Der Soundtrack des Mauerfalls
Aus Interviews mit über 70 Szene-Aktivisten haben Felix Denk und Sven von Thülen eine besondere Form von oral history destilliert: Sie beschreibt die Anfänge der Berliner Technobewegung und liefert so einen profunden Einblick in eine Zeit des Umbruchs.
Es ist ja nicht so, dass es nicht schon einige Kulturprodukte zum Thema gäbe: Bücher, Tablet-Apps, vor allem Dokumentarfilme im Kontext zwischen Berliner Techno- und gesamtdeutscher Wende-Geschichte. Und doch jubeln viele Kritiker, als wenn die Welt auf so ein "unverzichtbares Standardwerk" (Groove Magazin) gewartet hätte. Zu Recht.
"Der Klang der Familie erzählt die packende Frühgeschichte einer der prägenden europäischen Jugendbewegungen," ist im "Spiegel" zu lesen. Die "Frankfurer Allgemeine Sonntagszeitung" ergänzt: "Der Gesprächsband ist viel mehr als ein Buch über Techno, nämlich ein deutsch-deutscher Vergangenheitsschatz." Die "Süddeutsche Zeitung" erklärt: "Denk und von Thülen beschreiben Techno nicht musikgeschichtlich, sondern soziologisch." Und die "Berliner Zeitung" hält das Buch gar für "ein pophistorisches Monumentalwerk."
Das alles ist nicht ganz falsch und bedarf doch einiger Erklärungen und Einordnungen. Zunächst: Eine derartige Geschichtsaufarbeitung in Form von oral history hat es zu diesem Thema noch nicht gegeben. Die Autoren, sonst als DJ und Musikjournalisten tätig, haben echte Fleißarbeit hingelegt. Aus stundenlangen Interviews mit über 70 Szene-Aktivisten haben Felix Denk und Sven von Thülen meist kurz gefasste Aussagen zu einer besonderen Form von Erzählung und Geschichtsschreibung montiert, ganz ohne Erzähler oder beschreibende Erklärungen. Durch die Vielfalt und Emotionalität der Aussagen entstehen realistische Bilder von Orten, Ereignissen und Entwicklungen.
Natürlich geht es dabei auch um den Techno-Track von Dr. Motte und 3Phase, der dem Buch seinen Titel gab. Vor allem jedoch erfahren Szene-Neulinge viel über die Zusammenhänge dieser mächtigen, noch nicht verklungenen Jugend- und Musikkultur: "Die Musik hatte dieses verbindende Element", beschreibt eine Zeitzeugin. Und ein anderer ergänzt: "Da hab ich mich zum ersten Mal geborgen gefühlt".
Einer der Hauptcharaktere, die durch das Buch führen, ist der aus Ostberlin stammende DJ Wolle XDP. Von ihm lernen wir viel über die Vorgeschichte in der DDR, aber auch eine Definition der Musik und ihrer Wirkung: "Härteste Techno-Beats aus House, Industrial, HipHop, EBM, New Beat und Acid wirken im Zusammenspiel von psychedelischen Licht – und Effekt-Installationen auf das Unterbewusstsein."
Sein Kollege Clé ergänzt: "Es war kein rein musikalisches Ding. Es ging um das Verbotene, das Abgefuckte, aber gleichzeitig Schöne."
Und der Labelmacher und Produzent Mark Reeder macht den Zusammenhang zur Zeitgeschichte klar: "Es gab keine Gesetze, keine Regeln mehr. Die Musik sollte das widerspiegeln. Ich dachte, das ist der Soundtrack des Mauerfalls, der Freiheit."
Und Czyk, Art Director des "Frontpage"-Magazins fügt eine soziologische Dimension an: "Kein Starkult, nicht Adolf Hitler, sondern das Gegenteil. Wir sind das Volk. Die Idee des Gemeinsamen war das Entscheidende."
Viele solcher Erkenntnisse gewinnen können vor allem Menschen, die Phänomene wie die Loveparade nur im Zusammenhang mit Müllbergen oder Drogenkonsum gesehen haben. Zum Beispiel die ideologische Anreicherung der Party-Idee bis zu konkreten Utopien wie einer ravenden Gesellschaftsveränderung und tanzenden Weltrevolution. Bevor Techno Mitte der 90er-Jahre zum Massenphänomen wurde und Kegelvereine zur Loveparade anreisten, endet das Buch – mit den ersten Auswüchsen von Ausverkauf und Abkehr durch die einstigen Underground-Helden.
Was ist geblieben? Inga Humpe zum Beispiel hat "einfach mal zehn Jahre durchgefeiert. ( ... ) Diese Zeit ist meine Basis und wird es immer bleiben. Im Herzen bleibt man Raver."
Wermutstropfen dieser so ungewöhnlichen wie gelungenen Geschichtsschreibung: Jedem, der die Geschichte selbst miterlebt hat, fallen sicher Personen, Orte und Geschichten ein, die fehlen. Mir zum Beispiel Ellen Allien, eine der frühesten weiblichen DJs. Und – wie das so ist aus unterschiedlichen Wahrnehmungen - natürlich widersprechen sich manche Aussagen der Zeitzeugen, andere sind sehr blauäugig oder im Nachhinein betrachtet rosa-brillig. Und das ist für die Autoren schwer zu verifizieren, wenn sie selbst nicht dabei waren. Denn sie sind erst Mitte der 90er nach Berlin gekommen.
Mit Fleiß und Sachverständnis haben sie immerhin vieles nachgeholt – ihre grandiose oral history wird schön ergänzt durch Verzeichnisse von Orten, Protagonisten und DJ-Charts.
Besprochen von Martin Risel
Felix Denk/Sven von Thülen: Der Klang der Familie: Berlin, Techno und die Wende
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2012
423 Seiten; 14,99 Euro
"Der Klang der Familie erzählt die packende Frühgeschichte einer der prägenden europäischen Jugendbewegungen," ist im "Spiegel" zu lesen. Die "Frankfurer Allgemeine Sonntagszeitung" ergänzt: "Der Gesprächsband ist viel mehr als ein Buch über Techno, nämlich ein deutsch-deutscher Vergangenheitsschatz." Die "Süddeutsche Zeitung" erklärt: "Denk und von Thülen beschreiben Techno nicht musikgeschichtlich, sondern soziologisch." Und die "Berliner Zeitung" hält das Buch gar für "ein pophistorisches Monumentalwerk."
Das alles ist nicht ganz falsch und bedarf doch einiger Erklärungen und Einordnungen. Zunächst: Eine derartige Geschichtsaufarbeitung in Form von oral history hat es zu diesem Thema noch nicht gegeben. Die Autoren, sonst als DJ und Musikjournalisten tätig, haben echte Fleißarbeit hingelegt. Aus stundenlangen Interviews mit über 70 Szene-Aktivisten haben Felix Denk und Sven von Thülen meist kurz gefasste Aussagen zu einer besonderen Form von Erzählung und Geschichtsschreibung montiert, ganz ohne Erzähler oder beschreibende Erklärungen. Durch die Vielfalt und Emotionalität der Aussagen entstehen realistische Bilder von Orten, Ereignissen und Entwicklungen.
Natürlich geht es dabei auch um den Techno-Track von Dr. Motte und 3Phase, der dem Buch seinen Titel gab. Vor allem jedoch erfahren Szene-Neulinge viel über die Zusammenhänge dieser mächtigen, noch nicht verklungenen Jugend- und Musikkultur: "Die Musik hatte dieses verbindende Element", beschreibt eine Zeitzeugin. Und ein anderer ergänzt: "Da hab ich mich zum ersten Mal geborgen gefühlt".
Einer der Hauptcharaktere, die durch das Buch führen, ist der aus Ostberlin stammende DJ Wolle XDP. Von ihm lernen wir viel über die Vorgeschichte in der DDR, aber auch eine Definition der Musik und ihrer Wirkung: "Härteste Techno-Beats aus House, Industrial, HipHop, EBM, New Beat und Acid wirken im Zusammenspiel von psychedelischen Licht – und Effekt-Installationen auf das Unterbewusstsein."
Sein Kollege Clé ergänzt: "Es war kein rein musikalisches Ding. Es ging um das Verbotene, das Abgefuckte, aber gleichzeitig Schöne."
Und der Labelmacher und Produzent Mark Reeder macht den Zusammenhang zur Zeitgeschichte klar: "Es gab keine Gesetze, keine Regeln mehr. Die Musik sollte das widerspiegeln. Ich dachte, das ist der Soundtrack des Mauerfalls, der Freiheit."
Und Czyk, Art Director des "Frontpage"-Magazins fügt eine soziologische Dimension an: "Kein Starkult, nicht Adolf Hitler, sondern das Gegenteil. Wir sind das Volk. Die Idee des Gemeinsamen war das Entscheidende."
Viele solcher Erkenntnisse gewinnen können vor allem Menschen, die Phänomene wie die Loveparade nur im Zusammenhang mit Müllbergen oder Drogenkonsum gesehen haben. Zum Beispiel die ideologische Anreicherung der Party-Idee bis zu konkreten Utopien wie einer ravenden Gesellschaftsveränderung und tanzenden Weltrevolution. Bevor Techno Mitte der 90er-Jahre zum Massenphänomen wurde und Kegelvereine zur Loveparade anreisten, endet das Buch – mit den ersten Auswüchsen von Ausverkauf und Abkehr durch die einstigen Underground-Helden.
Was ist geblieben? Inga Humpe zum Beispiel hat "einfach mal zehn Jahre durchgefeiert. ( ... ) Diese Zeit ist meine Basis und wird es immer bleiben. Im Herzen bleibt man Raver."
Wermutstropfen dieser so ungewöhnlichen wie gelungenen Geschichtsschreibung: Jedem, der die Geschichte selbst miterlebt hat, fallen sicher Personen, Orte und Geschichten ein, die fehlen. Mir zum Beispiel Ellen Allien, eine der frühesten weiblichen DJs. Und – wie das so ist aus unterschiedlichen Wahrnehmungen - natürlich widersprechen sich manche Aussagen der Zeitzeugen, andere sind sehr blauäugig oder im Nachhinein betrachtet rosa-brillig. Und das ist für die Autoren schwer zu verifizieren, wenn sie selbst nicht dabei waren. Denn sie sind erst Mitte der 90er nach Berlin gekommen.
Mit Fleiß und Sachverständnis haben sie immerhin vieles nachgeholt – ihre grandiose oral history wird schön ergänzt durch Verzeichnisse von Orten, Protagonisten und DJ-Charts.
Besprochen von Martin Risel
Felix Denk/Sven von Thülen: Der Klang der Familie: Berlin, Techno und die Wende
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2012
423 Seiten; 14,99 Euro