Der Super-GAU von Tschernobyl

Von Reinhard Schneider |
Am 26. April 1986 kam es im Atomkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU. Die Reaktorhavarie löste die bis dahin schwerste Katastrophe in der Geschichte der zivil genutzten Kernenergie aus.
"In Teilen Schwedens, Finnlands und Norwegens ist eine ungewöhnlich hohe radioaktive Strahlung gemessen worden."

"Während die Belastung der Luft überwiegend zurückging, stieg der Anteil von Jod 131 pro Kilogramm feuchter Erde auf das Zwanzigfache der normalen Werte."

"Damals hatte mich der Kommandant angerufen und gefragt: 'Weißt du, dass der vierte Block brennt?' – 'Nein'. – 'Dann rufen wir die Feuerwehr!'"

Der Schichtleiter Boris Rogoschkin befand sich am 26. April 1986 hundertzwanzig Kilometer nördlich von Kiew in der zentralen Schaltwarte des Tschernobyler Atomkraftwerks. Die Situation war zunächst vollkommen unklar. Kurze Zeit später explodierte der vierte Reaktorblock und führte zur bis dahin schwersten Katastrophe in der Geschichte der zivil genutzten Kernenergie. Auslöser war ein Experiment, bei dem der Reaktor mehrmals auf eine niedrige Leistung heruntergefahren wurde. Wie gefährlich eine solche Operation für den russischen Reaktortyp war, wusste weder das Personal, noch war es in den Handbüchern verzeichnet. Spätere Untersuchungen bestätigten die Einschätzung des damaligen Vorsitzenden der Kiewer Atomaufsichtsbehörde Nikolay Steinberg:

"Die Gefahr einer Havarie war bei diesem Reaktortyp schon durch die Konstruktion vorgegeben. Man brauchte nur Bedingungen zu schaffen, unter denen sich ein entsprechender Zustand einstellt. Am 26. April wurden diese Bedingungen vom Personal geschaffen."

Nach der gewaltigen Explosion brannte das schwer zu löschende Grafit der zerstörten Reaktorregelstäbe. Dadurch wurde der havarierte Reaktor zu einem fauchenden Vulkan, der für zehn Tage radioaktive Stoffe in die Luft blies. Die radioaktiven Wolken verseuchten vor allem Gebiete in der Ukraine und Weißrussland, erreichten aber auch Regionen in Westeuropa. Die Regierung der Sowjetunion spielte das Desaster zunächst herunter - vor allem gegenüber der eigenen Bevölkerung.
Während sich viele Bewohner im Westen vor den gesundheitlichen Folgen kontaminierter Nahrungsmittel und des radioaktiven Fallouts fürchteten, zeigte die Sowjetunion in propagandistischen Filmaufnahmen, wie Tausende Soldaten, Arbeiter und Feuerwehrleute todesmutig die Katastrophe bekämpften. Die russische Ärztin Mira Kossenko und der Arbeiter Anatoly Romanzow erinnern sich:

"Wir suchten uns Schuhe mit dicken Sohlen aus, um beim Aufenthalt in einer stark strahlenden Zone zu vermeiden, einer direkten Strahlung der Brennstoffelemente ausgesetzt zu sein, die auf den Dächern lagen."

"Wir Mediziner mussten dafür sorgen, dass die Menschen einsatzfähig blieben. Wir mussten entscheiden, ob jemand noch weiter einer bestimmten Strahlendosis ausgesetzt werden durfte."

Über die Zahl der Menschen, die an den Folgen der Katastrophe gestorben sind, führen Gegner und Befürworter der Kernenergie einen makabren Schlagabtausch. UN-Gremien wie die Atomenergiebehörde gehen zum Beispiel bei den 800.000 mobilisierten Einsatzkräften von lediglich 47 aus, die ihr Leben verloren. Kritische Wissenschaftler in der Ukraine und Russland schätzen bei den Einsatzkräften die Zahl der Toten dagegen auf weit über hunderttausend. Unbestritten ist einzig der bis heute anhaltende explosionsartige Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Kindern aus den betroffenen Regionen
.
"Ich denke, Tschernobyl tötet langsam und schleichend und unauffällig."

Ute Watermann von der Organisation "Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs":

"Wir haben keine drastischen Bilder von sehr, sehr vielen missgebildeten Kindern, sondern wir haben einfach Bilder aus den Krankenhäusern, wo Menschen wie hier in Deutschland behandelt werden an Krebserkrankungen, an Herzkreislauferkrankungen – nur, dass es einfach viel, viel mehr sind als bei uns."

Das Desaster von Tschernobyl brachte weltweit keine Wende in der Atompolitik. Erst die Katastrophe in Fukushima führte zumindest in Deutschland zu einem Umdenken und zum vorläufigen Abschalten älterer Kernkraftwerke. Schließlich handelte es sich in Japan um keinen exotischen Meilertyp wie in Tschernobyl, sondern um eine anerkannte Reaktortechnologie, deren Risiken bisher als äußerst gering eingeschätzt wurden.

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