Der Schimmelreiter
Von Theodor Storm in der Bühnenfassung von Susanne Meister
Regie: Johan Simons
Thalia Theater Hamburg
Das Watt als Bühne von Leben und Tod
Der Novellen-Klassiker als meditative Parabel: Am Thalia Theater in Hamburg inszeniert Johan Simons Theodor Storms "Der Schimmelreiter" - und legt verblüffend tiefe Schichten der Erzählung frei. Jens Harzer glänzt in der Titelrolle des Hauke Haien.
Achtmal fängt Hauke Haien von der großen Springflut 1756, zu erzählen an, achtmal hebt Aste Nielesen (Barbara Nüsse) ihre Hände zum Himmel und stirbt - "Jetzt ist sie nahe beim lieben Gott" erklärt dabei der Vater seinem Sohn - und achtmal denkt sie dabei an abergläubischen Prophezeiungen. Immer wieder sechs Figuren auf der Krone eines Deichs, über ihnen eine Glocke, und an der abschüssigen Böschung liegen Beine und Unterleib eines Pferdekadavers. (Bühne: Bettina Pommer, Kostüme: Tresa Vergho)
Zum meditativen Ritual verformt
Den oft, vielleicht allzu oft im Deutschunterricht traktierten Novellen-Klassiker "Der Schimmelreiter" von Theodor Storm dürften Schüler nicht sogleich wiedererkennen. Johan Simons verformt ihn zu einem meditativen Ritual. Die zeitliche Abfolge der Geschichte wird nicht eingehalten, das ist freilich schon bei Theodor Storm ein wenig vorgeformt: Jugend, Tod, Scheitern und Erfolge wechseln unregelmäßig, sind also immer präsent. Fast nie wird die Handlung in dramatische Dialoge aufgelöst, fast nichts wird ausgespielt, selbst beim winterlichen Boßeln halten zwei Darsteller nur weiße Kugeln in der Hand. Die Figuren blicken ins Meer oder in den Himmel, sie erwarten die Apokalypse, manchmal hört man den Wind rauschen: das Watt als Bühne von Leben und Tod.
Sand, Himmel und Wasser vermischen ja im Horizont des Wattenmeers, aber auch Opfer und Täter. Ist am Ende Hauke Haien, der selbstbewusste, mathematisch und rational denkende Deichgraf selbst das Opfer, jenes Lebewesen also, das wie der Hund zur Abwehr von Gefahren als Opfertier in den Deich vergraben werden muss, eine Art Christus? Johann Simons rituelles Theater legt verblüffend tiefe Schichten von Storms Erzählung frei.
Große schauspielerische Energien entfalten sich
Vor allem aber entfaltet sein Schimmelreiter-Oratorium große schauspielerische Energien. Das missgebildete Kind (Kristof van Boven), das feixend-grinsend aus der Apokalypse vorliest, der ängstliche Dorfbewohner Rafael Stachowiak, oder Sebastian Rudolph als tradtionsbewusster Gegegenspieler, Ole Petersen und Birte Schnölkals als Haukes Frau Elke. Oft ist es nur ein Blick, ein kleines Schmunzeln, ein plötzliches Händeheben, ein kurzer cholerischer Anfall. Auch das kommt Storms Novelle sehr nahe, in der auch eine kleine unscheinbare Bewegung und ein einziger kurzer Augenaufschlag - dem jahreslanges Schweigen folgt - unzerstörbare Liebe und Treue dem Lebenspartner signalisieren.
Meister dieses inneren Glänzen, manchmal fast mit dem Text ringend, oft ein Zittern in den Mundwinkeln, ein kurzes versonnenes Lächeln austrahlend, und doch immer fest in seinen Stiefeln auf dem Boden des Watt stehend ist Jens Harzer in der Titelrolle. Storms Schimmelreiter also kein nostalgisches religiöses Heimatstück. Oder vielleicht doch? Zumindest eines von tiefer, strenger, manchmal fast kaum erträglicher Konzentration, eine Liturgie voll musikalischer Theatralik.