Der servile Sekretär und sein Ersatzvater
Die Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume ist ein Lehrstück: Wie grandiose Selbstüberschätzung weitreichende politische Folgen haben kann. Das zeigt der Historiker Eckard Michels in einem außergewöhnlich spannenden Geschichtsbuch.
Günter Guillaume: "Es klingelt, und ich drücke den Summer, damit unten die Haustür aufgeht. Und dann merke ich am Geräusch: Das ist nicht der Milchmann. Das ist ein Dutzend Müllmänner. Und dann stehen die vor der Wohnungstür, und ich dahinter im Bademantel, im Nebenzimmer der 17-jährige Sohn – was machen Sie da?"
Immerhin: Günter Guillaume ist nicht sprachlos, als es am Mittwoch, dem 24. April 1974 gegen 6:30 Uhr morgens an der Tür klingelt. Auf den Durchsuchungsbefehl, den ihm Beamte des Bundeskriminalamts unter die Nase halten, antwortet der Kanzleramtsreferent:
"Ich bin Bürger der DDR und ihr Offizier, bitte respektieren Sie das!"
Ein folgenschwerer Fehler, wie sein Biograf Eckard Michels zum wohl spektakulärsten Spionagefall in der Geschichte beider deutscher Staaten bemerkt. Denn: Wirkliche Topspione enttarnen sich nicht selbst, weder in ihrem noch im Interesse ihres Auftragsgebers. War "Guillaume, der Spion", so der Titel von Michels umfangreicher Studie, dann vielleicht seinen Agentenlohn nicht wert? Eher ungewollt stürzt der erste sozialdemokratische Regierungschef der Bundesrepublik über den Maulwurf im Kanzleramt.
Willy Brandt: "Mein Rücktritt geschah aus Respekt vor ungeschriebenen Regeln der Demokratie und um meine persönliche und politische Integrität nicht zerstören zu lassen. Was immer noch darüber geschrieben werden mag: Es ist und bleibt grotesk, einen deutschen Bundeskanzler für erpressbar zu halten. Ich bin es jedenfalls nicht."
Schon lange ist sich die Geschichtsschreibung darüber einig, dass die Affäre Guillaume nur der Anlass, aber nicht die Ursache von Brandts Rücktritt ist. Der Kanzler, Idol vieler Deutscher in Ost und West, ist zu Beginn des Jahres 1974 amtsmüde. "Der Herr bade gerne lau" – nicht zuletzt dieser Spott von SPD-Fraktionschef Herbert Wehner demontiert den Parteifreund, dessen Entspannungspolitik dennoch eine neue Ära einleitet. Geschickt eingebettet in diese längst bekannten Zeitläufe wartet der in Großbritannien lehrende deutsche Historiker Eckard Michels mit seiner Version dieser Spionagegeschichte auf. Und sie befriedigt gleich zwei Erwartungen. Zum einen liefert Michels eine faktenreiche Rekonstruktion der Guillaume-Affäre auf der Basis von neu zugänglichen Akten des Kanzleramtes. Zum anderen: Michels packt seinen Leser, erzählt flüssig in bester Manier englischer Geschichtsschreibung und stellt dabei zwei Personen in den Mittelpunkt, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
"Guillaume glaubte, eine Art Privatsekretär Brandts zu sein. Er sah in dem 13 Jahre älteren Brandt eine Art Ersatzvater. Sein Verhältnis zu ihm war auf strapaziöse Art servil. Brandt, der das geistig anregende Gespräch suchte und sich dafür gern mit Denkern und Künstlern umgab, qualifizierte Guillaume frühzeitig als Funktionär mit beschränktem politischem Horizont ab."
Als der Redakteur eines Wissenschaftsverlages, in den frühen 50er Jahren von der Stasi angeworben, von Ost-Berlin in den Westen geschleust wird, ist Willy Brandt Präsident des West-Berliner Abgeordnetenhauses, kurz danach Regierender Bürgermeister. Guillaumes Karriere in der Bundesrepublik ‒ und die seiner Frau Christel ‒ verläuft schnell und geräuschlos: 1957 Eintritt in die SPD, 1964 Parteifunktionär, Kanzleramtsmitarbeiter, 1972 persönlicher Referent des Bundeskanzlers in Parteifragen. In einer mehrteiligen Phönix-Dokumentation rühmt er sich der Nähe zu Brandt, vor allem während eines vierwöchigen Norwegen-Urlaubes 1973:
"Damals hatte ich den Eindruck: Es ist schon etwas Ungeheuerliches, eine Krise innerhalb des Bündnisses, ein echter Streit zwischen Deutschen und Franzosen, Engländern und Amerikanern. Ich hatte ja zeitweilig sogar die Wahnsinnsidee gehabt: Du musst jetzt mit dieser Sache deine Arbeit beenden. Du fährst mit der Fähre nach Warnemünde, in die DDR und bringst das selber hin!"
Gnadenlose Selbstüberschätzung: ein Wesenszug des vermeintlichen Topagenten. Dem gegenüber stellt Eckard Michels die Akten, die der Auslandsnachrichtendienst der DDR über Guillaumes Berichte angelegt hat. Der Inhalt ist zwar während der Wende vernichtet worden, aber die Liste der Aktenbände ist erhalten. Lediglich zwei Bände tragen den Namen Guillaume in den letzten beiden Jahren seiner Agententätigkeit.
"Die späteren vollmundigen Bekundungen in seinen Memoiren, dass er eine Spitzenquelle mit Einblick in die geheimsten Vorgänge des Kanzleramtes gewesen sei, die er umgehend nach Ostberlin weiterberichtet habe, sollten nicht zu ernst genommen werden. Diese Behauptungen waren dem Versuch der nachträglichen Sinngebung eines in der Bundesrepublik gescheiterten und daher auf die DDR zurückgeworfenen Lebens und der wenig subtilen Federführung durch seine MfS-Ghostwriter geschuldet."
Diese "wenig subtile Federführung" ist auch Markus Wolf klar. Der Chef der DDR-Auslandspionage äußert sich nach der Wende ganz unverblümt:
"Ja, das war, was uns angeht, den Nachrichtendienst, ein absolutes Eigentor. Ein ganz schlimmes Eigentor."
Abseits des Rummels um die Affäre, die zumindest die westdeutsche Öffentlichkeit monatelange in Atem hielt, reagierten die beiden deutschen Regierungen nüchtern.
"Der Kanzlerwechsel in Bonn war für die DDR-Führung eine Art Glück im Unglück, denn Schmidt sah die Guillaume-Affäre nicht etwa wie Brandt als einen persönlichen Affront, sondern nüchtern als nachgeordnetes Malheur, das ihm auch noch den Weg ins Kanzleramt geebnet hatte. Es kam zu keiner Unterbrechung der normalen Arbeitskontakte".
Günter Guillaume kehrt nach mehrjähriger Haftstrafe 1981 in die DDR zurück. Und vollzieht die letzte Wende seines Lebens: Vom überzeugten Kommunisten zum rechten SPD-Mann, zurück zum Verfechter der DDR. Eine deutsch-deutsche Karriere. Allerdings eine, so das Resümee von Michels Buch, die nicht das Zeug hatte, eine andere deutsche Karriere vorläufig zu beenden.
"Die berühmteste Spionageaffäre der deutschen Geschichte zeigt, dass nachrichtendienstliche Tätigkeit historisch nur dann relevant ist, wenn neben dem Zugang des Agenten zu sensiblen Informationen und seinem Vorsatz, diese Erkenntnisse tatsächlich an seinen geheimen Auftraggeber weiterzuleiten, auf Seiten des Empfängers auch die Bereitschaft vorhanden ist, die gelieferten Informationen zu nutzen. Im Fall Guillaume bestehen starke Zweifel, ob auch nur eine der drei Bedingungen gegeben war. Der bloße Umfang des von der Bundesrepublik erlittenen Geheimnisverrats rechtfertigt jedenfalls nicht den Rücktritt Willy Brandt als Bundeskanzler im Mai 1974."
Willy Brandt: "Was immer noch darüber geschrieben werden mag: Es ist und bleibt grotesk, einen deutschen Bundeskanzler für erpressbar zu halten. Ich bin es jedenfalls nicht."
Rezensiert von Nana Brink
Immerhin: Günter Guillaume ist nicht sprachlos, als es am Mittwoch, dem 24. April 1974 gegen 6:30 Uhr morgens an der Tür klingelt. Auf den Durchsuchungsbefehl, den ihm Beamte des Bundeskriminalamts unter die Nase halten, antwortet der Kanzleramtsreferent:
"Ich bin Bürger der DDR und ihr Offizier, bitte respektieren Sie das!"
Ein folgenschwerer Fehler, wie sein Biograf Eckard Michels zum wohl spektakulärsten Spionagefall in der Geschichte beider deutscher Staaten bemerkt. Denn: Wirkliche Topspione enttarnen sich nicht selbst, weder in ihrem noch im Interesse ihres Auftragsgebers. War "Guillaume, der Spion", so der Titel von Michels umfangreicher Studie, dann vielleicht seinen Agentenlohn nicht wert? Eher ungewollt stürzt der erste sozialdemokratische Regierungschef der Bundesrepublik über den Maulwurf im Kanzleramt.
Willy Brandt: "Mein Rücktritt geschah aus Respekt vor ungeschriebenen Regeln der Demokratie und um meine persönliche und politische Integrität nicht zerstören zu lassen. Was immer noch darüber geschrieben werden mag: Es ist und bleibt grotesk, einen deutschen Bundeskanzler für erpressbar zu halten. Ich bin es jedenfalls nicht."
Schon lange ist sich die Geschichtsschreibung darüber einig, dass die Affäre Guillaume nur der Anlass, aber nicht die Ursache von Brandts Rücktritt ist. Der Kanzler, Idol vieler Deutscher in Ost und West, ist zu Beginn des Jahres 1974 amtsmüde. "Der Herr bade gerne lau" – nicht zuletzt dieser Spott von SPD-Fraktionschef Herbert Wehner demontiert den Parteifreund, dessen Entspannungspolitik dennoch eine neue Ära einleitet. Geschickt eingebettet in diese längst bekannten Zeitläufe wartet der in Großbritannien lehrende deutsche Historiker Eckard Michels mit seiner Version dieser Spionagegeschichte auf. Und sie befriedigt gleich zwei Erwartungen. Zum einen liefert Michels eine faktenreiche Rekonstruktion der Guillaume-Affäre auf der Basis von neu zugänglichen Akten des Kanzleramtes. Zum anderen: Michels packt seinen Leser, erzählt flüssig in bester Manier englischer Geschichtsschreibung und stellt dabei zwei Personen in den Mittelpunkt, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
"Guillaume glaubte, eine Art Privatsekretär Brandts zu sein. Er sah in dem 13 Jahre älteren Brandt eine Art Ersatzvater. Sein Verhältnis zu ihm war auf strapaziöse Art servil. Brandt, der das geistig anregende Gespräch suchte und sich dafür gern mit Denkern und Künstlern umgab, qualifizierte Guillaume frühzeitig als Funktionär mit beschränktem politischem Horizont ab."
Als der Redakteur eines Wissenschaftsverlages, in den frühen 50er Jahren von der Stasi angeworben, von Ost-Berlin in den Westen geschleust wird, ist Willy Brandt Präsident des West-Berliner Abgeordnetenhauses, kurz danach Regierender Bürgermeister. Guillaumes Karriere in der Bundesrepublik ‒ und die seiner Frau Christel ‒ verläuft schnell und geräuschlos: 1957 Eintritt in die SPD, 1964 Parteifunktionär, Kanzleramtsmitarbeiter, 1972 persönlicher Referent des Bundeskanzlers in Parteifragen. In einer mehrteiligen Phönix-Dokumentation rühmt er sich der Nähe zu Brandt, vor allem während eines vierwöchigen Norwegen-Urlaubes 1973:
"Damals hatte ich den Eindruck: Es ist schon etwas Ungeheuerliches, eine Krise innerhalb des Bündnisses, ein echter Streit zwischen Deutschen und Franzosen, Engländern und Amerikanern. Ich hatte ja zeitweilig sogar die Wahnsinnsidee gehabt: Du musst jetzt mit dieser Sache deine Arbeit beenden. Du fährst mit der Fähre nach Warnemünde, in die DDR und bringst das selber hin!"
Gnadenlose Selbstüberschätzung: ein Wesenszug des vermeintlichen Topagenten. Dem gegenüber stellt Eckard Michels die Akten, die der Auslandsnachrichtendienst der DDR über Guillaumes Berichte angelegt hat. Der Inhalt ist zwar während der Wende vernichtet worden, aber die Liste der Aktenbände ist erhalten. Lediglich zwei Bände tragen den Namen Guillaume in den letzten beiden Jahren seiner Agententätigkeit.
"Die späteren vollmundigen Bekundungen in seinen Memoiren, dass er eine Spitzenquelle mit Einblick in die geheimsten Vorgänge des Kanzleramtes gewesen sei, die er umgehend nach Ostberlin weiterberichtet habe, sollten nicht zu ernst genommen werden. Diese Behauptungen waren dem Versuch der nachträglichen Sinngebung eines in der Bundesrepublik gescheiterten und daher auf die DDR zurückgeworfenen Lebens und der wenig subtilen Federführung durch seine MfS-Ghostwriter geschuldet."
Diese "wenig subtile Federführung" ist auch Markus Wolf klar. Der Chef der DDR-Auslandspionage äußert sich nach der Wende ganz unverblümt:
"Ja, das war, was uns angeht, den Nachrichtendienst, ein absolutes Eigentor. Ein ganz schlimmes Eigentor."
Abseits des Rummels um die Affäre, die zumindest die westdeutsche Öffentlichkeit monatelange in Atem hielt, reagierten die beiden deutschen Regierungen nüchtern.
"Der Kanzlerwechsel in Bonn war für die DDR-Führung eine Art Glück im Unglück, denn Schmidt sah die Guillaume-Affäre nicht etwa wie Brandt als einen persönlichen Affront, sondern nüchtern als nachgeordnetes Malheur, das ihm auch noch den Weg ins Kanzleramt geebnet hatte. Es kam zu keiner Unterbrechung der normalen Arbeitskontakte".
Günter Guillaume kehrt nach mehrjähriger Haftstrafe 1981 in die DDR zurück. Und vollzieht die letzte Wende seines Lebens: Vom überzeugten Kommunisten zum rechten SPD-Mann, zurück zum Verfechter der DDR. Eine deutsch-deutsche Karriere. Allerdings eine, so das Resümee von Michels Buch, die nicht das Zeug hatte, eine andere deutsche Karriere vorläufig zu beenden.
"Die berühmteste Spionageaffäre der deutschen Geschichte zeigt, dass nachrichtendienstliche Tätigkeit historisch nur dann relevant ist, wenn neben dem Zugang des Agenten zu sensiblen Informationen und seinem Vorsatz, diese Erkenntnisse tatsächlich an seinen geheimen Auftraggeber weiterzuleiten, auf Seiten des Empfängers auch die Bereitschaft vorhanden ist, die gelieferten Informationen zu nutzen. Im Fall Guillaume bestehen starke Zweifel, ob auch nur eine der drei Bedingungen gegeben war. Der bloße Umfang des von der Bundesrepublik erlittenen Geheimnisverrats rechtfertigt jedenfalls nicht den Rücktritt Willy Brandt als Bundeskanzler im Mai 1974."
Willy Brandt: "Was immer noch darüber geschrieben werden mag: Es ist und bleibt grotesk, einen deutschen Bundeskanzler für erpressbar zu halten. Ich bin es jedenfalls nicht."
Rezensiert von Nana Brink
Eckard Michels: Guillaume, der Spion. Eine deutsch-deutsche Karriere
Ch. Links Verlag, Berlin 2013
ISBN: 978-3861537083
414 Seiten, 24,99 Euro
Ch. Links Verlag, Berlin 2013
ISBN: 978-3861537083
414 Seiten, 24,99 Euro