Kleines Glück im Grünen
28:57 Minuten
600 Quadratmeter mit Schuppen: Das bekamen in der Sowjetunion einst Arbeiter zugeteilt - als Sommerhaus und zum Beackern. Rasch wurde die Datscha russisches Kulturgut und sie ist es bis heute. Und aus manchen Hütten sind Paläste geworden.
Es ist Samstagmittag, und ich begleite Nikolaj auf seine Datscha. Er ist Rentner, arbeitet aber noch in Teilzeit als Fahrer. Gerade hat er Feierabend und fährt hinaus in sein kleines Refugium, in dem er – so wie die meisten russischen Rentner – den gesamten Sommer verbringt: "In unserer Genossenschaft haben wir 550 Parzellen", sagt er.
Aus alten Schuppen wurden Oasen
Nikolaj trägt ein sportliches T-Shirt über seinem runden Bauch, seinen runden kahlen Kopf lässt er unbedeckt. Er sagt Genossenschaft, wenn er über die Datschensiedlung redet, Tovarischestvo, nach dem Tovarisch, dem Genossen.
"Das stammt noch aus den Zeiten der Sowjetunion, als alle Kommunisten waren. Da wurden die Leute zu Gärtnern gemacht, damit sie das Land beackern. Ihnen wurden Grundstücke zugeteilt."
Und die haben die Russen in grüne Wochenendoasen verwandelt. Die russische Datscha war Vorbild für andere sozialistische Staaten, auch für die DDR – sogar der Name ist bis heute international gängig: Datscha.
Einige Grundstücke sind verwildert
Wir sind in Taganrog, einer 250.000-Einwohnerstadt im Süden Russlands am Asowschen Meer, nahe der Grenze zur Ukraine. Nikolaj nimmt die Ausfallstraße.
Nach 20 Minuten biegt er auf einen Kiesweg ein. Rechts und links ragen Sträucher über Gartenzäune. Ein alter Lada kommt uns entgegen. Auf dem Dach lange Latten, die vorn und hinten überhängen. Auf vielen Parzellen wird gebaut. Auf anderen stehen neue große Häuser. Einige Grundstücke sind verwildert. Die Siedlung heißt schlicht "Gärten 1". Die Wege verlaufen schnurgerade und sind durchnummeriert.
"Unsere Genossenschaft ist fast 60 Jahre alt, 57, wenn ich mich nicht irre. Früher gehörte sie zu einer Mähdrescherfabrik. Die war groß, da haben bis zu 26.000 Leute gearbeitet. Sie erhielten die Grundstücke hier. Irgendwann hat die Fabrik zugemacht. Die ehemaligen Arbeiter sind teils weggezogen, teils gestorben, viele Grundstücke wurden verkauft. Die Leute hier sind jetzt bunt gemischt."
Zwei Zimmer, Küche, Bad im Grünen
Nikolaj ist einer der Neuen. Er hat sein Grundstück vor zwölf Jahren gekauft. Er biegt in die "Allee Nr. 3" ein und hält vor einer grünen Pforte. Wir sind da.
Wein rankt üppig über den Carport. Obstbäume biegen sich unter der Last der Früchte: Aprikosen, Äpfel, Kirschen, Pflaumen, Pfirsiche. Die Stachelbeeren tragen ebenso wie Johannisbeeren und Himbeeren. Am Boden Sellerie, Sauerampfer, Radieschen. Rosenstöcke säumen den Weg zum Haus.
Als Nikolaj das Grundstück gekauft hat, stand dort nur ein Schuppen, so wie zu Sowjetzeiten üblich. Er hat ihn durch ein gemauertes Einfamilienhaus ersetzt, mit zwei Zimmern, Bad und Küche.
Seine Frau Natalija tritt vor die Tür. "Mein Mann ist so fleißig, er arbeitet immer. Ich wundere mich, woher er die Kraft nimmt. Es ist ja immer etwas zu tun: Aufräumen, im Haus fegen, Unkraut zupfen, gießen."
Und Nikolaj ist ein echter Perfektionist. Hinter dem Haus hat er ein Gewächshaus gebaut, darin wachsen Tomaten und Gurken. Zwischen Weinstöcken sprießt Knoblauch, in regelmäßigem Abstand:
"Knoblauch desinfiziert. Und wir haben unseren eigenen Knoblauch für den Winter. Wir ernten ihn im Spätsommer und kellern ihn ein. Knoblauch macht sich immer gut im Garten."
Nikolaj zeigt einen Birnbaum. Er hat ihn veredelt. Er trägt verschiedene Sorten:
"Sehen Sie, hier und hier... Sechs Sorten. Und bei dem Apfelbaum genauso. Dieser Ast hier ist original, die übrigen drei Sorten habe ich aufgepfropft."
Der Agronom bestimmte einst, was gepflanzt werden sollte
Zu Sowjetzeiten wäre das undenkbar gewesen. Damals war streng reguliert, wer was anpflanzte, erzählt Nikolaj:
"In der Genossenschaft gab es einen Agronomen. Er bestimmte, welche Bäume gepflanzt wurden. Eigentlich hatten alle die gleichen Bäume. Und identische Schuppen."
In denen man auch nicht wohnen durfte. Und alle bekamen dieselbe Fläche zugeteilt: 600 Quadratmeter, "schest sotok".
"Gut war nur, dass die Genossenschaft Pestizide verteilt hat. Man hatte vier bis fünf Tage Zeit, sie einzusetzen. Ein Agronom ging herum und kontrollierte das. Es stank so sehr, es war nicht auszuhalten. Die Pestizide haben alles getötet, auch den Gärtner!"
Das Zusammenleben hat sich verändert
Die Datschniki, die Datschenbesitzer, sollten sich selbst versorgen und die notorischen Versorgungsengpässe der Sowjetunion lindern. Einer wie Nikolaj mit seinem grünen Daumen wäre damals ein Vorzeige-Datschnik gewesen. Aber diese Zeiten sind vorbei, auch das Miteinander hat sich verändert.
"Hier gab es damals nicht mal Zäune zwischen den Grundstücken. Es kannten sich ja alle von der Mähdrescherfabrik. Und es wurde viel gefeiert. Man hat sich auch einfach so zusammengesetzt, am Wochenende zum Beispiel: 'Ich habe Kartoffeln gebraten, komm rüber und bring eine Flasche mit.'"
Heute ziehen sich die Leute eher zurück. Fremde laden sie schon gar nicht ein. Zu Nikolaj bin ich dank einer Bekannten gekommen.
Eine Clique im Kerosinschein
Natalija rückt Plastikstühle auf der Terrasse zurecht und serviert Tee. Nikolaj schaufelt mehrere Löffel Zucker in seinen Becher: "Früher gab es hier nicht mal Strom, kein Wasser, nichts. Die Leute haben beim Licht einer Kerosinlampe zusammengesessen. Da musste erst mein Mann kommen. Er hat dafür gesorgt, dass die Siedlung an Trinkwasser und Gas angeschlossen wurde."
Nikolaj ging dafür extra in den Vorstand der Genossenschaft. Das kam so:
"Ich mag Komfort. Früher wurde Wasser aus dem Fluss her gepumpt, drei Mal die Woche, streng nach Plan. Es war nur zum Gießen da. Trinkwasser hatten wir nicht. Ein Bekannter von mir hat eine Firma, die Wasserleitungen verlegt. Ihn habe ich deshalb angesprochen. Er meinte: 'Wenn du Vorsitzender der Datschengenossenschaft wirst, kommen wir ins Geschäft. Mit dem jetzigen Vorsitzenden will ich nichts zu tun haben.' Der war kein anständiger Mann! Die Leute stehlen ja überall, okay. Aber er stahl nicht nur, er raubte in großem Stil."
Der Vorsitzende saß damals schon viele Jahre auf dem Posten, "und er saß zugleich in der Führungsetage der Mähdrescherfabrik. Hier liefen Summen durch, das waren Millionen! Die Mähdrescherfabrik hat noch brauchbares Baumaterial abgeschrieben und es für die Datschen verwendet. Den Gewinn haben sie geteilt. Das war eine eingeschworene Clique. Wenn hier auf der Datscha einer den Mund aufgemacht hat, dann bekam er Probleme auf der Arbeit."
"Du kannst hier machen, was du willst"
Nicht Nikolaj. Er kam ja von außen, hat nie in der Fabrik gearbeitet, war unabhängig vom Wohlwollen des Vorsitzenden und seiner Seilschaft. Zum Vorsitzenden wurde er zwar nicht gewählt, aber er machte als Vorstandsmitglied Druck. Als die Mähdrescherfabrik geschlossen wurde, erübrigte sich das Problem. Der Vorsitzende ging. Heute finanziert sich die Genossenschaft nur noch über Mitgliedsbeiträge. Und die Mitglieder genießen alle Freiheiten.
"Du kannst hier machen, was du willst. In der Siedlung wohnen auch viele Leute, ohne gemeldet zu sein. Die Ukraine ist ja gleich nebenan. Bis zur Grenze sind es nur 30 Kilometer. Viele Ukrainer arbeiten hier in der Gegend. Besonders seit dem Krieg."
Viele Ukrainer sind aus dem Separatistengebiet nach Russland geflohen. In den Datschensiedlungen wohnen sie günstiger als in den Städten.
"Hier wohnt sogar ein Afrikaner aus der Ukraine, er hat hier eine Datscha gekauft. Niemand stört sich daran. Es gibt nur eins: Du musst deinen Mitgliedsbeitrag zahlen. Ob du hier gemeldet bist oder nicht, hier wohnst oder nicht, ist völlig egal."
Manches ist verboten, na und?
Einige Datschniki bauen in der Genossenschaft sogar kommerziell Obst und Gemüse an. Das ist zwar offiziell verboten, aber so genau nimmt das niemand:
"Die Stadt ist nicht weit. Wenn einer nicht weiß, wohin mit seiner Ernte, packt er einen Korb, steigt in den Bus, fährt zum Markt und verkauft es dort."
Gerade alte Leute verdienen sich so ein Zubrot zur Rente. Einige halten sogar Hühner oder Ziegen.
Manche Datschen wirken heute wie Paläste
Nikolaj ist glücklich mit seinem Leben, mit seiner Datscha: "Ich war beruflich einige Male im Moskauer Umland unterwegs. Dort bauen sie, wonach ihnen der Sinn steht. Sogar eigene Golfplätze, meine Güte, und Paläste, da kostet allein schon das Gartentor so viel wie meine ganze Datscha."
Ich will diese Paläste sehen. Deshalb setze ich mich in Moskau in die Elektritschka. Diese Vorortzüge fahren von allen Moskauer Bahnhöfen ab, verteilen die Pendler sternförmig ins Umland und an den Wochenenden noch die gestressten Hauptstädter. Mehr als die Hälfte der Moskauer gibt an, ein Wochenenddomizil vor den Toren der Stadt zu haben.
Der Vorortzug zuckelt durch Hochhaussiedlungen. Viele Passagiere sind bepackt mit großen Taschen. Eine Frau hat ihre Katze auf dem Schoß, eine andere löst Kreuzworträtsel. Mir gegenüber sitzt ein Mann und blättert im "Fröhlichen Kleingärtner". Es ist stickig.
Fliegende Händler kommen in die Waggons. Sie verkaufen Getränke, Putzmittel, Socken, Bücher, Spielzeug.
Neben mir sitzt Irina. Sie spielt auf ihrem Telefon. Wir kommen ins Gespräch.
"Unsere Datscha steht in einem Dorf. Es ist ein Sommerhaus, im Winter sehen wir keinen Sinn, dort länger zu wohnen. Meine Tochter ist mit ihrer Oma seit Ferienbeginn dort. An der frischen Luft. Ich fahre am Wochenende nach der Arbeit hin, am Sonntag muss ich zurück nach Moskau."
Gewöhnlich fährt sie mit dem Auto. Aber das ist kaputt.
"Die Staus sind schlimm. Ich brauche drei Stunden bis zur Datscha. Und drei Stunden nach Hause. Es dauert allein anderthalb Stunden, um überhaupt aus Moskau rauszukommen! Ich würde mich ja gern auf der Datscha ausruhen, aber leider ist dort immer etwas zu tun. Wir haben zwar keine besonderen Anpflanzungen. Aber auch der Rasen und die Blumen wollen gegossen werden."
Irina hat ein Zelt dabei. Sie will an diesem Wochenende mit Freunden an einem See übernachten und grillen. Ich frage sie, ob ich mir ihre Datscha anschauen darf. Sie lehnt ab – zu privat. Wir kennen uns ja gar nicht.
Hinter dem Zugfenster wechseln sich mittlerweile Wälder und Siedlungen ab. Moskau dehnt sich aus. Reihenhaussiedlungen sind dabei, umgeben von Mauern: Gated Communities. Ganze Kleinstädte, eng bebaut, denn Bauland ist teuer, mit sogenannten Cottages, Einfamilienhäusern. Dann wieder klassische Datschen mit den obligatorischen 600-Quadratmeter-Parzellen. Klassenlos war die Datscha nie. Für Künstler, Wissenschaftler, Parteifunktionäre galten in der Sowjetunion andere Regeln als für die Arbeiter. Sie bekamen größere Grundstücke, Sahnestücke in besonders schönen Gegenden. Datschen sind Holzhütten, Container, kleine Wochenendhäuschen, Villen, Paläste.
Wochenendstau auf dem Weg zur Datscha
Die Stiftung des Oppositionspolitikers Aleksej Nawalnyj zum Kampf gegen Korruption hat vor einiger Zeit eine Drohne über die Datscha des russischen Premierministers Dmitrij Medwedew fliegen lassen. Die Aufnahmen sind im Internet zu sehen. Die Kamera gleitet über ein Bootshaus an der Wolga, einen Privatstrand, einen grünen Hügel mit Skilift. Über dutzende Häuser, einen Wald, einen Teich mit Entenhaus, einen Handballplatz, ein altes Landgut. 80 Hektar ist das Gelände groß. Umgeben von einem sage und schreibe sechs Meter hohen, blickdichten Zaun.
Datschen dieser Größenordnung sind für Reporterinnen wie mich unzugänglich. Überhaupt gilt: je feudaler die Hütte, desto höher der Zaun. Ich kenne ein paar Leute in Moskau, die Geld haben, und ich kenne Leute, die solche Leute kennen – aber keiner ist bereit, einer deutschen Journalistin Einblick zu gewähren. Mit Reichtum wird gern geprotzt, aber die Datscha ist privat.
Doch dann lädt mich Sascha ein, ihn in der Datschensiedlung Letowo im Südwesten Moskaus zu besuchen. Er ist zwar nicht reich, möchte mir aber die Häuser seiner reichen Nachbarn zeigen. Die Zufahrt zur Siedlung ist mit einer Schranke versperrt. Sascha ist Künstler und wohnt ständig auf der Datscha. Er hat dort Mitte der 90er-Jahre gebaut, in illustrer Gesellschaft.
Wir gehen spazieren. Die Wege in der Siedlung sind leer. Links und rechts Mauern. Überwachungskameras überall. Die Mauer am Ende der Straße ist noch höher als die übrigen und von Efeu überwuchert. Ich kann ein Haus sehen mit spitzem Dach, runden Ecktürmchen und Zinnen – ein richtiges kleines Schloss.
Schlösser wie im Disney-Film
"Wenn ich Besuch bekomme, höre ich immer: Wie kommt das denn hierher, das sieht ja aus wie im Disneyland. Der Mann, der das gebaut hat, hat wahrscheinlich von klein auf davon geträumt, irgendwann in einem Schloss zu leben. Das Haus ist riesig."
Auch das Gebäude gegenüber ist imposant: Ein Fachwerkhaus mit zahlreichen Erkern und Veranden.
"Die beiden Häuser gehörten zwei Brüdern. Sie haben in den 90er-Jahren irgendwelche Märkte kontrolliert. Damit sind sie reich geworden. Der Mann mit dem Schloss ist manchmal dort vorn auf dem Feld geritten. Dabei wurde er mit einem Sturmgewehr erschossen. Damals gab es ja ständig Bandenkriege und Schießereien."
Das Schloss steht heute leer, das Fachwerkhaus ist bewohnt, von wem, weiß Sascha nicht.
"Vor 20 Jahren haben die Leute hier noch miteinander geredet, das Verhältnis war enger. Heute kennt man seine Nachbarn eigentlich gar nicht mehr. Für einen Schwatz ist einfach keine Zeit. Und die Leute haben auch keine Lust."
Sascha bewohnt das wohl kleinste Haus in der Datschensiedlung. Es ist aus Ziegelstein, schmal, aber drei Stockwerke hoch. Und - eingezäunt.
"In Russland gab es immer Zäune. Sie waren mal aus Holz, wie bei mir. Aber als das individuelle Bauen begann, in den 90ern, da haben die Leute angefangen, sich abzugrenzen mit solchen Zäunen. Und natürlich gab es da Normen. Aber es ist wie immer in Russland: Die Leute beachten sie nicht. Und in der Regel kümmert sich auch niemand darum. Sie werden ja jetzt Ihren Nachbarn nicht verklagen, weil er so eine Mauer hat. Soll er doch. Mir ist das egal. Ich denke, es ist eine Tradition des russischen Menschen, sich von den Nachbarn abzugrenzen. Es geht um das Gefühl von Sicherheit. Mein Thema in der Kunst heißt übrigens 'Mein Territorium'. Auf meinem Territorium, meinem Grundstück, arbeite und wohne ich und ich fühle mich dort sicher, obwohl ich nur einen brüchigen Zaun aus Holz habe, aber er gibt mir das Gefühl von Sicherheit, von innerer Freiheit."
Griechenland statt Datscha-Urlaub
Saschas Datscha ist behaglich eingerichtet. Dielen, schwere Holzstühle, ein Kamin. Das Atelier steht voller Leinwände, auf die Mauern und Zäune gemalt sind. Durch die Fensterfront ist eine Wiese zu sehen und ein kleines Gemüsebeet mit Kräutern. Sascha hat das Häuschen ursprünglich als Wochenend-Datscha für seine Familie geplant.
"In den 90er-Jahren war die Datscha noch ein Ort, an dem man das Wochenende oder sogar den Urlaub verbrachte. Alle fuhren mit Vergnügen hin, bauten etwas an, ich erinnere mich, auch wir haben Kartoffeln gepflanzt, Gemüse und Obst, sogar Erdbeeren. Damals waren noch die Traditionen der sowjetischen Lebensart lebendig: Der Betrieb gibt dir ein Stück Land, du schleppst Brett für Brett heran und baust dir eine Laube, darin sitzt du, guckst in den Garten, den du angelegt hast, und freust dich darüber."
Als die Datscha endlich fertig war, ließ Sascha sich scheiden. Frau und Tochter blieben in der Stadtwohnung in Moskau, Sascha zog hinaus ins Grüne. Für ihn war es die optimale Lösung. Er kann in Ruhe malen. Die Urlaube verbringt er in Indien oder in Westeuropa.
Er serviert Tee, packt Kekse aus.
"Ich hatte schon Ende der 90er-Jahre die Möglichkeit, mit meiner Familie nach Italien und Griechenland zu fahren. Und schon damals wurde uns klar, dass die Datscha nicht der Ort unserer Träume ist. Dass es viel interessantere Orte auf der Welt gibt, die wir viel lieber besuchen, als im Garten zu graben. Früher haben die Leute geträumt: Wenn ich erst in Rente bin, werde ich auf der Datscha wohnen und das wird ein Paradies. Diese Bedeutung hat die Datscha schon lange verloren. Zumindest im Moskauer Umland."
Ich bin zurück im Süden Russlands, bei Taganrog nahe der Grenze zur Ukraine und dem Kriegsgebiet im Donbass. Lilija und Aleksander haben mich auf ihre Datscha nur eingeladen, aber nur, weil wir eine gemeinsame Bekannte haben. Grundvoraussetzung auch hier: Wir reden nicht über Politik, und der Nachname bleibt unerwähnt. Viele Russen sind in den letzten Jahren vorsichtig geworden im Umgang mit deutschen Journalisten. Die zehnjährige Tochter Vasilisa öffnet das Tor.
Selbstverwirklichung im Blockhaus
Die Datscha ist ein Blockhaus, wenige Jahre alt. Die Stämme sind dunkel lackiert, der Eingang überdacht. Alles ist rechtwinklig. Die Gehwegplatten, die Auffahrt für zwei Autos. In der Ecke steht ein zweites Blockhaus, hinten ein Schuppen. Für Grün ist wenig Platz, etwas Rasen, einige Obstbäume.
Lilija begrüßt mich herzlich und bietet als erstes einen Milchshake an. Sie ist Ende 40 und trägt ein bequemes langes T-Shirt.
In der Küche ist es angenehm kühl. Auch die Katze hat sich hierhin verzogen, streicht mir um die Beine.
Auf dem Tisch steht ein Vogelkäfig mit einem gelben Kanarienvogel. Dem geht es gut, trotz der Katze im Raum.
"Tagsüber sind wir meist in der Stadt, selbst am Wochenende. Aber wir kommen her, so oft es geht. Denn hier ist es gut. Sogar im Winter. Und wir haben ja auch den Vogel und die Katze hier."
Lilija ist Juristin, ihr Mann ist Unternehmer.
"In der Stadt haben wir ein sehr stressiges Leben: Ich arbeite, und außerdem muss ich das Kind ständig irgendwohin fahren, ihr Papa ist zu beschäftigt. Hier auf der Datscha ruhen wir uns aus."
Lilija und Vasilisa zeigen mir das zweite Blockhaus. Dort sind die Schlafzimmer, einfach eingerichtet, ein Spielzimmer und im Flur die Hauptattraktion.
"Ein ganzer Kühlschrank voller Eis! Wir haben sehr viel Eis, tiefgekühlte Pizza, Pilze, Pfannküchlein. Mein Vater ist nämlich Eisunternehmer! Er ist Direktor eines Warenlagers für Eis."
"Wir haben vor drei Jahren all unsere Ersparnisse für diese Datscha ausgegeben. Es war unser Traum. Wir haben immer viel Besuch, hier ist viel Platz. Wir haben bisher nicht viel verändert, wir renovieren gerade unsere Stadtwohnung. Aber wir werden bald einen Designer beauftragen. Er soll alles im russischen Stil herrichten, mit echten Holzschnitzereien. Schön soll es werden."
Ukraine und Donbass um die Ecke
Auch einen Fitnessraum wollen sie noch einrichten.
Vasilisa stürmt hinaus, um ihren Vater zu begrüßen.
Aleksander kommt direkt von der Arbeit. Er hat die Hände voll mit Plastiktüten. Gleich wird gegrillt.
"Ich habe als Student in einer Schaschlik-Bude gejobbt. Die Armenier dort haben mir gezeigt, wie man Kebab und Schaschlik macht, wir haben da auch Leber und Fisch gegrillt."
Aleksander wechselt Hemd und lange Hose gegen T-Shirt und Shorts. Datschen-Kleidung. Dann reibt er das Fleisch mit Grillwürze ein.
"Jeder Mensch muss zwischendurch mal raus. Ich kann wegen der Arbeit im Sommer nicht weg, da ist unser Hauptgeschäft. Bis hier sind es nur 15 Kilometer, aber die Luft ist bereits anders als in der Stadt, die Landschaft ist eine andere. Du kommst an und bist sofort in einem kleinen Paradies. Du legst dich auf die Liege, und schon fühlst du dich wie im Kurzurlaub in einem kleinen Ferienort. Wenn wir Zeit haben, fahren wir Ende des Sommers ans Schwarze Meer. Nach Anapa, Gelendschyk, Sotschi, vielleicht auf die Krim."
Eine halbe Stunde später steht Aleksandr am Grill. Grillen ist auch in Russland Männersache. Rauchschwaden verfangen sich in den Obstbäumen. Die Kohle glüht orange.
Wegen der Sanktionen steigen die Preise
Die Steaks sind saftig. Fett tropft in die Glut.
"Den Grill habe ich in Dnepropetrowsk gekauft. In der Ukraine, 2013. Wir hatten dort Geschäftspartner, Eisfabrikanten. Sie haben uns damals eingeladen und großartig bewirtet. Jetzt hat die Politik uns leider auseinandergebracht. Wir sehen uns trotzdem noch, auf Messen in Moskau."
Aleksander geht zum Auto, stellt das Radio an. Nun sind wir doch bei der Politik angelangt. Manchmal hätten sie die Explosionen im nahen Kriegsgebiet Donbass auf der Datscha gehört, erzählt Aleksander. Inzwischen bekämen sie davon kaum noch etwas mit.
"Das Leben hier ist eigentlich stabil. Wenn die Sanktionen nicht wären, wäre es wunderbar. Wegen der Sanktionen sind die Preise gestiegen. Früher haben die Eishersteller in Russland Kirschen aus Polen verarbeitet. Wegen der Importverbote müssen wir die Produkte über andere Länder einführen, das macht sie teuer. Und deshalb verwenden viele gar keine natürlichen Früchte mehr, sondern nehmen Konfitüren aus dem Iran, die sind billiger. Wenn das nicht wäre, wäre alles gut."
Das Fleisch färbt sich dunkel. Alexander legt Pilze dazu.
Vasilisa deckt draußen den Tisch. Ihre Mutter holt den Vogelkäfig mit Fedja aus der Küche und stellt ihn ans Kopfende.
"Nehmt Fleisch, solange es heiß ist!"
Lilija gießt Getränke ein: Saft für Vasilisa, Wodka für ihren Mann, Wein für die Frauen.
"Auf die Bekanntschaft. Und auf unser russisches Gutsherrenleben!
Auf dass alles gut wird! Das einfachste Essen ist doch das Beste!"
Auf dass alles gut wird! Das einfachste Essen ist doch das Beste!"
Dann sagt Lilija aus heiterem Himmel, sie könne nicht verstehen, weshalb die Europäer die Ukraine als einen eigenen Staat bezeichnen. Ich fühle mich unwohl, denn ich bin zu Gast, mag nicht streiten und schalte das Aufnahmegerät aus.
(Wdh. vom 12. August 2018)