Der Stechlinsee
Vor gut einem Jahrhundert hat ihn Theodor Fontane mit seinem letzten Roman unsterblich gemacht: Der fast 70 Meter tiefe Stechlinsee ist heute der größte und klarste See Norddeutschlands. Andreas Wenderoth hat hier nach Spuren des alten Landadels gesucht und einen Fischer gefunden, den der See ernährt. Einen Taucher, der ihn von unten beschreibt. Eine Forscherin, die sich mit seinem Innenleben beschäftigt. Auf der Suche nach dem Mythos des Sees ist der Autor einem Ort begegnet, der vom Fontane-Tourismus und seiner Vergangenheit lebt.
Die Bootsverleiherin: "Der Heinz Rühmann, der war auch bei uns zu Gast. Nun ist er leider schon tot, er war hier einige Tage. Wir hatten auch schon Herrn Thierse hier und Herr Blüm. Die kommen immer gern wieder, nehmen ein Boot und fahren raus..."
Der Bürgermeister: " Wir haben bloß Wald, Wasser Luft, mehr haben wir nicht zu bieten, aber davon haben wir eben sehr viel und gute Qualität."
Die Adelsfrau: "Der Charme, den ich damals bis auf den heutigen Tag empfunden habe, der von der Ortschaft und überhaupt dem ganzen Landstrich ausging, dieser Charme, den empfind ich heute noch genauso wie früher. Insofern hat der Fontane auch noch seine Gültigkeit."
"Im Norden der Grafschaft Ruppin, hart an der mecklenburgischen Grenze, zieht sich von dem Städtchen Gransee bis nach Rheinsberg hin eine mehrere Meilen lange Seenkette durch eine menschenarme, nur hier und da mit ein paar alten Dörfern, sonst aber ausschließlich mit Förstereien, Glas- und Teeröfen besetzte Waldung. Einer der Seen, die diese Seenkette bilden, heißt der Stechlin. Aber nicht nur der See führt diesen Namen, auch der Wald, der ihn umschließt. Und Stechlin heißt ebenso das lang gestreckte Dorf, das sich, den Windungen des Sees folgend, um seine Südspitze herumzieht."
Im Schatten einer hohen Buche, am Steg vor der alten Fischerei liest der Fischer Böttcher, 44 Jahre alt, den Anfang jenes Romans, der den See unsterblich machte. Doch vieles von dem, was Fontane vor gut einem Jahrhundert dem See und seinen Menschen andichtet, entspringt schon damals eher literarischer Freiheit. Weder gibt es einen Wald, der Stechlin hieß, ein Dorf mit solchem Namen, ein Schloss oder gar ein Adelsgeschlecht. Einzig der See hieß und heißt Stechlin.
Hinten in der Hütte vor dem Restaurant werden die Fische ausgenommen, die am Morgen gefangen wurden. Von fünf bis neun sind Böttchers Gesellen Daniel und Monty auf dem See gewesen und haben die 50 Meter langen Stellnetze eingeholt. Jetzt trennen sie auf großen Küchenbrettern die Fischköpfe ab und sortieren Kopf und Körper in zwei riesigen blutrot bespritzten Bottichen.
"... hier werden Schleie halbiert. Etwa ein Kübel voll, um die 50 Kilo. Erst schneiden wir sie auf, dann wird der Kopf abgeschnitten. Hier schneiden wir ein, von der Mittelgräte aus, einfach mit der Schere."
Still und ruhig liegt der See da, die Wasseroberfläche wie polierter Stahl. Der Stechlinsee, eine gute Autostunde von Berlin entfernt, ist mit 425 Hektar der größte nährstoffarme Klarwassersee Norddeutschlands. Am Wochenende kommen die Touristen, manchmal immer noch auf Fontanes Spuren, aber jetzt ist kein einziges Boot auf dem von Mischwäldern gesäumten See. Schilf, Seerosen, Libellen - eine sonnen beschienene Idylle.
Böttcher - Gummistiefel, Jeans, sonnengegerbte Haut - ist am See groß geworden. Schon sein Vater hat Fontanes letzten Roman gelesen, weil er ihn als Anwohner des Sees ja sozusagen gelesen haben muss. Ein wenig hat er sich gelangweilt, es passiert ja nicht viel. Landadel, der sich unterhält. Reine Konversation. Fische sind da etwas Realeres.
"Fischer sind wir - Gott sei dank - die einzigen, zwei oder drei würden die Gewässer auch nicht verkraften, hört sich bisschen blöde an, aber der Stechlinsee ist zu klar, das Wasser zu sauber, desto klarer das Wasser desto nährstoffärmer, und desto nährstoffärmer desto unproduktiver. Also bei uns wachsen die Aale niemals so schnell wie in der Havel, oder in der Oder. Hier würde der Zander umkommen, verhungern, das wird niemals ein Zandersee."
Dafür gibt es jede Menge kleine Maränen, 23 Tonnen angeblich im ganzen See. Rainer Böttcher, Fischer und Bürgermeister von Neuglobsow, dem einzigen Ort am See, besteigt einen kleinen türkisfarbenen Holzkahn und wirft den Außenborder an.
"Der Motor ist neu, läuft noch nicht richtig rund. So, hier vorne müssen wir vorsichtig sein, weil hier muss man aufpassen wegen den Tauchern. Ich möchte nämlich keinen rasieren..."
Das sehen die Taucher ganz ähnlich. 200 Meter von Böttchers Anlegestelle entfernt, befüllt Roland Heer, Leiter der Tauchstation, die Pressluftgeräte und erklärt mit ruhiger sachlicher Stimme, die Dinge, die bei einem Taucher über Leben und Tod entscheiden.
"Das ist jetzt die Befüllung der Flasche, jetzt wird abgeklemmt. So, die vier Flaschen sind voll, und die wird jetzt angeschlossen, das sind 10 Literflaschen, So. Auffüllen. Diese Flasche hat jetzt noch 60 Bar, 200 drücken wir hoch, jetzt wird's laut."
Roland Heer, leicht gerötetes Gesicht, hellblondes Haar, undefinierbares Alter, erzählt von den Gefahren falschen Tauchens. Wie er einmal einen Mann rausholt, für den es leider schon zu spät ist. Von der DDR-Hochzeit des Tourismus. Den strengen Umwelt-Auflagen, denen die Taucher ausgesetzt sind: eingeschränktes Tauchgebiet, begrenzte Zeiten und Tauchgänge. Aber auch von der faszinierenden Unterwasserwelt eines Sees, der seit Fontane ein Mythos ist.
"Wenn man in einem Binnensee 10 Meter Sichtweite hat, ich red noch nicht mal von Maximum zwölf Meter, dann ist man als Taucher in einem Eldorado. Eine Tauchgruppe von 4 Leuten kann nebeneinander schwimmen, und man sieht sich sogar, man verliert sich nicht. Das ist ein Novum in einem Binnensee und dieses macht den See aus hier...
Wenn man einen Hecht sieht, der größer ist als 60 Zentimeter, ist das sicherlich schon ein Highlight. Vorgestern sah ich einen Schlei. Ich denke, der lag zwischen 50 und 60 cm, ganz schönes Teil. Die Fische sind so zahm, dass man bis auf einen Meter rankommt, ist 'n Highlight. Und Barsche, das ist schon was, das ist schon was..."
Heer wendet sich wieder den Tauchflaschen zu. Ist ja nicht so, dass er fürs Reden bezahlt wird.
"Schönen Guten Tag, Was darf 's denn sein?"
"Ein Ruderboot hätten wir gerne."
"Wie lange möchten sie denn?"
"Ja, ich weiß nicht wie das Wetter wird, vielleicht erstmal zwei Stunden, aber das wir dann noch draufsatteln können. Hast du Knete mit?"
"10 Euro, Zettel aufbewahren, nachher wieder abgeben, Danke Tschüs, auf der rechten Seite liegen die Boote."
Ein paar hundert Meter rechts der Tauschstation sitzt in einer kleinen Hütte am Bootssteg eine Frau mit kurzer Hose und ausladendem Bikini-Oberteil und wartet auf Sommerausflügler. Am Wochenende rennen sie ihr die Bude ein, aber heute ist ein ruhiger Tag, auch für "Filou", ihren Cockerspaniel, der mit ausgesuchten Gästen gern auf den See hinaus fährt. Im Raum: ein Segelschiffmodell, eine Kaffeemaschine, eine DDR-Fahne, Zigarettenrauch.
"Mein Name ist Annette Volkmann, ich habe mit meinem Mann seit 28 Jahren einen Bootsverleih in Neuglobsow... Nach der Wende haben wir privatisiert. Wir sind hier in Neuglobsow am schönen Stechlinsee, bekannt durch Fontane. Der sagte zum Beispiel: 'Da lag er vor uns der Buchtenreiche.' Buchtenreich ist er, hier ist eine Badebucht, dann geht es rechter Hand rum zur Sonnenbucht, rechts von der Halbinsel Ochsenkopf. Dann kommt noch mal die Westbucht mit Riesenbogen dran, also er ist wie ein Kleeblatt im Prinzip aufgebaut..."
Neue Kundschaft naht - Frau Volkmann muss sich um die existentiellen Dinge des Lebens kümmern...
"Mahlzeit, Hast mal 'n kaltes Radeberger?"
"Noch nichts da."
"Gar keen Bier da? Na, Scheiße! ... "
Vom See aus ist der Ort am Ostufer nicht zu erkennen. Neuglobsow geht auf eine Glashüttensiedlung zurück, die 1779 ihren Betrieb aufnahm. Der beizende Geruch der Glasöfen, die im Roman noch eine Rolle spielen, hängt schon lange nicht mehr über dem Ort. Geblieben sind die Fachwerkhäuser der Glashüttenarbeiter.
Neuglobsow lebt heute vom Tourismus und seiner Vergangenheit. In einem der ältesten Häuser, dem Fontanehaus, 1779 errichtet, heute Gastwirtschaft und Hotel, soll der Schriftsteller angeblich zweimal eingekehrt sein. Grund genug, um ihn auf der Speisenkarte zu verewigen: Die Rindsroulade mit Speck und Gurkensalat für 9 Euro lockt unter dem Namen "Fontaneschmaus". Das Schinken-Käse-Toast heißt hier "Fontane-Schnitte".
Der Fischer Böttcher, der qua Bürgermeister-Amt vom Boot aus auch stets ein Auge auf illegale Camper im Schilfgürtel wirft - bloß kein Waldbrand bei dieser Trockenheit - nähert sich langsam der Mitte des Sees.
"Wir kommen jetzt gleich an der Halbinselspitze und da steht 'ne Kiefer im See. Da haben wir mal mit Echolot geprüft. Die ist 12, 5 Meter lang. Ich kann mich dran erinnern als Kind, hat die oben immer noch rausgeguckt. Wir haben dann die Boote angebunden, und mit der Zeit ist dann die Spitze abgebrochen. Auch an der Halbinsel-Spitze fehlt 'ne Ecke. Es wird erzählt, dass in der Kriegszeit hier ein General gewohnt hat. Der hatte hier hinterm Kernkraftwerk 'ne große Villa, und da müssen die alliierten Flieger wohl eine Bombe zu früh ausgeklinkt haben und seitdem fehlt die Halbinselspitze und der Baum steht im Wasser...
Mensch, 'ne Windhose haben wir mal gesehen vor ein paar Jahren. Mein Vater war grade unten im großen Schuppen und da war es noch windstiller wie heute. Da sag ich zu meinem Vater: 'Vater hör doch mal, wir haben doch noch nie von Rheinsberg drüben den Zug gehört'. Und dann kam die schwarze Wand. Dann hat sich so eine Wassersäule hochgeschoben im See, grad auf dem Weg zum Badestrand. Dann auf halber Strecke, als wenn jemand ein Kommando gegeben hätte, ging die Säule rein in den Wald. Das war Wahnsinn, als wenn die Förster Holz gemacht haben. Wie ein Strich ist sie durch Neugblobsow gewandert. Bei mir auf' Grundstück ist oben bloß die Kiefer abgebrochen, ...war schon irre...
So, jetzt sieht man schon den Turm vom Kernkraftwerk ein bisschen deutlicher..."
An der Südseite des Sees steht aus dem Wald stakend noch der Turm des 1990 stillgelegten Atomkraftwerks Rheinsberg, seinerzeit der erste Atommeiler Deutschlands, ein DDR-Prestigeobjekt. Ein grauer Block hinter dem Werkstor ist noch geblieben, bis 2010 soll alles abgetragen sein. Böttchers Vater musste damals die Fischerei auf die andere Seite des Sees legen, weil in einer 3-Kilometerzone niemand wohnen durfte. Er selbst verbindet eher angenehme Kindheitserinnerungen mit dem Atomkraftwerk. Da die Bucht davor immer überdurchschnittlich warm war und auch außerhalb des Sommers zum Baden einlud.
"Als Kinder sind wir im Frühjahr, wenn das Wasser eigentlich noch kalt war, schon geschwommen. Dann sind wir zum Kernkraftwerk gefahren, gingen baden. Bloß man durfte nie anhalten, immer schwimmen. Nur der oberste halbe Meter war warmes Wasser, darunter war es genauso kalt. Aus 20 Grad warmes Wasser in 5 Grad kaltes, das tut ja verdammig weh an den Füßen... "
Rainer Böttcher schirmt die hoch stehende Sonne mit der Hand von seinen Augen ab und lässt den Blick über die Wasseroberfläche gleiten. Der Sage nach soll im See ein großer roter Hahn leben, der es nicht duldet, dass an verrufenen Stellen gefischt wird. Fontane hat die Sage aufgenommen und in seinem Roman leicht abgewandelt. An der tiefsten Stelle des Sees, dort wo es fast 70 Meter bis zum Grund sind, stellt Böttcher den Motor ab und liest. Etwas stockend, weil er die Lesebrille vergessen hat:
"'Alles still hier, und doch von Zeit zu Zeit wird es an eben dieser Stelle lebendig. Dann regt sich's auch hier und da ein Wasserstrahl springt auf und stinkt und sinkt wieder in die Tiefe.' Schade ohne Brille, ist es ein bisschen schlecht, (lacht). 'Das wissen alle, die den Stechlin umwohnen. ...Das mit dem Wasserstahl ist beinahe alltäglich, wenn's aber draußen was großes gibt, dann steigt statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein'. Natürlich ist die Legende bekannt, wir können uns das nur so erklären, wenn im Herbst das hellbraune Buchenlaub, sag ich mal, in See fällt, verfärbt sich der ganz dunkelrot, schon fast braun, und wenn dann noch Sturm ist, dann hat man manchmal so roten Wellen, aus Blättern....anders kann ich mir das mit dem roten Hahn nicht erklären. Wir haben ihn bis jetzt noch nicht gesehen, wir haben an allen Stellen gefischt, überall, deswegen er hätte sich ja schon mal wehren müssen.
Kann man ja ranfahren..." (Motor jault auf) "Hallo den hab ich neulich erst gekauft, 3 Jahre alt, hat eigentlich nur im Schuppen gehangen."
Böttcher legt nun an der Station an, an der sein Vater früher mal die Fischerei betrieb, bis sie verlegt werden musste, weil in der Drei-Kilometer-Zone um das Kernkraftwerk niemand wohnen durfte. Heute hat hier Kirsten Pohlmann, Wissenschaftlerin des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie, zwei Treppen hoch, ein Büro mit Panorama-Seeblick. Am Computer zeigt die 37-Jährige - Jeans, lange braune Haare, offenes Gesicht - das Foto eines Fisches, der eigentlich eine kleine Sensation ist.
"Der Stechlinsee ist ja für die norddeutsche Seenplatte herausragend, weil er sehr klar ist und zweitens sehr tief, mit seinen fast 70 Metern ist er einer der tiefsten Seen überhaupt in Norddeutschland und er hat noch 'ne weitere Besonderheit. Wurde erst 2003 herausgefunden. Kollegen von mir haben nämlich herausgefunden, dass die kleine Maräne, die hier vorkommt, ganz normal im Herbst und Winter laicht. Dann gab es noch welche, die haben im Frühjahr gelaicht. Die Fischer wussten das schon länger. Dann wurde mal nachgeguckt von Morphologen. Tatsächlich kam raus, dass es eine neue Art ist, eine neue Wirbeltier-Art mitten in Deutschland, von der man nichts wusste. Das ist ja schon mal was, das kommt nicht alle Tage vor. Dass mal neue Insekten in Tropen, ist sozusagen Alltag, aber hier das ist schon was Besonderes."
Und wie wohl haben sie die Fischart benannt, die es nur im Stechlinsee gibt? Nicht Stechlinmaräne, klingt ja wie Stichling, nein, natürlich: Fontanemaräne! Kirsten Pohlmann verabschiedet sich, sie muss zurück ins Labor.
Weil der See in Fontanes Roman bei großen Ereignissen zu brodeln beginnt, wird er von der Literaturwissenschaft oft als revolutionäres Symbol gedeutet. Als Vorbote einer neuen Zeit, die die feudalen Strukturen hinter sich lässt. Doch ein Stück weiter durch den Wald, im Ortsteil Dagow, steht ein Haus, in dem sich die alte Zeit noch hält. Helga von Arnim, am Stechlinsee letzte Vertreterin eines Standes, den es eigentlich nicht mehr gibt, ist nach dem Tod ihres Mannes in die Gegend seiner Ahnen zurückgekehrt.
"Also, dieses Grundstück ... Hier war zwar immer ein Eingang, aber alles war Wüste, wirkliche Wüste. Wir haben Güterwagen, nein, einen ganzen Zug mit Schamott und Unrat abtransportieren lassen. Es war viel Arbeit, aber mit Unterstützung von Freunden haben wir dieses Anwesen geschaffen. Die Natur ist jetzt wieder soweit hergestellt, die Bäume verlieren die Samen nicht mehr frühzeitig, wenn's ganz trocken ist. Wir haben das Gefühl, die Bäume sind weiter gewachsen. Also die Tanne, gucken Sie mal, was das für ein Brocken das geworden ist. Die Linden sind auch deutlich gewachsen..."
Der Regen wird stärker, Frau von Arnim, roter Bluse, hellblonde Haare, geht vor in das Haus, das in seinem oberen Teil noch altes Fachwerk ist. Flure mit Kunst, Antiquitäten, schwere Teppiche, Porzellan, das sie selbst bemalt hat. Das Atelier, ein Klavier, die Ahnengalerie....
"Das war im Grunde alles offen, früher ein Bad, umfunktioniert, war immer eine Küche. Bekommen Sie keinen Schreck, ich bin ein Mensch, der die Tradition sehr hoch hält. Ich brauche die Tradition, und zwar brauch ich die Vorfahren, um mich mit ihnen auseinander zu setzen, um meinen heutigen Stand in der Gesellschaft zu finden. Verstehen Sie das nicht falsch, aber das ist so."
Und weil das so ist, findet sie, dass Fontanes Beschreibung des alten Dubslav von Stechlin sehr trefflich auch auf ihren verstorbenen Mann zutrifft:
"'Sah man ihn, so schien er ein Alter, auch in dem, wie er Zeit und Leben ansah, aber für die, die sein wahres Wesen kannten, war er kein Alter, freilich auch kein Neuer, Er hatte vielmehr das, was über alles Zeitliche hinausliegt, was immer gilt und immer gelten wird; ein Herz. Er war kein Programmedelmann, kein Edelmann nach der Schablone, wohl aber ein Edelmann nach jenem alles Beste umschließenden Etwas, das Gesinnung heißt...' Und das ist mein Mann Achim, genau, in direkter Linie... Aber das sind die Familien-Gene, im guten Sinne vererbt, das kann man wirklich sagen, bis einschließlich meiner Kinder."
Vielleicht noch eine kleine Stelle aus Fontanes Stechlin? Gern, sagt Frau von Arnim, mit stiller Heiterkeit. Was kann es schöneres geben, als einer Zeit Stimme zu verleihen, in der es noch wahrhaft Aufrechte gab, Menschen ohne jeden persönlichen Egoismus...
"'Wir kommen da eben von ihrem Stechlin her, von ihrem See, dem besten, was sie hier haben. Ich habe mich dagegen gewehrt, als das Eis aufgeschlagen werden sollte, denn alles Eingreifen oder auch nur Einblicken in das, was sich verbirgt, erschreckt mich. Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben dies Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben. Und vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nicht vergessen." ... Wir können und wir müssen unsere Traditionen wieder mehr leben, dann haben wir ein neues Selbstbewusstsein und sind nicht wie die Fackeln im Wind und können uns besser behaupten."
Über dem See zieht ein Gewitter auf. Die Badegäste sind längst gegangen, der Fischer Böttcher hat sein Boot an Land gezogen, die Netze sind eingeholt und auch Frau von Arnim geht langsam zu Bett. Für einen Moment noch liegt der See ganz ruhig da, so, als könnte ihm niemand etwas anhaben. Aber dann weht kräftiger Wind über den Stechlin und Blitze gehen vom Himmel nieder...
Der Bürgermeister: " Wir haben bloß Wald, Wasser Luft, mehr haben wir nicht zu bieten, aber davon haben wir eben sehr viel und gute Qualität."
Die Adelsfrau: "Der Charme, den ich damals bis auf den heutigen Tag empfunden habe, der von der Ortschaft und überhaupt dem ganzen Landstrich ausging, dieser Charme, den empfind ich heute noch genauso wie früher. Insofern hat der Fontane auch noch seine Gültigkeit."
"Im Norden der Grafschaft Ruppin, hart an der mecklenburgischen Grenze, zieht sich von dem Städtchen Gransee bis nach Rheinsberg hin eine mehrere Meilen lange Seenkette durch eine menschenarme, nur hier und da mit ein paar alten Dörfern, sonst aber ausschließlich mit Förstereien, Glas- und Teeröfen besetzte Waldung. Einer der Seen, die diese Seenkette bilden, heißt der Stechlin. Aber nicht nur der See führt diesen Namen, auch der Wald, der ihn umschließt. Und Stechlin heißt ebenso das lang gestreckte Dorf, das sich, den Windungen des Sees folgend, um seine Südspitze herumzieht."
Im Schatten einer hohen Buche, am Steg vor der alten Fischerei liest der Fischer Böttcher, 44 Jahre alt, den Anfang jenes Romans, der den See unsterblich machte. Doch vieles von dem, was Fontane vor gut einem Jahrhundert dem See und seinen Menschen andichtet, entspringt schon damals eher literarischer Freiheit. Weder gibt es einen Wald, der Stechlin hieß, ein Dorf mit solchem Namen, ein Schloss oder gar ein Adelsgeschlecht. Einzig der See hieß und heißt Stechlin.
Hinten in der Hütte vor dem Restaurant werden die Fische ausgenommen, die am Morgen gefangen wurden. Von fünf bis neun sind Böttchers Gesellen Daniel und Monty auf dem See gewesen und haben die 50 Meter langen Stellnetze eingeholt. Jetzt trennen sie auf großen Küchenbrettern die Fischköpfe ab und sortieren Kopf und Körper in zwei riesigen blutrot bespritzten Bottichen.
"... hier werden Schleie halbiert. Etwa ein Kübel voll, um die 50 Kilo. Erst schneiden wir sie auf, dann wird der Kopf abgeschnitten. Hier schneiden wir ein, von der Mittelgräte aus, einfach mit der Schere."
Still und ruhig liegt der See da, die Wasseroberfläche wie polierter Stahl. Der Stechlinsee, eine gute Autostunde von Berlin entfernt, ist mit 425 Hektar der größte nährstoffarme Klarwassersee Norddeutschlands. Am Wochenende kommen die Touristen, manchmal immer noch auf Fontanes Spuren, aber jetzt ist kein einziges Boot auf dem von Mischwäldern gesäumten See. Schilf, Seerosen, Libellen - eine sonnen beschienene Idylle.
Böttcher - Gummistiefel, Jeans, sonnengegerbte Haut - ist am See groß geworden. Schon sein Vater hat Fontanes letzten Roman gelesen, weil er ihn als Anwohner des Sees ja sozusagen gelesen haben muss. Ein wenig hat er sich gelangweilt, es passiert ja nicht viel. Landadel, der sich unterhält. Reine Konversation. Fische sind da etwas Realeres.
"Fischer sind wir - Gott sei dank - die einzigen, zwei oder drei würden die Gewässer auch nicht verkraften, hört sich bisschen blöde an, aber der Stechlinsee ist zu klar, das Wasser zu sauber, desto klarer das Wasser desto nährstoffärmer, und desto nährstoffärmer desto unproduktiver. Also bei uns wachsen die Aale niemals so schnell wie in der Havel, oder in der Oder. Hier würde der Zander umkommen, verhungern, das wird niemals ein Zandersee."
Dafür gibt es jede Menge kleine Maränen, 23 Tonnen angeblich im ganzen See. Rainer Böttcher, Fischer und Bürgermeister von Neuglobsow, dem einzigen Ort am See, besteigt einen kleinen türkisfarbenen Holzkahn und wirft den Außenborder an.
"Der Motor ist neu, läuft noch nicht richtig rund. So, hier vorne müssen wir vorsichtig sein, weil hier muss man aufpassen wegen den Tauchern. Ich möchte nämlich keinen rasieren..."
Das sehen die Taucher ganz ähnlich. 200 Meter von Böttchers Anlegestelle entfernt, befüllt Roland Heer, Leiter der Tauchstation, die Pressluftgeräte und erklärt mit ruhiger sachlicher Stimme, die Dinge, die bei einem Taucher über Leben und Tod entscheiden.
"Das ist jetzt die Befüllung der Flasche, jetzt wird abgeklemmt. So, die vier Flaschen sind voll, und die wird jetzt angeschlossen, das sind 10 Literflaschen, So. Auffüllen. Diese Flasche hat jetzt noch 60 Bar, 200 drücken wir hoch, jetzt wird's laut."
Roland Heer, leicht gerötetes Gesicht, hellblondes Haar, undefinierbares Alter, erzählt von den Gefahren falschen Tauchens. Wie er einmal einen Mann rausholt, für den es leider schon zu spät ist. Von der DDR-Hochzeit des Tourismus. Den strengen Umwelt-Auflagen, denen die Taucher ausgesetzt sind: eingeschränktes Tauchgebiet, begrenzte Zeiten und Tauchgänge. Aber auch von der faszinierenden Unterwasserwelt eines Sees, der seit Fontane ein Mythos ist.
"Wenn man in einem Binnensee 10 Meter Sichtweite hat, ich red noch nicht mal von Maximum zwölf Meter, dann ist man als Taucher in einem Eldorado. Eine Tauchgruppe von 4 Leuten kann nebeneinander schwimmen, und man sieht sich sogar, man verliert sich nicht. Das ist ein Novum in einem Binnensee und dieses macht den See aus hier...
Wenn man einen Hecht sieht, der größer ist als 60 Zentimeter, ist das sicherlich schon ein Highlight. Vorgestern sah ich einen Schlei. Ich denke, der lag zwischen 50 und 60 cm, ganz schönes Teil. Die Fische sind so zahm, dass man bis auf einen Meter rankommt, ist 'n Highlight. Und Barsche, das ist schon was, das ist schon was..."
Heer wendet sich wieder den Tauchflaschen zu. Ist ja nicht so, dass er fürs Reden bezahlt wird.
"Schönen Guten Tag, Was darf 's denn sein?"
"Ein Ruderboot hätten wir gerne."
"Wie lange möchten sie denn?"
"Ja, ich weiß nicht wie das Wetter wird, vielleicht erstmal zwei Stunden, aber das wir dann noch draufsatteln können. Hast du Knete mit?"
"10 Euro, Zettel aufbewahren, nachher wieder abgeben, Danke Tschüs, auf der rechten Seite liegen die Boote."
Ein paar hundert Meter rechts der Tauschstation sitzt in einer kleinen Hütte am Bootssteg eine Frau mit kurzer Hose und ausladendem Bikini-Oberteil und wartet auf Sommerausflügler. Am Wochenende rennen sie ihr die Bude ein, aber heute ist ein ruhiger Tag, auch für "Filou", ihren Cockerspaniel, der mit ausgesuchten Gästen gern auf den See hinaus fährt. Im Raum: ein Segelschiffmodell, eine Kaffeemaschine, eine DDR-Fahne, Zigarettenrauch.
"Mein Name ist Annette Volkmann, ich habe mit meinem Mann seit 28 Jahren einen Bootsverleih in Neuglobsow... Nach der Wende haben wir privatisiert. Wir sind hier in Neuglobsow am schönen Stechlinsee, bekannt durch Fontane. Der sagte zum Beispiel: 'Da lag er vor uns der Buchtenreiche.' Buchtenreich ist er, hier ist eine Badebucht, dann geht es rechter Hand rum zur Sonnenbucht, rechts von der Halbinsel Ochsenkopf. Dann kommt noch mal die Westbucht mit Riesenbogen dran, also er ist wie ein Kleeblatt im Prinzip aufgebaut..."
Neue Kundschaft naht - Frau Volkmann muss sich um die existentiellen Dinge des Lebens kümmern...
"Mahlzeit, Hast mal 'n kaltes Radeberger?"
"Noch nichts da."
"Gar keen Bier da? Na, Scheiße! ... "
Vom See aus ist der Ort am Ostufer nicht zu erkennen. Neuglobsow geht auf eine Glashüttensiedlung zurück, die 1779 ihren Betrieb aufnahm. Der beizende Geruch der Glasöfen, die im Roman noch eine Rolle spielen, hängt schon lange nicht mehr über dem Ort. Geblieben sind die Fachwerkhäuser der Glashüttenarbeiter.
Neuglobsow lebt heute vom Tourismus und seiner Vergangenheit. In einem der ältesten Häuser, dem Fontanehaus, 1779 errichtet, heute Gastwirtschaft und Hotel, soll der Schriftsteller angeblich zweimal eingekehrt sein. Grund genug, um ihn auf der Speisenkarte zu verewigen: Die Rindsroulade mit Speck und Gurkensalat für 9 Euro lockt unter dem Namen "Fontaneschmaus". Das Schinken-Käse-Toast heißt hier "Fontane-Schnitte".
Der Fischer Böttcher, der qua Bürgermeister-Amt vom Boot aus auch stets ein Auge auf illegale Camper im Schilfgürtel wirft - bloß kein Waldbrand bei dieser Trockenheit - nähert sich langsam der Mitte des Sees.
"Wir kommen jetzt gleich an der Halbinselspitze und da steht 'ne Kiefer im See. Da haben wir mal mit Echolot geprüft. Die ist 12, 5 Meter lang. Ich kann mich dran erinnern als Kind, hat die oben immer noch rausgeguckt. Wir haben dann die Boote angebunden, und mit der Zeit ist dann die Spitze abgebrochen. Auch an der Halbinsel-Spitze fehlt 'ne Ecke. Es wird erzählt, dass in der Kriegszeit hier ein General gewohnt hat. Der hatte hier hinterm Kernkraftwerk 'ne große Villa, und da müssen die alliierten Flieger wohl eine Bombe zu früh ausgeklinkt haben und seitdem fehlt die Halbinselspitze und der Baum steht im Wasser...
Mensch, 'ne Windhose haben wir mal gesehen vor ein paar Jahren. Mein Vater war grade unten im großen Schuppen und da war es noch windstiller wie heute. Da sag ich zu meinem Vater: 'Vater hör doch mal, wir haben doch noch nie von Rheinsberg drüben den Zug gehört'. Und dann kam die schwarze Wand. Dann hat sich so eine Wassersäule hochgeschoben im See, grad auf dem Weg zum Badestrand. Dann auf halber Strecke, als wenn jemand ein Kommando gegeben hätte, ging die Säule rein in den Wald. Das war Wahnsinn, als wenn die Förster Holz gemacht haben. Wie ein Strich ist sie durch Neugblobsow gewandert. Bei mir auf' Grundstück ist oben bloß die Kiefer abgebrochen, ...war schon irre...
So, jetzt sieht man schon den Turm vom Kernkraftwerk ein bisschen deutlicher..."
An der Südseite des Sees steht aus dem Wald stakend noch der Turm des 1990 stillgelegten Atomkraftwerks Rheinsberg, seinerzeit der erste Atommeiler Deutschlands, ein DDR-Prestigeobjekt. Ein grauer Block hinter dem Werkstor ist noch geblieben, bis 2010 soll alles abgetragen sein. Böttchers Vater musste damals die Fischerei auf die andere Seite des Sees legen, weil in einer 3-Kilometerzone niemand wohnen durfte. Er selbst verbindet eher angenehme Kindheitserinnerungen mit dem Atomkraftwerk. Da die Bucht davor immer überdurchschnittlich warm war und auch außerhalb des Sommers zum Baden einlud.
"Als Kinder sind wir im Frühjahr, wenn das Wasser eigentlich noch kalt war, schon geschwommen. Dann sind wir zum Kernkraftwerk gefahren, gingen baden. Bloß man durfte nie anhalten, immer schwimmen. Nur der oberste halbe Meter war warmes Wasser, darunter war es genauso kalt. Aus 20 Grad warmes Wasser in 5 Grad kaltes, das tut ja verdammig weh an den Füßen... "
Rainer Böttcher schirmt die hoch stehende Sonne mit der Hand von seinen Augen ab und lässt den Blick über die Wasseroberfläche gleiten. Der Sage nach soll im See ein großer roter Hahn leben, der es nicht duldet, dass an verrufenen Stellen gefischt wird. Fontane hat die Sage aufgenommen und in seinem Roman leicht abgewandelt. An der tiefsten Stelle des Sees, dort wo es fast 70 Meter bis zum Grund sind, stellt Böttcher den Motor ab und liest. Etwas stockend, weil er die Lesebrille vergessen hat:
"'Alles still hier, und doch von Zeit zu Zeit wird es an eben dieser Stelle lebendig. Dann regt sich's auch hier und da ein Wasserstrahl springt auf und stinkt und sinkt wieder in die Tiefe.' Schade ohne Brille, ist es ein bisschen schlecht, (lacht). 'Das wissen alle, die den Stechlin umwohnen. ...Das mit dem Wasserstahl ist beinahe alltäglich, wenn's aber draußen was großes gibt, dann steigt statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein'. Natürlich ist die Legende bekannt, wir können uns das nur so erklären, wenn im Herbst das hellbraune Buchenlaub, sag ich mal, in See fällt, verfärbt sich der ganz dunkelrot, schon fast braun, und wenn dann noch Sturm ist, dann hat man manchmal so roten Wellen, aus Blättern....anders kann ich mir das mit dem roten Hahn nicht erklären. Wir haben ihn bis jetzt noch nicht gesehen, wir haben an allen Stellen gefischt, überall, deswegen er hätte sich ja schon mal wehren müssen.
Kann man ja ranfahren..." (Motor jault auf) "Hallo den hab ich neulich erst gekauft, 3 Jahre alt, hat eigentlich nur im Schuppen gehangen."
Böttcher legt nun an der Station an, an der sein Vater früher mal die Fischerei betrieb, bis sie verlegt werden musste, weil in der Drei-Kilometer-Zone um das Kernkraftwerk niemand wohnen durfte. Heute hat hier Kirsten Pohlmann, Wissenschaftlerin des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie, zwei Treppen hoch, ein Büro mit Panorama-Seeblick. Am Computer zeigt die 37-Jährige - Jeans, lange braune Haare, offenes Gesicht - das Foto eines Fisches, der eigentlich eine kleine Sensation ist.
"Der Stechlinsee ist ja für die norddeutsche Seenplatte herausragend, weil er sehr klar ist und zweitens sehr tief, mit seinen fast 70 Metern ist er einer der tiefsten Seen überhaupt in Norddeutschland und er hat noch 'ne weitere Besonderheit. Wurde erst 2003 herausgefunden. Kollegen von mir haben nämlich herausgefunden, dass die kleine Maräne, die hier vorkommt, ganz normal im Herbst und Winter laicht. Dann gab es noch welche, die haben im Frühjahr gelaicht. Die Fischer wussten das schon länger. Dann wurde mal nachgeguckt von Morphologen. Tatsächlich kam raus, dass es eine neue Art ist, eine neue Wirbeltier-Art mitten in Deutschland, von der man nichts wusste. Das ist ja schon mal was, das kommt nicht alle Tage vor. Dass mal neue Insekten in Tropen, ist sozusagen Alltag, aber hier das ist schon was Besonderes."
Und wie wohl haben sie die Fischart benannt, die es nur im Stechlinsee gibt? Nicht Stechlinmaräne, klingt ja wie Stichling, nein, natürlich: Fontanemaräne! Kirsten Pohlmann verabschiedet sich, sie muss zurück ins Labor.
Weil der See in Fontanes Roman bei großen Ereignissen zu brodeln beginnt, wird er von der Literaturwissenschaft oft als revolutionäres Symbol gedeutet. Als Vorbote einer neuen Zeit, die die feudalen Strukturen hinter sich lässt. Doch ein Stück weiter durch den Wald, im Ortsteil Dagow, steht ein Haus, in dem sich die alte Zeit noch hält. Helga von Arnim, am Stechlinsee letzte Vertreterin eines Standes, den es eigentlich nicht mehr gibt, ist nach dem Tod ihres Mannes in die Gegend seiner Ahnen zurückgekehrt.
"Also, dieses Grundstück ... Hier war zwar immer ein Eingang, aber alles war Wüste, wirkliche Wüste. Wir haben Güterwagen, nein, einen ganzen Zug mit Schamott und Unrat abtransportieren lassen. Es war viel Arbeit, aber mit Unterstützung von Freunden haben wir dieses Anwesen geschaffen. Die Natur ist jetzt wieder soweit hergestellt, die Bäume verlieren die Samen nicht mehr frühzeitig, wenn's ganz trocken ist. Wir haben das Gefühl, die Bäume sind weiter gewachsen. Also die Tanne, gucken Sie mal, was das für ein Brocken das geworden ist. Die Linden sind auch deutlich gewachsen..."
Der Regen wird stärker, Frau von Arnim, roter Bluse, hellblonde Haare, geht vor in das Haus, das in seinem oberen Teil noch altes Fachwerk ist. Flure mit Kunst, Antiquitäten, schwere Teppiche, Porzellan, das sie selbst bemalt hat. Das Atelier, ein Klavier, die Ahnengalerie....
"Das war im Grunde alles offen, früher ein Bad, umfunktioniert, war immer eine Küche. Bekommen Sie keinen Schreck, ich bin ein Mensch, der die Tradition sehr hoch hält. Ich brauche die Tradition, und zwar brauch ich die Vorfahren, um mich mit ihnen auseinander zu setzen, um meinen heutigen Stand in der Gesellschaft zu finden. Verstehen Sie das nicht falsch, aber das ist so."
Und weil das so ist, findet sie, dass Fontanes Beschreibung des alten Dubslav von Stechlin sehr trefflich auch auf ihren verstorbenen Mann zutrifft:
"'Sah man ihn, so schien er ein Alter, auch in dem, wie er Zeit und Leben ansah, aber für die, die sein wahres Wesen kannten, war er kein Alter, freilich auch kein Neuer, Er hatte vielmehr das, was über alles Zeitliche hinausliegt, was immer gilt und immer gelten wird; ein Herz. Er war kein Programmedelmann, kein Edelmann nach der Schablone, wohl aber ein Edelmann nach jenem alles Beste umschließenden Etwas, das Gesinnung heißt...' Und das ist mein Mann Achim, genau, in direkter Linie... Aber das sind die Familien-Gene, im guten Sinne vererbt, das kann man wirklich sagen, bis einschließlich meiner Kinder."
Vielleicht noch eine kleine Stelle aus Fontanes Stechlin? Gern, sagt Frau von Arnim, mit stiller Heiterkeit. Was kann es schöneres geben, als einer Zeit Stimme zu verleihen, in der es noch wahrhaft Aufrechte gab, Menschen ohne jeden persönlichen Egoismus...
"'Wir kommen da eben von ihrem Stechlin her, von ihrem See, dem besten, was sie hier haben. Ich habe mich dagegen gewehrt, als das Eis aufgeschlagen werden sollte, denn alles Eingreifen oder auch nur Einblicken in das, was sich verbirgt, erschreckt mich. Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben dies Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben. Und vor allem sollen wir, wie der Stechlin uns lehrt, den großen Zusammenhang der Dinge nicht vergessen." ... Wir können und wir müssen unsere Traditionen wieder mehr leben, dann haben wir ein neues Selbstbewusstsein und sind nicht wie die Fackeln im Wind und können uns besser behaupten."
Über dem See zieht ein Gewitter auf. Die Badegäste sind längst gegangen, der Fischer Böttcher hat sein Boot an Land gezogen, die Netze sind eingeholt und auch Frau von Arnim geht langsam zu Bett. Für einen Moment noch liegt der See ganz ruhig da, so, als könnte ihm niemand etwas anhaben. Aber dann weht kräftiger Wind über den Stechlin und Blitze gehen vom Himmel nieder...