Der Struwwelpeter, neu interpretiert

In der Struwwelpeter-Ausstellung ist unter anderem ein Bild vom Daumenlutscher zu sehen.
In der Struwwelpeter-Ausstellung ist unter anderem ein Bild vom Daumenlutscher zu sehen. © caricatura Frankfurt
Von Volkhard App · 05.08.2009
Anlässlich des 200. Geburtstages von Struwwelpeter-Autor und Zeichner Heinrich Hoffmann zeigt das Caricatura-Museum in Frankfurt am Main neue Struwwelpeter-Interpretationen der Zeichner Atak und Fil.
Wann hat man zuletzt in einer Bildergeschichte derart viele kiffende Kater gesehen? Der subversive Geist der Underground-Comix lebt in dieser Version des "Struwwelpeter” wieder auf - und überhaupt Vieles von dem, was das moderne Medienzeitalter an Trash hervorgebracht hat. Heinrich Hoffmann musste sich noch gegen den Vorwurf verteidigen, mit seinen "Fratzen” das "ästhetische Gefühl des Kindes” zu verderben. Die beiden Cartoonisten von heute kennen derartige Legitimationsnöte nicht mehr.

Atak hat gezeichnet und in Acryl gemalt. Die neuen, vom Wortwitz eines Wilhelm Busch inspirierten Verse stammen von Fil.

Fernab des gediegenen Geschmacks führen sie pointenreich mit derben Formen und in grellen Farben die Erfahrungen des mit dem Feuer spielenden Paulinchen vor Augen, und die des Daumen lutschenden Konrad zeigen groß- und grobflächig mit Pinselschwung und überraschenden Reimen, welches Ende der unsägliche Zappel-Philipp nimmt und der die Suppe verschmähende Kaspar. Und unterstreichen im Ganzen, welche Faszination von diesen Figuren, den - Hoffmann zufolge - "lustigen Geschichten” und "drolligen Bildern” noch immer ausgeht. Aber ein solch übermächtiges Vorbild könnte phantasiebegabte Künstler ja auch einschüchtern. Atak:

"Ja! Ich habe manchmal während des Arbeitens gedacht: ‚Das ist ja der Struwwelpeter!‘ Das kam oft vor, und ich musste mich immer wieder runterbringen, um die Ehrfurcht wegzubekommen. Man macht den Struwwelpeter als Zeichner nur einmal im Leben, und dann will man ihn auch gut machen. Man will ihn nicht hinrotzen wie eine Glückwunschkarte."

Auf der Rückseite der bei "Kein & Aber” publizierten Buchausgabe schreiben die beiden Künstler, es solle keine Parodie, "kein antiautoritärer Hippie-Struwwelschnack", sondern eine in Wort und Bild "vom Geist des Originals durchdrungene Coverversion" sein. Coverversion? Das Wort kennt man aus der Musikbranche. Fil:

"Das ist, als ob eine junge, unbekannte Band ihre Lieblingsgruppe covert, also eine Garagenband covert zum Beispiel die Ramones. Das kann man jetzt nicht besser machen, als Fan würde man es auch nicht parodieren. Man hat einfach Spaß daran, es zu tun - man covert, weil man ein Fan ist."

Folgt man Dürrenmatts These, dass Geschichten zu Ende erzählt sind, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen haben, so ist den Episoden Hoffmanns kaum Wesentliches hinzuzufügen. Der Witz bei Fil und Atak liegt in den kleinen Zusätzen und Varianten. So sind es die Paulinchen warnenden Katzen Miez und Maunz, die, eben weil sie sprechen können, das Unglück erst in Gang bringen: Paulinchen lässt vor Schreck das Streichholz fallen. Und der wilde Jäger stürzt auf der Flucht vor dem um sich schießenden Hasen nicht in den Brunnen, sondern landet auf der "drallen Jungfer Edeltraut". Nackt ist sie, versteht sich, des Jägers holde Gattin schaut entsetzt dem Treiben zu.

Am kühnsten weitergesponnen ist die Geschichte von Hans Guck-in-die-Luft, der bei Hoffmann nach all seiner Boden- und Weltabgewandtheit triefend aus dem Wasser gezogen wird, die Schulmappe treibt davon. Bei Fil und Atak landet dieses Utensil an fernen Gestaden, bei den sogenannten "Wilden”, die sich nun damit weiterbilden.

Bald bedrohen sie unsere "Zivilisation", angefeuert noch durch die Religion:

"Durch all die Bildung sind sie nun / gefährlicher als ein Taifun! / Aus Chemie bauen sie Waffen, / züchten Bio - Killeraffen, / rechnen mathematisch aus , / wo die Deutschen sind zuhaus."

Eine frappierende Pointe: das nicht ganz korrekte Bild von den Fremden kippt um, wird zum Spiegel unserer Ängste. Und bleibt dabei komisch: wenn ein Häuptling in Federschmuck per U-Boot zum Angriff rüstet.

Aber Fil und Atak wollen nicht pädagogisch sein wie einst der Dr. Hoffmann - oder etwa doch? Atak:

"Nee, schöne Bilder, es sind einfach Geschichten."

Viele hübsche Bildzitate finden sich auf den mal großzügig, mal kleinteilig gefüllten grellen Seiten: von Caspar David Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer” bis zu Popeye - Tim (ohne Struppi) und diverse andere Comicstars gesellen sich hinzu, auch an das "Yellow Submarine” wird erinnert. Und immer wieder Verse wie von Busch-selig. Wenn der sadistische Friedrich am Schluss schwer verwundet im Bett liegt, freundet sich die Mutter mit dem siegreichen Köter an:

"Die Mutter aber denkt: ‚Was ist denn / mit Fritze, weich ist er statt hart. / Nach dem Gesetz der Darwinisten / ist jetzt der Hund die höh‘re Art.‘ / Sie nimmt ihn auf an Sohnes statt, und jener isst sich erst mal satt."

Fil und Atak haben eine derbe Version für unsere Zeit geschrieben und gemalt. Keinen Struwwelpeter für die Ewigkeit - und auch F.K. Waechters antiautoritäre Version, die jetzt in der Ständigen Sammlung des Museums präsentiert wird, bleibt eine Klasse für sich. Aber ein paar amüsante Wendungen zum bekannten, schrecklich-schönen Erzählstoff sind den beiden durchaus eingefallen. Und sie fügen sogar noch ein eigenes Kapitel hinzu: es erzählt von Justin, einem Kind unserer Tage, das sich in seinem furchtbar normalen Alltag vor dem Bildschirm langweilt und sich vor allem eine Playstation wünscht. Da hätte Heinrich Hoffmann aber gestaunt.