Der Tag danach

Cormac McCarthy malt ein düsteres Bild von der Zukunft der Menschheit. "In unseren Tagen geht es nicht mehr um den Verfall der Kultur, sondern um die Bilanz endgültiger Verluste", hat McCarthy vor einigen Jahren gesagt. Eine solche Schlussrechnung ist sein Roman "Die Straße" geworden: Nach einer nuklearen Katastrophe bleibt nichts als der schmale Streifen Asphalt, der sich in der Dunkelheit verliert.
Die großen amerikanischen Städte sind niedergebrannt, der Himmel ist schwarz von Asche, und das Wasser in den Flüssen und Seen hat sich in Schlamm verwandelt: Eine nukleare Katastrophe hat den Kontinent verwüstet. Kahle Baumstümpfe stehen am Rand der Straße, auf der sich ein Mann und sein gerade einmal zehn Jahre alter Sohn wie wandelnde Tote im "stahlgrauen Licht" durch den Schnee schleppen. Ihre letzten Besitztümer haben sie unter einem Fetzen Plastikplane in einem Einkaufswagen untergebracht, und in den kalten Nächten verstecken sie sich in Erdhöhlen und Schneewehen vor den Milizen und Banden, die auf der Suche nach Nahrung und Benzin durch das "skelettierte" Land streifen.

Cormac McCarthys neuer Roman "Die Straße" zeichnet sich durch eine konsequente Hoffnungslosigkeit aus, und im Grunde passiert nicht viel mehr, als sich bereits zu Beginn andeutet.

Der Mann und sein Sohn ziehen schweigend "Richtung Süden" durch das "zerfurchte, erodierte und öde Land", das einmal Amerika gewesen ist, und sie wissen beide, dass das einzige Ziel ihrer Reise der Tod ist. Immer wieder begegnet er ihnen, als "säuerlicher Geruch" der Verwesung, der aus dem Kellergeschoss eines geplünderten Hauses aufsteigt, als makaberer "Fries von Menschenknochen", der sich an einer Gartenmauer entlang zieht, oder, in dem wohl am schwersten zu ertragenden Moment des Buches, an einem verlassenen Lagerplatz, als "verkohlter Leib eines Kleinkindes, ohne Kopf, ausgeweidet und auf dem Spieß über dem Feuer langsam schwärzer werdend".

Die Welt ist zu einem Ort geworden, an dem "Kinder vor den Augen ihrer Eltern aufgefressen werden", und die letzten Patronen in seinem Revolver spart der Vater für den Fall auf, dass sie in einen Hinterhalt der Kannibalen geraten sollten, deren "graue, faulige Zähne" von "Menschenfleisch verklebt sind".

Zwei Kugeln befinden sich noch in der Trommel, eine für seinen Sohn, und eine für sich selbst: "Erzähl mir nicht, wie diese Geschichte ausgeht", heißt es an einer Stelle, und das ist auch das stille Gebet, das man als Leser am Ende jedes Absatzes spricht. Trotzdem liest man weiter und lässt sich Seite für Seite tiefer in einen literarischen Albtraum hineinziehen, der düsterer und auswegloser ist als alles, was Cormac McCarthy zuvor geschrieben hat.

Natürlich gab es immer wieder dunkle Momente im Werk des 1933 geborenen amerikanischen Schriftstellers. Der fast beiläufig geschilderte Inzest in "Draußen im Dunkel" (1968) war ein präzise gesetzter literarischer Tiefschlag, in dem großen Roman "Der Verlorene" (1979) verwandelte sich der Tennessee River in einen fauligen Totenfluss, in dem die Leichen von Selbstmördern und ungewollten Kindern trieben, und die Outlaws in "Die Abendröte im Westen" (1985) töteten wie im Rausch.

Und selbst in der vergleichsweise gefälligen "Borderline"-Trilogie, deren erster Teil "All die schönen Pferde" den bis dahin als Geheimtipp gehandelten McCarthy Anfang der Neunzigerjahre zum Bestseller-Autoren machte, sickerte im Grenzland zwischen Texas und Mexiko eine Menge Blut in den feinen Sand der Wüste.

Diese Abgründe der menschlichen Existenz waren jedoch bisher in weite epische Landschaften eingebettet. Wie kein anderer zeitgenössischer Autor hatte Cormac McCarthy sich immer wieder den archaischen Dramen um Liebe und Hass gewidmet, um Stolz und Ehre, Schuld und Sühne.

Der radikale Bruch seines neuen Romans besteht nun darin, diese vermeintlichen Konstanten des menschlichen Daseins ganz und gar außen vor zu lassen. In "Die Straße" ist die "Welt auf einen rohen Kern nicht weiter zerlegbarer Begriffe zusammengeschrumpft", und die namenlosen Protagonisten stehen ganz und gar nackt dar, ohne jede Aussicht auf narrative Erlösung.

Es geht hier also um mehr als um den bloßen Schrecken. Cormac McCarthy benutzt das Genre des Horrorromans, um die großen Erzählungen mit Hilfe einiger wortkarger Dialoge und ein paar lakonischen Sätzen endgültig zu begraben. Die "alten Geschichten um Mut und Gerechtigkeit", die der Vater seinem Sohn vor dem Einschlafen erzählen will, sind tot, in der "verkohlten Ruine einer Bibliothek", die sie eines Tages passieren, sind die Bücher zu "Tausenden in Reihen angeordneten Lügen" geworden, und auch die über zweitausend Jahre alten Mythen der christlichen Zivilisation haben ihre Überzeugungskraft endgültig verloren.

Die "schwarzen verkrümmten Dornensträucher" am Wegesrand haben gebrannt, ohne dass ein Gott je aus ihnen heraus auch nur ein einziges Wort gesprochen hätte, und wenn der mittlerweile sterbenskranke Vater wie Hiob als "Büßer in der Asche kniet", fleht er nicht den Himmel an – sondern "hustet, bis er das Blut schmecken kann", das einen "feinen Schleier auf dem grauen Schnee" hinterlässt.

"In unseren Tagen geht es nicht mehr um den Verfall der Kultur, sondern um die Bilanz endgültiger Verluste", hat Cormac McCarthy vor einigen Jahren in einem seiner seltenen Interviews zu Protokoll gegeben. "Die Straße" ist genau so eine Schlussrechnung geworden, und unter dem Strich bleibt nichts außer einem schmalen Streifen Asphalt, der sich in der Dunkelheit verliert.


Rezensensiert von Kolja Mensing

Cormac McCarthy: Die Straße
Aus dem Amerikanischen von Nikolaus Stingl
Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2007
252 Seiten. 19,90 Euro