Der Schöpfer von Schabbach
Zuhause fühle er sich hinter der Kamera oder am Schneidetisch, sagt Edgar Reitz, der Regisseur der epochalen Filmserie "Heimat". Aktuell arbeitet der Mitbegründer des deutschen Autorenkinos an einem Kostümfilm aus dem 19. Jahrhundert, "Die andere Heimat".
Joachim Scholl: Sein Motto lautet: Eile dem Dasein nicht voraus, zugleich aber bleibe wach und munter, damit du nicht hinter ihm zurückbleibst. Das schreibt der Regisseur und Filmemacher Edgar Reitz auf seiner Homepage im Internet, und wir hoffen, dass dieses Motto immer noch gilt, auch an diesem Tag, dem 1. November, an dem Edgar Reitz 80 Jahre alt wird. Und wir sind jetzt mit ihm verbunden. Guten Morgen, Herr Reitz!
Edgar Reitz: Ja, guten Morgen!
Scholl: Herzlichen Glückwunsch Ihnen zunächst, im Namen von Deutschlandradio Kultur viel Glück, viel Segen, alles Gute zum Geburtstag!
Reitz: Danke!
Scholl: Geht es Ihnen gut, sind Sie wach und munter?
Reitz: Ja, ich stecke mitten in einer Produktion, und das ist eigentlich das beste Mittel, um mit dem Datum klarzukommen.
Scholl: Erzählen Sie gleich mal, was ist das für eine Produktion?
Reitz: Ich habe einen Film in Arbeit fürs Kino, "Die andere Heimat" heißt der Titel. Das sieht aus, als wäre es eine Fortsetzung, ist es aber nicht, sondern erzählt eine große Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Es ist ein Kostümfilm in CinemaScope und mit großem Aufwand realisiert. Die Dreharbeiten waren im August zu Ende, und wir sitzen hier und schneiden den Film. Also das wird noch bis ins Frühjahr dauern, bis er dann fertig ist.
Scholl: Und all das an Ihrem 80. Geburtstag, Respekt, Herr Reitz! Ich erinnere mich noch, wie achselzuckend heiter Sie vor fünf Jahren Ihren 75. Geburtstag über sich hinwegstreichen ließen, lassen Sie die 80 jetzt ähnlich kalt?
Reitz: Es ist schon ein merkwürdiger Unterschied zwischen 70 und 80. 70 ist kein gutes Alter ...
Scholl: 75 waren es damals.
Reitz: Das sagen alle, jetzt sollte er mal allmählich abtreten oder der Generationswechsel wird einem auch so vor Augen geführt. Aber wenn man dann erst mal 80 ist, geht's wieder, also dann gehen viele Dinge, die vorher nicht gegangen sind. Man hat sozusagen einen Altersbonus.
Scholl: Zu Ihrem Motto, Herr Reitz, fügen Sie diese Erkenntnis hinzu, dass die unerbittlich verstreichende Zeit eine Ihrer wichtigsten Erfahrungen sei, die Sie im Leben gemacht hätten, und dann kommt der Satz: Nur die Kunst vermag es, den Augenblicken Dauer zu verleihen. Wenn man also Ihre Arbeit überblickt, dann sagt man spontan, ja, genau deshalb dreht er seine Filme. Ist das so?
Reitz: Ja, das ist natürlich eine unbewusste Haltung, die man da eingenommen hat, sein Leben lang. Dieses Gefühl, dass alles so schnell vorübergeht oder dass der Augenblick, den man ersehnt hat, schon vorbei ist in dem Moment, wo er eintritt, das ist ein Gefühl, das ich als Kind schon immer wieder hatte. Aber das Besondere an der Filmkunst ist eben, dass der Film Zeit speichern kann. Also wenn eine Filmkamera mitläuft, das ist, als würde das Leben den Atem anhalten und könnte auf einer anderen Ebene neu entstehen und dem Strom der Zeit widerstehen. So habe ich das Filmemachen immer empfunden, und das ist insofern ein Geschenk, ein großes Geschenk, dass ich in einem Zeitalter lebe, in dem es diesen künstlerischen Ausdruck gibt, den es ja früher nicht gab.
Scholl: Wir erreichen Edgar Reitz in München, mitten in einer Produktion, und deshalb läutet es ab und zu mal im Hintergrund, das soll uns nicht stören. Herr Reitz, in diesem Jahr gibt es ja auch dieses filmhistorische Datum: Vor 50 Jahren gehörten Sie zu den jungen Filmrebellen, die unter dem Motto "Papas Kino ist tot" die Ära des Neuen Deutschen Films, des Autorenfilms eingeleitet haben, im berühmten Oberhausener Manifest, Sie waren damals 30. Was galt damals für den jungen Edgar Reitz, welchen Blick auf die Kunst hatten Sie als junger Mann?
Reitz: Es war vor allem das Gefühl, vor verschlossenen Türen zu stehen. Diese Generation unserer Eltern, das war ja die Kriegsgeneration, die Generation der Naziväter, sagen wir mal, die haben damals in fortgeschrittenem Alter - der Krieg war zu Ende, viele kamen aus Gefangenschaft und sonstwoher -, die haben ihre Jugend nachholen wollen. Das heißt, sie haben sich gegenüber dem Nachwuchs total versperrt. Wenn man in dieser Zeit sich da berufen fühlte, im Film was zu werden, dann stand man immer nur vor verschlossenen Türen. Und diesen Widerstand zu brechen und auch die Mentalität dieser Generation zu überwinden, das war damals dieser Kampf im Innern. Ich war sehr leidenschaftlich, was auch die historische Auseinandersetzung anging mit der Elterngeneration.
Scholl: Wenn Sie heute auf den Nachwuchs schauen, der ja eigentlich so gegen Ihre Generation rebellieren muss oder müsste, das ist doch schon viel anders, glaube ich, oder netter, oder ist die Zeit der Rebellion einfach auch mit der Epoche versunken?
Reitz: Ja, das ist manchmal, wenn man so nette Väter hat oder so freiheitliche, offene und demokratische Väter, dann wird das wieder ein anderes Problem, ich mag mich da überhaupt nicht gerne hineinversetzen. Ich habe ja vor vielen Jahren schon angefangen, mich als Pädagoge zu betätigen, ich war Professor an Filmschulen und hatte immer mit dem Nachwuchs zu tun, mit den jungen Leuten. Und denen bleibt die Rebellion sozusagen im Halse stecken, weil sie keinen richtigen Feind haben. Aber ich denke, der Feind liegt heute woanders, wir haben einen gemeinsamen, gerade in den Medien. Diese Konsumgesellschaft, die eigentlich einem jungen Menschen in viel zu früher Zeit immer schon die persönlichen Irrtümer aus der Hand nehmen will und einen zwingen will zum Erfolg in den Klischeebereichen, also da tun sie mir leid - dieser Druck, dieser Konkurrenzdruck, der auf den jungen Leuten lastet heute.
Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Regisseur Edgar Reitz, er wird heute 80 Jahre alt. Herr Reitz, man hat Sie einen deutschen Epiker genannt, den Mann mit dem enorm langen Atem, und meinen natürlich damit den Autor von "Heimat", ihrem Haupt-, Meister- und Lebenswerk kann man wirklich sagen. 31 Einzelfilme, 54 Stunden Spieldauer, einer Chronik über das fiktive Dörfchen Schabbach im Hunsrück und seine Bewohner. Damit haben Sie Filmgeschichte geschrieben, auch über 20 Jahre an diesem Stoff gearbeitet. Wie denken Sie eigentlich daran zurück, an die Anfänge an ein Werk, das Sie jetzt so wirklich bis in die jüngsten Tage begleitet?
Reitz: Wenn ich das damals geahnt hätte, was das bedeutet, was da auf mich zukommt, wäre ich in Starre verfallen, ich hätte das nicht anfangen können. Das ist ja im Grunde unvorstellbar, eine Arbeit zu beginnen, die einen letztendlich 30 Jahre lang beschäftigt. Das war auch nicht abzusehen. Was ich damals vor mir sah, war ein beglückendes Gefühl, dass in den Erinnerungen an meine Kindheit und die eigene Familie so ein schöner Filmstoff verborgen lag. Das war mir immer entgangen. In einem bestimmten Alter rennt man weg, rennt weg von der Familie, rennt weg aus den Gefilden der Kindheit, weil man denkt, das Glück liegt irgendwo hinter den Horizonten, ganz weit. Und man muss sich sehr, sehr weit weg begeben von seinen Wurzeln, um die Welt zu entdecken. Und genau das war es nicht, es war eigentlich umgekehrt, ich hatte die Welt verloren unter meinen Füßen. Und mit diesem Rückbesinnen - eine Rückkehr gibt es nicht, das wäre auch ein völliger Fehler anzunehmen, man könnte da zurückkehren in die Heimat oder in die Kindheitsgefilde. Aber das Geschichtenerzählen, das bringt es. Man schafft sich damit eigentlich eine Kindheit, die man nie hatte.
Scholl: "Heimat, das ist ein Ort, an dem noch niemand war.", das hat einmal der Philosoph Ernst Bloch gesagt. Für ihn hat die Heimat auch nur in der Erinnerung existiert - das dürfte eine Aussage sein, die Ihnen sehr liegt, Herr Reitz.
Reitz: Ja, das ist es, und ebenso wie die Zeit, die einem entflieht, entflieht einem auch die Heimat, wenn man so will, ja, ein wirklich naiver Mensch, der die Dinge überhaupt nicht mit seiner Vernunft erfasst, einen solchen Menschen gibt es nicht. Wir sind alle eigentlich aus dem Paradies Vertriebene, und wir können die Paradiese nur in der Kunst beschreiben und nur dort empfinden wieder.
Scholl: Heute ist Ihre Heimatsaga ja eigentlich schon eine Filmlegende, damals, als sie lief, in den 1980er-Jahren, da war Heimat ja doch ein intellektuelles Unwort eher, also dahinter vermutete man reaktionäres, nationalistisches Gedankengut, Trachtenfolklore, Volksmusik. Gab es eigentlich Widerstände gegen den Film damals?
Reitz: Da gab es gegen den Titel Widerstände, die ich auch gut verstehen kann, denn man hat ja wirklich Schindluder getrieben mit diesen Dingen, nicht nur in der Hitlerzeit, wo man damit die Landnahme und die Eroberungen und was weiß ich, die Umsiedlungspolitik und was man da so betrieben hat, damit begründen wollte. Man hatte auch in den 50er-Jahren den sogenannten deutschen Heimatfilm erfunden, eine kitschige, idyllische, verlogene Beschreibung von Weltzuständen, die es nie gegeben hat. Das habe ich alles als schrecklich empfunden. Und in die Nähe gerückt zu werden durch den Titel, durch den selbst gewählten Titel, das hat mir auch Schmerzen gemacht. Also es war nicht nur, dass die Redaktion des WDR oder andere, mit denen ich zu tun hatte, da Bedenken hatten, aber dennoch spürten wir im Innersten, dass da etwas verborgen liegt, etwas, was wir uns einfach nicht aus der Hand winden lassen dürfen durch Tourismusindustrie und Politik.
Scholl: Wo fühlen Sie sich denn heute am meisten zu Hause, Herr Reitz?
Reitz: Am Schneidetisch oder hinter der Kamera oder ... Auf jeden Fall, das, was wir Heimat nennen, kann man nicht besitzen. Das kann kein Eigentum sein. Das ist nicht etwas, was man umfrieden kann mit einem Gartenzaun. Und das ist auch nicht das, was man mit festem Besitz versehen kann. Das ist eine interessante Mischung zwischen körperlicher Erfahrung und Gemeinschaft mit anderen Menschen, denen man sich zugehörig fühlt.
Scholl: Sie haben uns schon erzählt vom neuen Projekt "Die andere Heimat". Wir können uns drauf freuen, im nächsten Jahr wird dieser Film in die Kinos kommen, glaube ich, sagten Sie, nicht nur ins Fernsehen. Die "Heimat" lief ja erst im Fernsehen.
Reitz: Also das ist jetzt in der Endphase der Bearbeitung, sogenannten Postproduktion, und wir werden etwa im Januar/Februar einen fertigen Film haben. Der steht jetzt dann im Jahr 2013 am Start - im Kino, auf der großen Leinwand, das ist mir sehr wichtig diesmal.
Scholl: Und dann werden wir uns hoffentlich wieder sprechen, Edgar Reitz, ich hoffe es jedenfalls. Alles Gute nochmals, wir wünschen Ihnen heute einen wunderschönen Tag - 80 Jahre wird Edgar Reitz heute alt - und danke, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch genommen haben.
Reitz: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Edgar Reitz: Ja, guten Morgen!
Scholl: Herzlichen Glückwunsch Ihnen zunächst, im Namen von Deutschlandradio Kultur viel Glück, viel Segen, alles Gute zum Geburtstag!
Reitz: Danke!
Scholl: Geht es Ihnen gut, sind Sie wach und munter?
Reitz: Ja, ich stecke mitten in einer Produktion, und das ist eigentlich das beste Mittel, um mit dem Datum klarzukommen.
Scholl: Erzählen Sie gleich mal, was ist das für eine Produktion?
Reitz: Ich habe einen Film in Arbeit fürs Kino, "Die andere Heimat" heißt der Titel. Das sieht aus, als wäre es eine Fortsetzung, ist es aber nicht, sondern erzählt eine große Geschichte aus dem 19. Jahrhundert. Es ist ein Kostümfilm in CinemaScope und mit großem Aufwand realisiert. Die Dreharbeiten waren im August zu Ende, und wir sitzen hier und schneiden den Film. Also das wird noch bis ins Frühjahr dauern, bis er dann fertig ist.
Scholl: Und all das an Ihrem 80. Geburtstag, Respekt, Herr Reitz! Ich erinnere mich noch, wie achselzuckend heiter Sie vor fünf Jahren Ihren 75. Geburtstag über sich hinwegstreichen ließen, lassen Sie die 80 jetzt ähnlich kalt?
Reitz: Es ist schon ein merkwürdiger Unterschied zwischen 70 und 80. 70 ist kein gutes Alter ...
Scholl: 75 waren es damals.
Reitz: Das sagen alle, jetzt sollte er mal allmählich abtreten oder der Generationswechsel wird einem auch so vor Augen geführt. Aber wenn man dann erst mal 80 ist, geht's wieder, also dann gehen viele Dinge, die vorher nicht gegangen sind. Man hat sozusagen einen Altersbonus.
Scholl: Zu Ihrem Motto, Herr Reitz, fügen Sie diese Erkenntnis hinzu, dass die unerbittlich verstreichende Zeit eine Ihrer wichtigsten Erfahrungen sei, die Sie im Leben gemacht hätten, und dann kommt der Satz: Nur die Kunst vermag es, den Augenblicken Dauer zu verleihen. Wenn man also Ihre Arbeit überblickt, dann sagt man spontan, ja, genau deshalb dreht er seine Filme. Ist das so?
Reitz: Ja, das ist natürlich eine unbewusste Haltung, die man da eingenommen hat, sein Leben lang. Dieses Gefühl, dass alles so schnell vorübergeht oder dass der Augenblick, den man ersehnt hat, schon vorbei ist in dem Moment, wo er eintritt, das ist ein Gefühl, das ich als Kind schon immer wieder hatte. Aber das Besondere an der Filmkunst ist eben, dass der Film Zeit speichern kann. Also wenn eine Filmkamera mitläuft, das ist, als würde das Leben den Atem anhalten und könnte auf einer anderen Ebene neu entstehen und dem Strom der Zeit widerstehen. So habe ich das Filmemachen immer empfunden, und das ist insofern ein Geschenk, ein großes Geschenk, dass ich in einem Zeitalter lebe, in dem es diesen künstlerischen Ausdruck gibt, den es ja früher nicht gab.
Scholl: Wir erreichen Edgar Reitz in München, mitten in einer Produktion, und deshalb läutet es ab und zu mal im Hintergrund, das soll uns nicht stören. Herr Reitz, in diesem Jahr gibt es ja auch dieses filmhistorische Datum: Vor 50 Jahren gehörten Sie zu den jungen Filmrebellen, die unter dem Motto "Papas Kino ist tot" die Ära des Neuen Deutschen Films, des Autorenfilms eingeleitet haben, im berühmten Oberhausener Manifest, Sie waren damals 30. Was galt damals für den jungen Edgar Reitz, welchen Blick auf die Kunst hatten Sie als junger Mann?
Reitz: Es war vor allem das Gefühl, vor verschlossenen Türen zu stehen. Diese Generation unserer Eltern, das war ja die Kriegsgeneration, die Generation der Naziväter, sagen wir mal, die haben damals in fortgeschrittenem Alter - der Krieg war zu Ende, viele kamen aus Gefangenschaft und sonstwoher -, die haben ihre Jugend nachholen wollen. Das heißt, sie haben sich gegenüber dem Nachwuchs total versperrt. Wenn man in dieser Zeit sich da berufen fühlte, im Film was zu werden, dann stand man immer nur vor verschlossenen Türen. Und diesen Widerstand zu brechen und auch die Mentalität dieser Generation zu überwinden, das war damals dieser Kampf im Innern. Ich war sehr leidenschaftlich, was auch die historische Auseinandersetzung anging mit der Elterngeneration.
Scholl: Wenn Sie heute auf den Nachwuchs schauen, der ja eigentlich so gegen Ihre Generation rebellieren muss oder müsste, das ist doch schon viel anders, glaube ich, oder netter, oder ist die Zeit der Rebellion einfach auch mit der Epoche versunken?
Reitz: Ja, das ist manchmal, wenn man so nette Väter hat oder so freiheitliche, offene und demokratische Väter, dann wird das wieder ein anderes Problem, ich mag mich da überhaupt nicht gerne hineinversetzen. Ich habe ja vor vielen Jahren schon angefangen, mich als Pädagoge zu betätigen, ich war Professor an Filmschulen und hatte immer mit dem Nachwuchs zu tun, mit den jungen Leuten. Und denen bleibt die Rebellion sozusagen im Halse stecken, weil sie keinen richtigen Feind haben. Aber ich denke, der Feind liegt heute woanders, wir haben einen gemeinsamen, gerade in den Medien. Diese Konsumgesellschaft, die eigentlich einem jungen Menschen in viel zu früher Zeit immer schon die persönlichen Irrtümer aus der Hand nehmen will und einen zwingen will zum Erfolg in den Klischeebereichen, also da tun sie mir leid - dieser Druck, dieser Konkurrenzdruck, der auf den jungen Leuten lastet heute.
Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Regisseur Edgar Reitz, er wird heute 80 Jahre alt. Herr Reitz, man hat Sie einen deutschen Epiker genannt, den Mann mit dem enorm langen Atem, und meinen natürlich damit den Autor von "Heimat", ihrem Haupt-, Meister- und Lebenswerk kann man wirklich sagen. 31 Einzelfilme, 54 Stunden Spieldauer, einer Chronik über das fiktive Dörfchen Schabbach im Hunsrück und seine Bewohner. Damit haben Sie Filmgeschichte geschrieben, auch über 20 Jahre an diesem Stoff gearbeitet. Wie denken Sie eigentlich daran zurück, an die Anfänge an ein Werk, das Sie jetzt so wirklich bis in die jüngsten Tage begleitet?
Reitz: Wenn ich das damals geahnt hätte, was das bedeutet, was da auf mich zukommt, wäre ich in Starre verfallen, ich hätte das nicht anfangen können. Das ist ja im Grunde unvorstellbar, eine Arbeit zu beginnen, die einen letztendlich 30 Jahre lang beschäftigt. Das war auch nicht abzusehen. Was ich damals vor mir sah, war ein beglückendes Gefühl, dass in den Erinnerungen an meine Kindheit und die eigene Familie so ein schöner Filmstoff verborgen lag. Das war mir immer entgangen. In einem bestimmten Alter rennt man weg, rennt weg von der Familie, rennt weg aus den Gefilden der Kindheit, weil man denkt, das Glück liegt irgendwo hinter den Horizonten, ganz weit. Und man muss sich sehr, sehr weit weg begeben von seinen Wurzeln, um die Welt zu entdecken. Und genau das war es nicht, es war eigentlich umgekehrt, ich hatte die Welt verloren unter meinen Füßen. Und mit diesem Rückbesinnen - eine Rückkehr gibt es nicht, das wäre auch ein völliger Fehler anzunehmen, man könnte da zurückkehren in die Heimat oder in die Kindheitsgefilde. Aber das Geschichtenerzählen, das bringt es. Man schafft sich damit eigentlich eine Kindheit, die man nie hatte.
Scholl: "Heimat, das ist ein Ort, an dem noch niemand war.", das hat einmal der Philosoph Ernst Bloch gesagt. Für ihn hat die Heimat auch nur in der Erinnerung existiert - das dürfte eine Aussage sein, die Ihnen sehr liegt, Herr Reitz.
Reitz: Ja, das ist es, und ebenso wie die Zeit, die einem entflieht, entflieht einem auch die Heimat, wenn man so will, ja, ein wirklich naiver Mensch, der die Dinge überhaupt nicht mit seiner Vernunft erfasst, einen solchen Menschen gibt es nicht. Wir sind alle eigentlich aus dem Paradies Vertriebene, und wir können die Paradiese nur in der Kunst beschreiben und nur dort empfinden wieder.
Scholl: Heute ist Ihre Heimatsaga ja eigentlich schon eine Filmlegende, damals, als sie lief, in den 1980er-Jahren, da war Heimat ja doch ein intellektuelles Unwort eher, also dahinter vermutete man reaktionäres, nationalistisches Gedankengut, Trachtenfolklore, Volksmusik. Gab es eigentlich Widerstände gegen den Film damals?
Reitz: Da gab es gegen den Titel Widerstände, die ich auch gut verstehen kann, denn man hat ja wirklich Schindluder getrieben mit diesen Dingen, nicht nur in der Hitlerzeit, wo man damit die Landnahme und die Eroberungen und was weiß ich, die Umsiedlungspolitik und was man da so betrieben hat, damit begründen wollte. Man hatte auch in den 50er-Jahren den sogenannten deutschen Heimatfilm erfunden, eine kitschige, idyllische, verlogene Beschreibung von Weltzuständen, die es nie gegeben hat. Das habe ich alles als schrecklich empfunden. Und in die Nähe gerückt zu werden durch den Titel, durch den selbst gewählten Titel, das hat mir auch Schmerzen gemacht. Also es war nicht nur, dass die Redaktion des WDR oder andere, mit denen ich zu tun hatte, da Bedenken hatten, aber dennoch spürten wir im Innersten, dass da etwas verborgen liegt, etwas, was wir uns einfach nicht aus der Hand winden lassen dürfen durch Tourismusindustrie und Politik.
Scholl: Wo fühlen Sie sich denn heute am meisten zu Hause, Herr Reitz?
Reitz: Am Schneidetisch oder hinter der Kamera oder ... Auf jeden Fall, das, was wir Heimat nennen, kann man nicht besitzen. Das kann kein Eigentum sein. Das ist nicht etwas, was man umfrieden kann mit einem Gartenzaun. Und das ist auch nicht das, was man mit festem Besitz versehen kann. Das ist eine interessante Mischung zwischen körperlicher Erfahrung und Gemeinschaft mit anderen Menschen, denen man sich zugehörig fühlt.
Scholl: Sie haben uns schon erzählt vom neuen Projekt "Die andere Heimat". Wir können uns drauf freuen, im nächsten Jahr wird dieser Film in die Kinos kommen, glaube ich, sagten Sie, nicht nur ins Fernsehen. Die "Heimat" lief ja erst im Fernsehen.
Reitz: Also das ist jetzt in der Endphase der Bearbeitung, sogenannten Postproduktion, und wir werden etwa im Januar/Februar einen fertigen Film haben. Der steht jetzt dann im Jahr 2013 am Start - im Kino, auf der großen Leinwand, das ist mir sehr wichtig diesmal.
Scholl: Und dann werden wir uns hoffentlich wieder sprechen, Edgar Reitz, ich hoffe es jedenfalls. Alles Gute nochmals, wir wünschen Ihnen heute einen wunderschönen Tag - 80 Jahre wird Edgar Reitz heute alt - und danke, dass Sie sich Zeit für dieses Gespräch genommen haben.
Reitz: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.