Der Schweizer Maigret
Friedrich Glauser gilt als Erfinder des Schweizer Kriminalroman und ist gleichzeitig Schöpfer der Figur des Wachtmeisters Studer, ein starrköpfiger, manchmal etwas begriffstutziger Polizist. Glauser folgt hier seinem großen Vorbild Georges Simenon, dessen Kommissar Maigret auch lieber seiner Intuition als kühler Logik den Vorzug gab. Alle fünf Studer-Romane sind nun als Taschenbuchausgabe erhältlich.
Friedrich Glauser wird 1896 in Wien geboren. Nach dem frühen Tod seiner Mutter leidet er unter der Tyrannei seines Vaters. Mit 13 reißt er zum ersten Mal aus und wird in Polizeihaft gesteckt – der erste Kontakt mit der fürsorglichen Hand des Staates. Es folgen Internate und Erziehungsheime, frühe Drogenerfahrungen und die literarische Inkubation durch Expressionismus und Dadaismus. Mit 22 Jahren wird er wegen "liederlichem und ausschweifendem Lebenswandel" entmündigt.
Glauser meldet sich zur Fremdenlegion. Nach zwei Jahren Nordafrika wegen eines Herzleidens ausgemustert, verdingt er sich als Tellerwäscher in Paris und als Kohlenkumpel in Belgien, um nur zwei seiner vielen, oft bizarren Tätigkeiten zu nennen. Dann geht es immer schneller auf und ab, vor allem ab: Morphium, Depressionen, Selbstmordversuche, Psychiatrie, Spitäler, Entziehungskuren und Gefängnisaufenthalte. 1938 stirbt Glauser, erst 42 Jahre alt, am Vorabend seiner geplanten Hochzeit mit seiner langjährigen Begleiterin, der Pflegerin Berthe Bendel.
In den Anstalten hatte Glauser zu schreiben begonnen, die Literatur war der Rettungsanker in seiner permanenten existentiellen Seenot. Weil er allerdings lange keinen Verlag für seine Texte fand, wandte er sich schließlich einem populären und verkaufsträchtigen Genre zu: Er erfand den Schweizer Kriminalroman und den legendären Wachtmeister Studer.
Studer: Das ist ein behäbiger Fahnder der Berner Kantonspolizei, kurz vor der Pensionierung, ein etwas bieder wirkender Familienmensch, gutmütig, wortkarg, dickschädelig. Keiner dieser neunmalklugen Ermittler, Holmes-artigen Logiker und Schlaumeier-Detektive, die einen Fall aus der Distanz allein mittels scharfsinniger Schlussfolgerungen lösen, wie sie damals in der Kriminalliteratur üblich waren. Studer ist manchmal geradezu begriffsstutzig.
Wie Georges Simenons Maigret (Glausers wichtigstes Vorbild bei der Gestaltung der Figur) arbeitet er eher mit der Nase als mit dem Verstand. Die sagt ihm zum Beispiel im ersten der Studer-Romane ("Erwin Schlumpf Mord"), dass der Mann, der nach einem Mord im Gerzensteiner Wald bereits in Untersuchungshaft sitzt (ein Vorbestrafter, der zudem ein Liebesverhältnis mit der Tochter des Ermordeten hat und nun auch noch einen Selbstmordversuch begeht), nicht der Schuldige sein kann.
Studer verfügt über Intuition und das besondere Gespür für die Aussagekraft von Gesten oder atmosphärischen Details. Beides leitet ihn bei den Ermittlungen. Damit sind zugleich die Qualitäten von Glausers Prosa benannt.
Der Autor hat einmal zehn Gebote des Kriminalromans aufgestellt: Nicht der Kriminalfall selbst, also die Entlarvung des Täters ist demnach die Hauptsache, sondern die Darstellung von Menschen und ihrer sozialen Atmosphäre. Für sie bietet der Kriminalroman gewissermaßen nur den Vorwand bietet. Für die billige "Fuselspannung", die nur auf das "Wer war's?" gerichtet ist, hat Glauser wenig Verständnis.
Studer, der bärbeißige Menschenfreund, entwickelt ein Gespür für menschliche Schwächen - hat er doch selber welche, etwa die Liebe zu Stimulanzien aller Art: Ohne Zigarillo und Kaffee mit Kirsch geht bei ihm nichts. Auch ist er anfechtbarer und verletzlicher als der kühle Maigret. Er kennt Momente von Trübsinn, Resignation, Melancholie, Leiden an der Welt.
Einerseits ist er mit seiner Geradheit und seinen konstanten bürgerlichen Verhältnissen in vielem ein Gegenbild Glausers. Andererseits sympathisiert er wiederum mit solchen unbürgerlichen, strauchelnden und oft vorschnell diskriminierten Außenseiterfiguren, wie Glauser selbst eine war.
Oft werden Kriminalromane am Reißbrett entworfen. Glauser dagegen verarbeitet gerade in diesem Genre viele eigene Erfahrungen seines konfusen Lebens, die ihm zu eindringlicher Kenntnis des jeweiligen Milieus verhelfen. In "Matto regiert", dem herausragenden Band der Studer-Reihe, ist es die Psychiatrie. Wer wäre besser geeignet, in einem Roman Blicke hinter Anstaltsmauern zu werfen, als der aufgrund eines Verbrechens dorthin bestellte Detektiv?
Ort der Handlung ist eine Irrenanstalt im Kanton Bern in den zwanziger Jahren. Der Direktor ist verschwunden, der Patient Pieterlen, ein Kindsmörder, ausgebrochen. Wachtmeister Studer versucht nicht nur, einem Verbrecher auf die Spur zu kommen, sondern tritt auch eine Reise in die Grenzregionen von Vernunft und Irrationalität an, die keineswegs immer so klar voneinander zu trennen sind - Matto, der Geist des Wahnsinns, regiert überall.
Doktor Laduner führt Studer durch die Unterwelt der Anstalt. Irgendetwas an der Freundlichkeit und selbstgefälligen Witzigkeit des Arztes stimmt jedoch nicht. Bald entwickelt sich eine Kraftprobe... Nebenbei übt der Roman, auf der Basis von Glausers eigener leidvoller Erfahrung, Kritik an der zeitgenössischen Psychiatrie: Man kann nicht mit den Gefühlen der anderen umgehen wie ein Chemiker mit den Substanzen in Reagenzgläsern.
Im Züricher Unionsverlag sind nun die fünf Studer-Romane in preiswerter und zugleich vorbildlicher Taschenbuchausgabe erschienen. Sie bietet die authentischen Textfassungen nach der im Limmat-Verlag erschienenen Werkedition mit informativen Nachworten und hilfreichen Kommentaren. Die ideale Gelegenheit also, einen hierzulande immer noch wenig bekannten, außerordentlich reizvollen Autor zu entdecken.
Friedrich Glauser: Die Wachtmeister Studer-Romane
Schlumpf Erwin Mord, 256 S., 7.90 Euro;
Matto regiert, 320 S., 8,90 Euro;
Der Chinese, 288 S., 7,90 Euro;
Die Fieberkurve, 256 S., 7,90 Euro;
Die Speiche, 176 S., 7,90 Euro.
Alle bei: Unionsverlag. Zürich 2005.
Glauser meldet sich zur Fremdenlegion. Nach zwei Jahren Nordafrika wegen eines Herzleidens ausgemustert, verdingt er sich als Tellerwäscher in Paris und als Kohlenkumpel in Belgien, um nur zwei seiner vielen, oft bizarren Tätigkeiten zu nennen. Dann geht es immer schneller auf und ab, vor allem ab: Morphium, Depressionen, Selbstmordversuche, Psychiatrie, Spitäler, Entziehungskuren und Gefängnisaufenthalte. 1938 stirbt Glauser, erst 42 Jahre alt, am Vorabend seiner geplanten Hochzeit mit seiner langjährigen Begleiterin, der Pflegerin Berthe Bendel.
In den Anstalten hatte Glauser zu schreiben begonnen, die Literatur war der Rettungsanker in seiner permanenten existentiellen Seenot. Weil er allerdings lange keinen Verlag für seine Texte fand, wandte er sich schließlich einem populären und verkaufsträchtigen Genre zu: Er erfand den Schweizer Kriminalroman und den legendären Wachtmeister Studer.
Studer: Das ist ein behäbiger Fahnder der Berner Kantonspolizei, kurz vor der Pensionierung, ein etwas bieder wirkender Familienmensch, gutmütig, wortkarg, dickschädelig. Keiner dieser neunmalklugen Ermittler, Holmes-artigen Logiker und Schlaumeier-Detektive, die einen Fall aus der Distanz allein mittels scharfsinniger Schlussfolgerungen lösen, wie sie damals in der Kriminalliteratur üblich waren. Studer ist manchmal geradezu begriffsstutzig.
Wie Georges Simenons Maigret (Glausers wichtigstes Vorbild bei der Gestaltung der Figur) arbeitet er eher mit der Nase als mit dem Verstand. Die sagt ihm zum Beispiel im ersten der Studer-Romane ("Erwin Schlumpf Mord"), dass der Mann, der nach einem Mord im Gerzensteiner Wald bereits in Untersuchungshaft sitzt (ein Vorbestrafter, der zudem ein Liebesverhältnis mit der Tochter des Ermordeten hat und nun auch noch einen Selbstmordversuch begeht), nicht der Schuldige sein kann.
Studer verfügt über Intuition und das besondere Gespür für die Aussagekraft von Gesten oder atmosphärischen Details. Beides leitet ihn bei den Ermittlungen. Damit sind zugleich die Qualitäten von Glausers Prosa benannt.
Der Autor hat einmal zehn Gebote des Kriminalromans aufgestellt: Nicht der Kriminalfall selbst, also die Entlarvung des Täters ist demnach die Hauptsache, sondern die Darstellung von Menschen und ihrer sozialen Atmosphäre. Für sie bietet der Kriminalroman gewissermaßen nur den Vorwand bietet. Für die billige "Fuselspannung", die nur auf das "Wer war's?" gerichtet ist, hat Glauser wenig Verständnis.
Studer, der bärbeißige Menschenfreund, entwickelt ein Gespür für menschliche Schwächen - hat er doch selber welche, etwa die Liebe zu Stimulanzien aller Art: Ohne Zigarillo und Kaffee mit Kirsch geht bei ihm nichts. Auch ist er anfechtbarer und verletzlicher als der kühle Maigret. Er kennt Momente von Trübsinn, Resignation, Melancholie, Leiden an der Welt.
Einerseits ist er mit seiner Geradheit und seinen konstanten bürgerlichen Verhältnissen in vielem ein Gegenbild Glausers. Andererseits sympathisiert er wiederum mit solchen unbürgerlichen, strauchelnden und oft vorschnell diskriminierten Außenseiterfiguren, wie Glauser selbst eine war.
Oft werden Kriminalromane am Reißbrett entworfen. Glauser dagegen verarbeitet gerade in diesem Genre viele eigene Erfahrungen seines konfusen Lebens, die ihm zu eindringlicher Kenntnis des jeweiligen Milieus verhelfen. In "Matto regiert", dem herausragenden Band der Studer-Reihe, ist es die Psychiatrie. Wer wäre besser geeignet, in einem Roman Blicke hinter Anstaltsmauern zu werfen, als der aufgrund eines Verbrechens dorthin bestellte Detektiv?
Ort der Handlung ist eine Irrenanstalt im Kanton Bern in den zwanziger Jahren. Der Direktor ist verschwunden, der Patient Pieterlen, ein Kindsmörder, ausgebrochen. Wachtmeister Studer versucht nicht nur, einem Verbrecher auf die Spur zu kommen, sondern tritt auch eine Reise in die Grenzregionen von Vernunft und Irrationalität an, die keineswegs immer so klar voneinander zu trennen sind - Matto, der Geist des Wahnsinns, regiert überall.
Doktor Laduner führt Studer durch die Unterwelt der Anstalt. Irgendetwas an der Freundlichkeit und selbstgefälligen Witzigkeit des Arztes stimmt jedoch nicht. Bald entwickelt sich eine Kraftprobe... Nebenbei übt der Roman, auf der Basis von Glausers eigener leidvoller Erfahrung, Kritik an der zeitgenössischen Psychiatrie: Man kann nicht mit den Gefühlen der anderen umgehen wie ein Chemiker mit den Substanzen in Reagenzgläsern.
Im Züricher Unionsverlag sind nun die fünf Studer-Romane in preiswerter und zugleich vorbildlicher Taschenbuchausgabe erschienen. Sie bietet die authentischen Textfassungen nach der im Limmat-Verlag erschienenen Werkedition mit informativen Nachworten und hilfreichen Kommentaren. Die ideale Gelegenheit also, einen hierzulande immer noch wenig bekannten, außerordentlich reizvollen Autor zu entdecken.
Friedrich Glauser: Die Wachtmeister Studer-Romane
Schlumpf Erwin Mord, 256 S., 7.90 Euro;
Matto regiert, 320 S., 8,90 Euro;
Der Chinese, 288 S., 7,90 Euro;
Die Fieberkurve, 256 S., 7,90 Euro;
Die Speiche, 176 S., 7,90 Euro.
Alle bei: Unionsverlag. Zürich 2005.