gläsern.

In den stillgelegten Schiffwerfthallen der Hafenstadt Nantes an der Loire herrscht Hochbetrieb. Der Tiefseetaucher und die kleine Riesin – die zwei "Solisten" von Jean-Luc Courcoult und seiner Theatertruppe - werden für ihren Auftritt in Berlin vorbereitet – sprich auseinander genommen.

"Das ist das Skelett des Tiefseetauchers – also, der Torso nur. Allein der obere Teil ist neun Meter groß. Noch sieht es wie ein Haufen Metall aus, weil er nicht angezogen ist. Der Hals ist beweglich und misst wahrscheinlich ein Meter. Du kannst Dir die Größe des Kopfes vorstellen..."

Nein, so lange man es nicht gesehen hat, ist es kaum möglich, sich die Riesen von Royal de Luxe vorzustellen. Der Tiefseetaucher zum Beispiel ist 14 Meter hoch, wiegt 2,5 Tonnen und geht tatsächlich ins Wasser. Ein regelrechtes Konstruktionswunder.

Doch das Faszinierendste dabei ist, wie menschenähnlich die Puppen sich bewegen: sie laufen naturgetreu, blinzeln, atmen sogar. Bis zu 30 Mann, im Royal de Luxe Jargon "Liliputaner", ziehen auf Kommando dafür an Seilwinden. Ob in Nantes, Santiago de Chile oder London - der Auftritt der Riesen, der über drei Tage geht und die Sperrung zahlreicher Straßen benötigt, ist immer ein Volksfest.

"Ich liebe Theater, könnte aber nicht in einem Saal Theater machen. Ich würde Platzangst bekommen! Vor allem aber: Auf der Straße erreicht man Menschen aus allen Alterstufen, Berufen, Sozialschichten. Deswegen mache ich Straßentheater."

Jean-Luc Courcoult führt in den sogenannten Speicher der Compagnie… eine Halle voll mit staubigen Überresten vergangener Auftritte: ein übergroßer Ventilator, der mal einen Fallschirm mit Luft gefüllt hat, eine komplexe Duftmaschine, der Kopf des allerersten Riesen aus dem Jahr 1993 – noch viel weniger elaboriert als die jetzigen. In dieser Fundgrube stecken 30 Jahre Royal de Luxe.
"Wir haben uns ‚Royal de Lux' genannt, weil wir am Anfang nichts verdienten. Wir mussten ja betteln. ‚Royal de Luxe’ zu heißen zeugte für uns... wie soll ich sagen... von Größe! (Lachen). Aber der Name passt heute noch gut zu uns – oder?"

Theater machen war damals für den Vater von Courcoult – einen Militär – nur "Schwachsinn". Egal. Nach ersten Projekten mit anderen Straßentheatertruppen gründet Courcoult mit 24 Jahren seine eigene. Das fehlende Geld zwingt die in Südfrankreich ansässige Compagny, kreativ zu werden. Badewannen, Staubsauger oder Betten werden zu Figuren aus einer außergewöhnlichen Welt à la Jules Verne... alles noch nach menschlichen Maßstäben.

Royal de Luxe ist ein Kind von 1968 – die Künstler lebten in einer Kommune, besetzten erst ein zerfallendes Schloss. 1989 stellt die Stadt Nantes der Truppe einen 10.000 Quadratmeter großen Hangar zur Verfügung – und bald auch eine Förderung. Es folgt die Anerkennung – mit Auftritten auf dem Theaterfestival von Avignon, bald auch in Lateinamerika, Afrika – und auch China.
Je nach Produktion – es gibt welche ohne Riesen – arbeiten 12 bis 100 Künstler, Maschinenbauer, Akrobaten mit.

"Ich bin Regisseur und gleichzeitig Autor. Dafür lese ich sehr viel über die Geschichte der jeweiligen Länder, das kollektive Unterbewusstsein, das finde ich spannend. Ich bin aber vor allem, wie jeder hier, ein Handwerker, ein Erfinder im altmodischen Sinn - selbst wenn ich die Maschinen nicht mehr selbst herstelle."

In Berlin wird Jean-Luc Courcoult das Märchen eines Wiedersehens erzählen: Nach langer Trennung treffen sich der Tiefseetaucher und die kleine Riesin am Brandenburger Tor. Davor wandern sie beide auf der Suche nacheinander - jeweils in Ost- und Westberlin. Jean-Luc Courcoult ist schon ein bisschen bange davor.

Den Auftritt seiner zwei Riesen wird er - wie immer - auf seinem Motorroller begleiten... und zusehen, dass alles so klappt, wie er es sich erträumt hat.

"Es ist ein masochistischer Beruf. Das tut manchmal weh, aber das tut auch so gut... live im Publikum... Da sage ich mir, wir haben was erreicht."

Service:
Die Riesen kommen – Ein Märchen für Berlin
Das Theaterspektakel zu 20 Jahre Mauerfall
1. bis 4. Oktober 2009 an verschiedenen Orten in Berlin
Eintritt frei
Genauere Informationen zum Ablaufplan unter:
http://www.riesen-in-berlin.de/