Literaturtipp
Kurt E. Becker: Der behauste Mensch. Von vier Wänden und einem Dach über dem Kopf. Im Dialog mit 77 Persönlichkeiten von Aristoteles bis Stefan Zweig
Patmos Verlag, Mannheim 2021
278 Seiten, 22 Euro
Behaust, unbehaust
Seine Figuren fliehen alles Häusliche – oder lassen es gar in Flammen aufgehen. Der Schriftsteller Max Frisch selbst war ein Unbehauster, bei dem Leben und Werk ineinanderflossen. Und der doch stets betonte: Die Wahrheit lässt sich nicht erzählen.
"Was gebaut wird, um zu behausen, wird zum Kerker und muss immer wieder gesprengt werden." So erzählt Max Frisch einmal in einem Interview.
Max Frisch ist nicht nur einer der meistgespielten deutschsprachigen Dramatiker der Nachkriegszeit, er ist auch einer der meistgelesenen Romanciers seiner Generation. Und er ist diplomierter Architekt. Wenn man nun in seinen Werken danach schaut, wie und wo seine Figuren wohnen, fällt jedoch auf: Fast alle fliehen das Haus oder spielen gar mit dem Gedanken, es anzuzünden.
Und in seinem wohl bekanntesten Theaterstoff, der Satire "Biedermann und die Brandstifter" geht das Haus tatsächlich in Flammen auf. Mehr als ein Baumeister tritt Frisch – literarisch – als Sprengmeister in Erscheinung.
Schreiben gegen den Horror der Wiederholung
Seine Figuren – Männer allesamt – sind Egomanen, Egoisten, Egozentriker, unfähig, sich selbst zu erkennen. Sie scheitern in der Ehe, in ihren Beziehungen, an sich selbst und ergehen sich in Selbstmitleid. Und stehen immer wieder vor der Frage: Ist dies das einzige mögliche Leben? Ihr Horror – und wohl auch der Horror, der den Autor selbst umtrieb – ist die Wiederholung.
So lässt er den Icherzähler in seinem Roman "Stiller" verkünden:
"Immer wieder genügt ein Wort, eine Miene, die mich erschreckt, eine Landschaft, die mich erinnert, und alles in mir ist Flucht, Flucht ohne Hoffnung, irgendwohin zu kommen, lediglich aus Angst vor Wiederholung. Dabei weiß ich: Alles hängt davon ab, ob es gelingt, sein Leben nicht außerhalb der Wiederholung zu erwarten, sondern die Wiederholung, die ausweglose, aus freiem Willen (trotz Zwang) zu seinem Leben zu machen, indem man anerkennt: Das bin ich!"
Das wirkliche Leben lässt sich nicht erzählen
Wie seine Figuren, war auch Max Frisch selbst ein Unbehauster, ein Getriebener. Sein Schreiben kreise um ihn selbst, wie er einmal zu Protokoll gibt: "Ich schreibe, um mir klar zu werden. Ich schreibe, um mich auszudrücken. Das tönt alles sehr egozentrisch und ist es wahrscheinlich auch."
Dabei betont er allerdings auch immer wieder, wie hier, in "Stiller": "Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben." Und ebenso wenig "die Wahrheit", wie er an anderer Stelle schreibt.
"Das Eigentliche lässt sich bestenfalls umschreiben", so Frisch in seinem Tagebuch, "und das heißt ganz wörtlich: Man schreibt drum herum. Man umstellt es. Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten. Das Unsagbare erscheint bestenfalls als Spannung zwischen den Aussagen."
Ein imaginärer Dialog mit dem Autor
Diese Lange Nacht versucht sich trotzdem daran, etwas über das Leben von Max Frisch zu erzählen: In Form eines imaginierten Dialogs mit dem Schriftsteller, zusammengesetzt aus O-Tönen und Gesprächsschnipseln, Tagebucheinträgen und Zitaten aus seinen zahlreichen Werken – die oft unverkennbar autobiografische Züge tragen, oder zumindest auffällige Parallelen zu seinem Leben.
Max Frisch interviewt sich selbst (1967, aus der Doku: "Max Frisch – eine Biografie")
Geboren ist Max Frisch 1911 in Zürich – in ein "kleinbürgerliches Milieu", wie er es selbst später beschreibt: Sein Vater ist Architekt, aber die Zeiten rund um den Ersten Weltkrieg sind hart und so lebt die Familie lange in eher ärmlichen Verhältnissen. Sein Taschengeld reicht jedoch, um regelmäßig das Theater zu besuchen, das ihn begeistert – und so fasst er bereits mit 16 Jahren den Entschluss, selbst zu schreiben.
Sein Studium der Germanistik muss er abrupt abbrechen, als sein Vater stirbt – eine Erfahrung, die er in einer seiner ersten Veröffentlichungen verarbeitet, mit dem Titel: "Was bin ich?", von 1932. Sein Thema ist also früh da – Frisch ist gerade 21 Jahre alt.
Da er nun Geld verdienen muss, arbeitet er als Journalist, schreibt für die "Zürcher Zeitung", unter anderem als Sportberichterstatter und reist viel herum. Bald aber ist ihm der Journalismus verleidet und weil er sein zweites Buch nicht mag, gibt er auch die Literatur zunächst radikal auf.
Architekt und Künstler – eine Doppelexistenz
Stattdessen entschließt er sich ganz bewusst zu einer "bürgerlichen Existenz", wie er später sagt: 1942 heiratet Frisch und zieht mit seiner Frau in eine Dreizimmerwohnung am Zürcher Stadtrand. Ein Jahr später wird das erste von drei Kindern geboren, seine Tochter Ursula – für die er, der Vielbeschäftigte, jedoch immer ein Abwesender bleiben wird.
Jahrzehnte später schreibt er über diese Zeit in seiner Erzählung "Montauk": Von der Aversion, verstrickt zu sein, in das Schicksal eines anderen, von seinem Problem, Nähe auszuhalten – Motive, die ähnlich auch in anderen Arbeiten auftauchen.
Zur gleichen Zeit wird Frisch Architekt und leitet zwölf Jahre ein Baubüro – baut jedoch in dieser Zeit nur drei Häuser und ein Freibad. Denn letztlich kann er das Schreiben doch nicht lassen. Frisch führt in den 40er-Jahren eine Doppelexistenz: Der Architekt, der auch ein Künstler ist. Äußerlich: Ehemann, Vater von drei Kindern. Innerlich aber ist er gewissermaßen "von der Rolle".
1945 erscheint seine Erzählung "Bin oder die Reise nach Peking". Dieser "Bin", das ist die innere Stimme, die zum Weggehen aufruft: "In die Richtung einer Sehnsucht, nach neuen Menschen, nach Gesprächen mit einer fremden Frau". Es ist das Buch einer Flucht, wenn auch in Tagträumereien. – Er widmet es seiner Frau.
Schließlich entscheidet Frisch sich ganz für die Literatur: 1953 verlässt er seine Familie, 1955 gibt er den Architektenberuf auf.
Steh auf, Mann, und geh!
Die Flucht, das Ausbrechen wird ein bestimmendes Motiv seines Lebens und Schreibens bleiben. Noch in seinen späten Jahren, in den "Entwürfen zu einem dritten Tagebuch" notiert er: "Nachts kommt es wie Hellsicht: Steh auf, Mann, und geh! … Alles wie vor zehn Jahren! Die Frau, die schläft, ist eine andere. Ich bleibe derselbe."
Der Roman "Stiller", der 1954 erscheint – ein Jahr nach der Trennung –, wirkt wie eine literarische Verarbeitung dieser Flucht und problematisiert sie zugleich: Der Bildhauer Anatol Stiller stiehlt sich aus seiner Ehe, aus seinem Künstlerleben, aus der bürgerlichen Enge der Schweiz und nimmt in den Vereinigten Staaten eine neue Identität an. Wie ein Peer Gynt kehrt er jedoch nach Jahren zurück nach Zürich. Dort wird er erkannt und wegen des Verdachts einer falschen Identität verhaftet. Stiller leugnet, der Mann zu sein, den Frau und Freunde so gut zu kennen glauben. Er sträubt sich gegen das Bild, das sie von ihm haben.
Er ist ein anderer geworden, jedenfalls glaubt er das. Aber auch Stiller erkennt: Er ist nicht der Künstler, für den er sich hält, ist mit der eignen Rolle überfordert. Seine Tragik ist, dass er sich das zu lange nicht eingestehen kann.
Trailer zur Verfilmung von "Homo Faber" (1991)
Auch der 1957 erscheinende "Homo Faber", bis heute Frischs meistgelesener Roman, hat einen getriebenen, flüchtenden Mann, der sich selbst verkennt, zur Hauptfigur: Walter Faber ist ein Macher, ein Globetrotter, ein Ingenieur – aber er ist auch sehr feige. Weil er nicht den Mut aufbringt, seiner New Yorker Freundin Ivy ins Gesicht zu sagen, dass er sich von ihr trennen will, erteilt er ihr aus der Ferne in einem Brief den Laufpass. Sie aber lässt sich nicht so einfach abservieren.
Schließlich flüchtet er sich vor ihr auf ein Schiff nach Europa – was eine ganze Reihe tragischer Verkettungen und erneuten Fliehens nach sich zieht.
Frisch sagt später über seinen Protagonisten: "Im Grunde ist der 'Homo Faber', dieser Mann, nicht ein Techniker, sondern er ist ein verhinderter Mensch, der von sich selbst ein Bildnis gemacht hat, der sich ein Bildnis hat machen lassen, das ihn verhindert, zu sich selber zu kommen."
Als literarisches Material ausgebeutet
Auch Frischs eigenes Leben wird von einer Rastlosigkeit geprägt bleiben: Wie seine Romanfiguren reist er viel, durch den Balkan, durch Griechenland, die Türkei, gleich nach dem Krieg dann nach Deutschland, Polen, in die Sowjetunion, dann in die USA, Mexiko.
Unzählige Male wechselt er seinen Wohnsitz, hat Wohnungen in New York, Rom, Berlin, Tessin – allein in Zürich kann man 14 verschiedene Adressen zählen.
Noch mehrfach wird er seine Partnerin wechseln, oftmals sind sie – ähnlich wie im "Homo Faber" – deutlich jünger als er. Unter anderem lebt er mehrere Jahre in Rom mit der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zusammen. Die meisten dieser Beziehungen nutzt er im Anschluss mehr oder weniger unverblümt – und ohne die Frauen um Erlaubnis zu bitten – als literarisches Material, besonders explizit in der Erzählung "Montauk".
In seinem Tagebuch fragt Frisch sich selbst: "Woher nehme ich das Recht, die anderen auszuplaudern?" Vielleicht daher, dass er sich selbst ebenso rigoros als literarisches Material ausbeutet.
Subtile Gewalt, auch gegen sich selbst
In Frischs letzter literarischer Arbeit "Blaubart" sitzt ein Mann in Untersuchungshaft, weil er im Verdacht steht, seine geschiedene Frau umgebracht zu haben. Selbst als er längst freigesprochen ist, führt er das Verfahren gegen sich weiter. Er nimmt sich ins Kreuzverhör, lässt seine ehemaligen Ehefrauen vor Gericht aussagen.
Eine dieser Ex-Frauen lässt Frisch hier die introvertierte Aggression des Protagonisten – seines Alter Ego – beschreiben, wie er vor stiller Wut ihm liebe Gegenstände vor den Augen der Frau zerbricht: Eher, als die Hand gegen sie zu erheben, erwürge er sich selbst.
Das vollständige Manuskript dieser Langen Nacht finden Sie hier.
Frischs Tochter, Ursula Priess, sagt später in einem Interview über ihren Vater: "Wenn Max gewalttätig war, dann nicht mittels physischer Gewalt. Aber: Die Gewalt, mit der er vorging, die Macht, die er ausübte, sah er nicht als solche. Und: Gewaltsam ging er auch gegen sich selbst vor, erbarmungslos, schonungslos, rücksichtslos; er hatte wohl wirklich keine andere Wahl."
Ein Traumhaus für den Unbehausten
Mitte der 80er kehrt Frisch zurück in die Schweiz. In seinen letzten Jahren lebt er mit Karin Pilliod zusammen, die er schon als junges Mädchen kannte. Sie war das Vorbild für die junge Sabeth im "Homo Faber". Im März 1989 erhält er die Diagnose Krebs. Ihm bleiben noch fast zwei Jahre. Max Frisch stirbt am 4. April 1991, Stadelhoferstraße 28.
In seinem letzten Tagebuch entwirft Frisch sein "Lebensabendhaus", ein Traumhaus für den Unbehausten:
"Was ich mir also wünsche: – so ein älteres Haus, meinetwegen aus Holz (weiß gestrichen) wie die Häuser in New England, eine ehemalige Villa mit dreizehn Zimmern etwa und einer Veranda. … Im Haus gibt es ein altes Piano (ich selber spiele nicht) und eine Bibliothek, die weit über meine Lesekraft hinausreicht, sowie ein großes Kamin, wo ich, wenn ich keine Gäste habe, Abende lang sitze, ohne zu wissen, was ich denke. ... Ich reise nicht mehr ... (nur noch zu Begräbnissen.)"
Produktion dieser Langen Nacht
Autor: Rüdiger Heimlich
Regie: Uta Reitz
Es sprechen: Josef Tratnik, Frauke Poolmann, Laszlo I. Kish, Edda Fischer
Redaktion: Dr. Monika Künzel
Webdarstellung: Constantin Hühn
Die Sendung ist eine Wiederholung vom 2. April 2011.