Der Ritter von der traurigen Gestalt

Von Frieder Reininghaus |
Jules Massenets Oper "Don Quichotte" fußt nicht auf Cervantes' Roman, sondern auf ein gleichnamiges Drama von Jacques le Lorrain. Das Geschehen wird hier verkürzt auf fünf Tableaus. In Brüssel kam es jetzt zu einer Neuinszenierung.
Als der Franzose Jules Massenet 1910 seinen "Don Quichotte" komponierte, befand er sich auf dem Höhepunkt seines Ruhms. Als Vorlage benutzte er nicht Cervantes Roman, sondern ein gleichnamiges Drama von Jacques le Lorrain, das die Handlung eher auf das Lebensende des Ritters von der traurigen Gestalt konzentriert. Aber natürlich gibt es auch in der Fassung, die Massenet benutzte, jede Mange tragikomische Abenteuer, die der versponnene Don Quichotte erlebt. 1910 wurde Jules Massenets Oper in Brüssel aufgeführt – und heute Abend gab es nach 50 Jahren erstmals wieder eine Neuinszenierung.

Die belgischen Royals waren durch Prinzessin Mathilda, die künftige Königin, im ersten Rang vertreten. Das konnte den Steuerungscomputer der Bühnentechnik nicht davon abhalten, sich zu Beginn der Vorstellung abzumelden. Nach einer Stunde Zwangspause ging es dann (unter Einbuße von computergesteuerten Theatereffekten) im Handbetrieb los.

Einbußen gegenüber dem zweiteiligen Cervantes-Roman von 1605 und 1615 zeichnen auch das Libretto von Henri Cain (nach einem Bühnenstück von Jean Le Lorrain) aus: die verschlungenen Lebenspfade des Ritters von der traurigen Gestalt und seines Knappen Sancho Panza, die Phantasien Don Quichottes und sein enormer literarischer Drang reduzierten sich auf fünf Tableaus.

Dabei hat sich auch noch ein grundsätzliches Missverständnis eingeschlichen: Die Verbürgerlichung und Travestie der Dulcinea-Figur vom häßlichen Landmädel zur schönen Kurtisane in der Stadt (auf diese Verschiebung war der Komponist besonders stolz; er traf damit zwar 1910 den Nerv seines französischen Publikums, verärgerte jedoch den deutschen Musikforscher Carl Dahlhaus).

Nachdem Regisseur Laurent Pelly zunächst Don Quichotte einsam lesend auf einem solistischen Stuhl zeigte, tritt die morgenschöne Silvia Tro Santafé als Dulcinée hoch über einem Papierberg auf dem Balkon vor ihre Verehrer und Liebhaber (ein allerliebstes Quartett hoher Stimmen!).

Papierberge bestimmen auch die Landschaft, in der José van Dam als Titelheld dann gegen die Windmühlenflügel fechten muss und auf die Räuber trifft, denen er das Dulcinée gestohlene Diamantencollier wieder entreißen soll. Der Herrenclub, ausstaffiert wie Banquiers zur Zeit der Uraufführung des Werks vor hundert Jahren, überwältigt und fesselt Don Quichotte an seine Lanze. Doch er rührt sie zu inbrünstiger Gläubigkeit und entlockt ihnen das Geschmeide. Was aber Dulcinée nicht dazu bewegen kann, ihn zu erhören. Einsam, getröstet freilich von Sancho, stirbt der anachronistische Held, während der weiße Papierberg etwas abschmilzt.

So rundet sich eine schön dekorierte Produktion. Marc Minkowski kurbelt die Hispanidad der Musik kräftig an und kostet die ausschweifenden elegischen Episoden aus, in denen die in der Tiefe bereits etwas brüchige, in den Mittellagen aber fortdauernd anrührende Stimme von José van Dam dominiert. Er wird, optisch angenähert an Fjodor Schaljapin bei der Uraufführung 1810 in Monte Carlo, dauerhaft in Erinnerung bleiben.