Der rote Terror
1946 verurteilten die Vereinten Nationen jeglichen Völkermord als ein "Verbrechen nach dem Völkerrecht [ ... ], ob er aus religiösen, rassischen, politischen oder irgendwelchen anderen Gründen begangen wurde". Die Sowjetunion wehrte sich jedoch gegen die Aufnahme politischer Gruppen in die Völkermord-Definition und erreichte, dass sich die UN-Konvention von 1948 auf "nationale, ethnische, rassische oder religiöse" Opfer beschränkte.
Seither galt es als problematisch, die Verbrechen des Stalin-Regimes samt 10 bis 20 Millionen Toten als Genozid zu klassifizieren. Befürchtet wurde bisweilen auch die Relativierung des Holocaust. Norman M. Naimark indessen hält nichts von solchen Bedenken und begründet in "Stalin und der Genozid", warum der rote Terror zu den "Verbrechen der Verbrechen" zu zählen ist.
Das Buch fügt scharf umrissene Module zusammen. Im begriffsgeschichtlichen Teil wird der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin vorgestellt, der bereits in den 20er-Jahren über genozidale Verbrechen geschrieben hat. Vor dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse zeigt Naimark, wie der Genozid zum Synonym für die Ermordung der Juden wurde und wie die Sowjets diesen Umstand im Streit um die UN-Konvention ausnutzten. Das Kapitel "Werdegang eines Völkermörders" bietet ein Porträt Stalins, von dem Naimark sagt: "Es schien, als ob ihm der Stirnlappen im Gehirn fehlte, der Sitz des Mitgefühls für seine Opfer."
Anhand von fünf Ereignissen skizziert Naimark den Charakter des Stalinschen Terrors, der nicht auf Rassen-, sondern auf Klassenwahn gründete. Im Rahmen der Kollektivierung wurden Anfang der 1930er-Jahre wohlhabende Bauern zu "Kulaken" stilisiert und als Klasse liquidiert: 30.000 Personen wurden erschossen, Millionen deportiert, viele starben im Gulag. Einige Jahre später bekämpfte das Regime "gemeinschaftsfremde" Menschen; der Befehl 00447 schrieb Hinrichtungsquoten vor. Im "Holodomor", der Hungersnot in der Ukraine 1932/33, gegen die das Regime nichts unternahm, starben wiederum Millionen. Im Großen Terror von 1937/38 ließ Stalin schließlich große Teile der kommunistischen Eliten, des Offizierskorps und der Nomenklatura liquidieren.
Weil dieses Faktengerüst grundsätzlich bekannt ist, liegt die Originalität von "Stalin und der Genozid" in der begriffspolitischen Operation. Naimark nimmt die historische Abschwächung der Völkermord-Definition zurück und nutzt das weite Verständnis, um die sowjetischen Verbrechen als Genozid zu brandmarken. Er vergleicht kommunistische und nationalsozialistische Gräueltaten, ohne sie gleichzusetzen. Der Holocaust bleibt für Naimark "der extremste Fall von Genozid", der Völkermord an den Sowjetbürgern sei dagegen als eine "Serie miteinander zusammenhängender Aktionen gegen 'Klassenfeinde' und 'Volksfeinde'" zu begreifen.
"Stalin und der Genozid" führt kompetent in die Geschichte des sowjetischen Terrors ein. Störend wirkt, dass Naimark seine überzeugende Genozid-These gebetsmühlenartig wiederholt, ohne zu benennen, wer ihm widersprechen würde. Plausibel erscheint wiederum die Konzentration auf die Täter. Denn mit Blick auf die Millionen Toten hat jeder Streit darüber, welchen Titel man heute den Verbrechen gibt, denen sie einst zum Opfer fielen, etwas frustrierend Akademisches.
Über den Autor: Norman M. Naimark ist Professor an der Universität Stanford, Kalifornien, und lehrt Osteuropäische Geschichte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der sowjetischen Politik in Europa und der vergleichenden Geschichte des Völkermords sowie der ethnischen Säuberungen im 20. Jahrhundert. Naimark hat unter anderem Die Russen in Deutschland (1996) und Flammender Hass (2004) geschrieben.
Besprochen von Arno Orzessek
Norman M. Naimark: Stalin und der Genozid
Aus dem Amerikanischen von Kurt Baudisch
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
157 Seiten, 16,90 Euro
Das Buch fügt scharf umrissene Module zusammen. Im begriffsgeschichtlichen Teil wird der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin vorgestellt, der bereits in den 20er-Jahren über genozidale Verbrechen geschrieben hat. Vor dem Hintergrund der Nürnberger Prozesse zeigt Naimark, wie der Genozid zum Synonym für die Ermordung der Juden wurde und wie die Sowjets diesen Umstand im Streit um die UN-Konvention ausnutzten. Das Kapitel "Werdegang eines Völkermörders" bietet ein Porträt Stalins, von dem Naimark sagt: "Es schien, als ob ihm der Stirnlappen im Gehirn fehlte, der Sitz des Mitgefühls für seine Opfer."
Anhand von fünf Ereignissen skizziert Naimark den Charakter des Stalinschen Terrors, der nicht auf Rassen-, sondern auf Klassenwahn gründete. Im Rahmen der Kollektivierung wurden Anfang der 1930er-Jahre wohlhabende Bauern zu "Kulaken" stilisiert und als Klasse liquidiert: 30.000 Personen wurden erschossen, Millionen deportiert, viele starben im Gulag. Einige Jahre später bekämpfte das Regime "gemeinschaftsfremde" Menschen; der Befehl 00447 schrieb Hinrichtungsquoten vor. Im "Holodomor", der Hungersnot in der Ukraine 1932/33, gegen die das Regime nichts unternahm, starben wiederum Millionen. Im Großen Terror von 1937/38 ließ Stalin schließlich große Teile der kommunistischen Eliten, des Offizierskorps und der Nomenklatura liquidieren.
Weil dieses Faktengerüst grundsätzlich bekannt ist, liegt die Originalität von "Stalin und der Genozid" in der begriffspolitischen Operation. Naimark nimmt die historische Abschwächung der Völkermord-Definition zurück und nutzt das weite Verständnis, um die sowjetischen Verbrechen als Genozid zu brandmarken. Er vergleicht kommunistische und nationalsozialistische Gräueltaten, ohne sie gleichzusetzen. Der Holocaust bleibt für Naimark "der extremste Fall von Genozid", der Völkermord an den Sowjetbürgern sei dagegen als eine "Serie miteinander zusammenhängender Aktionen gegen 'Klassenfeinde' und 'Volksfeinde'" zu begreifen.
"Stalin und der Genozid" führt kompetent in die Geschichte des sowjetischen Terrors ein. Störend wirkt, dass Naimark seine überzeugende Genozid-These gebetsmühlenartig wiederholt, ohne zu benennen, wer ihm widersprechen würde. Plausibel erscheint wiederum die Konzentration auf die Täter. Denn mit Blick auf die Millionen Toten hat jeder Streit darüber, welchen Titel man heute den Verbrechen gibt, denen sie einst zum Opfer fielen, etwas frustrierend Akademisches.
Über den Autor: Norman M. Naimark ist Professor an der Universität Stanford, Kalifornien, und lehrt Osteuropäische Geschichte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der sowjetischen Politik in Europa und der vergleichenden Geschichte des Völkermords sowie der ethnischen Säuberungen im 20. Jahrhundert. Naimark hat unter anderem Die Russen in Deutschland (1996) und Flammender Hass (2004) geschrieben.
Besprochen von Arno Orzessek
Norman M. Naimark: Stalin und der Genozid
Aus dem Amerikanischen von Kurt Baudisch
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
157 Seiten, 16,90 Euro