Der Stalinismus in der russischen Erinnerung

Von Jörg Baberowski · 05.11.2010
Man könnte es sich einfach machen und sagen, dass die gestiftete Erinnerung die Erinnerungen der Opfer unterdrückt, weil sie die Inszenierungen des Machtstaates stören. Das aber wäre nur die halbe Wahrheit, denn die gestiftete Erinnerung ist darauf angewiesen, das man ihr Glauben schenkt.
Deshalb präsentiert sie das Leiden als ein Opfer, das dem Ruhme des Imperiums dargebracht wurde, ein Leiden, das einen Sinn hatte und nicht vergeblich gewesen ist. Und so finden die Geschichten der Opfer einen Platz in der Geschichte der Helden. Zwar ist diese Integration des Leidens in das sowjetische Heldenepos nicht für jedermann ein Trost. Aber es besteht kein Zweifel, dass jene Integrationsgeschichte, die den Stalinismus als ein Projekt repräsentiert, das jedes Leiden rechtfertigte, in Russland derzeit ohne Konkurrenz ist. Es gibt in Russland keine öffentliche Aufarbeitung der Vergangenheit, jedenfalls keine solche, wie es sie in Deutschland gegeben hat.

Wer darin nur einen Akt staatlicher Bevormundung oder einen Mangel an Aufklärung und wissenschaftlicher Belehrung zu erkennen vermag, hat von den Möglichkeiten, die Schrecken des Stalinismus hinter sich zu lassen, überhaupt nichts verstanden. Wer nichts anderes kennt, als die Diktatur, entwickelt andere Bewertungsmaßstäbe für das historische Geschehen, dessen Teil er geworden ist. Wahrscheinlich gab es in der Sowjetunion keine Familie, die von sich hätte sagen können, sie sei nicht auch Opfer von Gewalt gewesen.

Alles, was nach dem Tod Stalins dann noch geschah, wird nur auf der Folie dieser allumfassenden Gewalterfahrung verständlich. Die stalinistische Verfolgung erfasste alle gesellschaftlichen Lebensbereiche, und deshalb konnte sich dieser Erfahrung auch niemand entziehen. Es gab kein Dorf in der Sowjetunion, das die bolschewistische Diktatur nicht als intensive und ständig wiederkehrende Gewaltherrschaft erlebt hätte. Man konnte sie in ihrer Monstrosität und in ihrem Irrsinn nur als Naturkatastrophe erinnern.

Jede Erinnerung an die Vergangenheit der Diktatur war eine Erinnerung in der Diktatur, die Schweigen produzierte: weil die Opfer über ihre Erfahrungen nicht sprechen konnten, weil sie nicht die Kraft fanden, über das furchtbare Geschehen zu sprechen, ohne Schaden an der eigenen Seele zu nehmen, weil sie vergessen mussten, um nicht verrückt zu werden, weil sie nicht sprechen durften und weil niemand wusste, ob die Gewalt des Regimes nicht doch noch einmal in den Alltag zurückkehren würde, ob man dem Frieden trauen durfte.

Und so kam es, dass es für die Opfer keine andere Möglichkeit gab, als sich mit der Diktatur und ihren Angeboten zu arrangieren, denn eine Alternative gab es nicht. Vor allem aber konnte man sich mit jener Erinnerung identifizieren, die den Großen Vaterländischen Krieg als zweiten Gründungsmythos der Sowjetunion repräsentierte.

In ihr waren alle Leiden der Vorkriegsjahre gerechtfertigt, das scheinbar sinnlose Morden erhielt einen höheren Sinn und im gemeinsamen Leiden von Millionen konnten sich Täter und Opfer als Angehörige einer Gemeinschaft verstehen, als Dazugehörige. Einmal in ihrem Leben durften Bauern Sieger sein. Warum hätten sie darauf bestehen sollen, stets nur Opfer gewesen zu sein?

Alles, was nach dem Stalinismus kam, wurde als Verbesserung der Lebensumstände wahrgenommen, als Möglichkeit, Frieden zu schließen und sich in die große Erzählung der Überlebenden einzureihen. Der Zweite Weltkrieg ist auch heute noch jenes Bedeutungsfeld, auf dem die öffentlichen Erinnerungen an den Stalinismus abgehandelt und aufgearbeitet werden. Am 9. Mai wird der Sieg des Imperiums gefeiert und das armselige und traurige Leben von Millionen aufgewertet. Diese Form der öffentlich inszenierten Erinnerung schafft Einigkeit, sie erfüllt bisweilen selbst die ehemaligen Häftlinge mit patriotischem Stolz auf das Geleistete. Die Opfer bekommen Anerkennung, die Herrscher können mit einem Identifikationssystem operieren, dass Zustimmung nicht mehr mit nackter Gewalt erzwingen muss.

Dass dabei all jene Stimmen unterdrückt werden, die von der dunklen Seite der Macht sprechen, versteht sich in diesem Szenario schon fast von selbst. Man kann also die Vernichtung der Opfer beweinen und ein Bewunderer Stalins sein.

Jörg Baberowski, geboren 1961, seit 2002 Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin, Autor zahlreicher Bücher, unter anderem "Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus".