Der rohe, animalische Junge aus dem Wald
Erst ist es nur ein Gerücht. Doch dann wird es zur Gewissheit. Im Wald lebt ein Kind, nackt, schmutzig und wild. Sein Blick: "fremd, gestört, hassenswert".
Kälte und Regen scheinen dem Jungen nichts anzuhaben. Doch er meidet die Menschen. Binnen kürzester Zeit wird das wilde Kind zur Legende. Dann fangen ihn Holzfäller und damit beginnt eine lange Leidensgeschichte, eine Geschichte vom Versagen der Aufklärung, dem Egoismus der Wissenschaft, vom Zerbrechen eines Menschen.
Der amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle hat sich für seine Novelle "Das wilde Kind" keine neue Geschichte ausgedacht. In Frankreich im Jahr 1797, kurz nach Ende der Revolution, wird im ländlichen Languedoc ein völlig verwildertes Kind aufgegriffen, das als "L'enfant sauvage" in die Geschichtsbücher eingeht.
Eigentlich, so erfindet Boyle, hatte seine Mutter es umbringen wollen. Doch das Messer, mit dem sie ihm die Kehle durchschneiden wollte, durchtrennte nur die Stimmbänder. Der Knabe überlebt, verkriecht sich im Wald, lernt wie ein Tier mit der Natur zu leben.
Seine Gefangennahme sieht er nicht als Rettung, sondern als Bedrohung, gegen die er sich beißend, kratzend, um sich schlagend zur Wehr setzt. Immer wieder reißt er aus, wird erneut eingefangen, bis der Staat auf ihn aufmerksam wird, sich seiner annimmt.
Er kommt in ein Pariser Taubstummeninstitut und wird dort zum genau untersuchten Objekt der Wissenschaft. Abbé Sicard unternimmt alles, um aus dem Jungen, der jetzt Victor genannt wird, einen zivilisierten Menschen zu machen. Er scheitert. Für ihn ist Victor ein schwachsinniger Idiot.
Daraufhin versucht sein Mitarbeiter, der Arzt Itard, mit einer Mischung aus Zwang und Freundlichkeit, den Jungen zu erziehen. Doch auch er versagt. Victor lernt zwar rudimentäre Regeln wie Kleidung zu tragen, aus einer Schüssel zu essen, nichts ins Zimmer zu defäkieren, weigert sich aber beharrlich, lesen zu lernen, versucht wiederholt zu fliehen, verirrt sich im Steinwald von Paris.
Er scheint nie ein Bewusstsein für sich selbst, eine Identität zu besitzen. Als er dann in der Pubertät in aller Öffentlichkeit onaniert, wird Victor aus dem Institut verstoßen, der Haushälterin übergeben. An Leib und Seele gebrochen vegetiert er vor sich hin und stirbt schließlich mit 40. "Einst war er die Sensation von Paris gewesen, doch nun war er vergessen."
T.C. Boyle erzählt Victors Leidensweg in der dritten Person, und zwar so, als sähe er die Welt mit dessen Augen. Er verklärt ihn nicht, verweigert ihm aber genauso wenig Mitgefühl, Mitempfinden.
Die Rohheit des Knaben, seine Unwilligkeit zu lernen, seine animalischen Gelüste – für den Schriftsteller ist er kein Rousseauscher "Edler Wilder". Er ist Natur pur, die Zwänge der Zivilisation bringen ihn um.
Für die Wissenschaft ist er nur ein Objekt und als er sich nicht verbiegen lässt, wird er fallengelassen. Es ist, als ob T.C. Boyle sagen wollte: Was wir nicht verstehen, verstoßen wir. Eine schmale Novelle, ein großes Thema, aufrührend, zum Nachsinnen anregend, mit grimmiger Intensität erzählt.
Besprochen von Johannes Kaiser
T.C.Boyle: Das Wilde Kind
Aus dem Amerikanischen Dirk van Gusteren
Hanser Verlag, München 2010
106 Seiten, 12,90 Euro
Der amerikanische Schriftsteller T.C. Boyle hat sich für seine Novelle "Das wilde Kind" keine neue Geschichte ausgedacht. In Frankreich im Jahr 1797, kurz nach Ende der Revolution, wird im ländlichen Languedoc ein völlig verwildertes Kind aufgegriffen, das als "L'enfant sauvage" in die Geschichtsbücher eingeht.
Eigentlich, so erfindet Boyle, hatte seine Mutter es umbringen wollen. Doch das Messer, mit dem sie ihm die Kehle durchschneiden wollte, durchtrennte nur die Stimmbänder. Der Knabe überlebt, verkriecht sich im Wald, lernt wie ein Tier mit der Natur zu leben.
Seine Gefangennahme sieht er nicht als Rettung, sondern als Bedrohung, gegen die er sich beißend, kratzend, um sich schlagend zur Wehr setzt. Immer wieder reißt er aus, wird erneut eingefangen, bis der Staat auf ihn aufmerksam wird, sich seiner annimmt.
Er kommt in ein Pariser Taubstummeninstitut und wird dort zum genau untersuchten Objekt der Wissenschaft. Abbé Sicard unternimmt alles, um aus dem Jungen, der jetzt Victor genannt wird, einen zivilisierten Menschen zu machen. Er scheitert. Für ihn ist Victor ein schwachsinniger Idiot.
Daraufhin versucht sein Mitarbeiter, der Arzt Itard, mit einer Mischung aus Zwang und Freundlichkeit, den Jungen zu erziehen. Doch auch er versagt. Victor lernt zwar rudimentäre Regeln wie Kleidung zu tragen, aus einer Schüssel zu essen, nichts ins Zimmer zu defäkieren, weigert sich aber beharrlich, lesen zu lernen, versucht wiederholt zu fliehen, verirrt sich im Steinwald von Paris.
Er scheint nie ein Bewusstsein für sich selbst, eine Identität zu besitzen. Als er dann in der Pubertät in aller Öffentlichkeit onaniert, wird Victor aus dem Institut verstoßen, der Haushälterin übergeben. An Leib und Seele gebrochen vegetiert er vor sich hin und stirbt schließlich mit 40. "Einst war er die Sensation von Paris gewesen, doch nun war er vergessen."
T.C. Boyle erzählt Victors Leidensweg in der dritten Person, und zwar so, als sähe er die Welt mit dessen Augen. Er verklärt ihn nicht, verweigert ihm aber genauso wenig Mitgefühl, Mitempfinden.
Die Rohheit des Knaben, seine Unwilligkeit zu lernen, seine animalischen Gelüste – für den Schriftsteller ist er kein Rousseauscher "Edler Wilder". Er ist Natur pur, die Zwänge der Zivilisation bringen ihn um.
Für die Wissenschaft ist er nur ein Objekt und als er sich nicht verbiegen lässt, wird er fallengelassen. Es ist, als ob T.C. Boyle sagen wollte: Was wir nicht verstehen, verstoßen wir. Eine schmale Novelle, ein großes Thema, aufrührend, zum Nachsinnen anregend, mit grimmiger Intensität erzählt.
Besprochen von Johannes Kaiser
T.C.Boyle: Das Wilde Kind
Aus dem Amerikanischen Dirk van Gusteren
Hanser Verlag, München 2010
106 Seiten, 12,90 Euro