Bertolt Meyer hat Psychologie an der Universität Hamburg und der Humboldt-Universität in Berlin studiert. Sein weiterer beruflicher Weg führt ihn über die Universität Zürich nach Chemnitz. An der dortigen TU ist er seit 2014 Professor für Organisations- und Wirtschaftspsychologie. Weil er ohne linken Unterarm geboren wurde, trägt er eine Handprothese, die er mit Bewegungsbefehlen von einem Muskel an seinem Oberarm steuern kann. Meyer tritt auch als DJ auf.
So werden die 20er-Jahre
68:20 Minuten
Meeresspiegel steigen, populistische Parteien übernehmen die Macht, im Kino laufen Hologramme von Verstorbenen. Wird wirklich alles schlechter? Ein Ausblick auf das kommende Jahrzehnt mit Journalistin Anna Sauerbrey und dem Psychologen Bertolt Meyer.
Im vergangenen Jahrhundert waren die 20er-Jahre ein goldenes Zeitalter, für das kommende Jahrzehnt sind die Aussichten eher düster. Die Journalistin Anna Sauerbrey vom "Tagesspiegel" und der Organisationspsychologe Bertolt Meyer diskutieren gemeinsam mit Expertinnen und Experten über die Zukunftsvisionen für unser Leben von morgen: Wie werden wir arbeiten? Was werden wir essen? Worüber diskutieren? Und welche Filme sehen?
Vorhersagen zu stellen, ist bekanntlich schwer, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen. Daher zum Einstieg: Ihre liebsten Fehlprognosen aus der Vergangenheit, Herr Meyer? "Dass wir im Jahre 2010 ein starke künstliche Intelligenz haben, mit der wir uns unterhalten können. Siri versteht heute immer noch nur maximal ein Drittel von dem, was ich sage."
Und Sie, Frau Sauerbrey? "Dass es keinen Wald mehr gibt. Die Angst der 80er. Da zeigt sich, was Politik schaffen kann: Es gibt nämlich noch Wälder."
Die Journalistin Anna Sauerbrey leitet das Ressort Meinung/Causa des Berliner "Tagesspiegel" und ist Mitglied der Chefredaktion. Die promovierte Historikerin kam 2009 als Volontärin zu der Zeitung. Sauerbrey schreibt außerdem für die "New York Times" eine monatliche Kolumne.
Bei der Klimakrise scheint das nun anders zu sein.
Die Klimakrise bleibt ungelöst
Die Auswirkungen der Klimaveränderungen werden das Leben in Deutschland in den 2020ern noch relativ wenig beeinträchtigen, prognostiziert Mark Lawrence, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für transformative Nachhaltigkeitsforschung Potsdam: "Es wird allerdings eine größere Polarisierung geben zwischen denen, die große Sorgen um die weitere Entwicklung der Umwelt haben, und denen, die sich mehr Sorgen um die industrielle und wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland machen."
Nachdem die Weltklimakonferenz Mitte Dezember nur mit Müh und Not überhaupt ein Abschlusspapier zustande gebracht hat, das aber keine weitreichenden Beschlüsse enthält, ist Anna Sauerbrey "entgegen ihrer Natur" eher pessimistisch: "Es gibt wenig Bereitschaft, auch in Deutschland, denen, die jetzt leben, kleine Einschränkungen aufzubürden, um die Zukunft zu sichern. Daher glaube ich, dass wir in den 2020ern vor allem Anpassungsmaßnahmen sehen werden. Dazu kann in Ausnahmefällen auch die Aufgabe von bestimmten Küstengebieten oder Halligen gehören."
Auch Organisationspsychologe Meyer hat wenig Hoffnung, dass die Weltgemeinschaft den CO2-Ausstoß so reduzieren kann, dass weitreichende Klimaveränderungen noch abzuwenden wären: "Das ist ein typisches Commons-Dilemma: Aus Sicht der einzelnen Staaten ist es so, dass der einzelne Staat den maximalen Vorteil hat, wenn die Ressourcen rücksichtslos ausgebeutet werden. Das Beste für den einzelnen Staat ist, wenn alle anderen Staaten Klimaschutz machen und nur man selber nicht." Seine bittere Prognose: "Wir werden den Laden vor die Wand fahren."
Welche politischen Maßnahmen das noch verhindern könnten? Neue Technologien, glaubt Meyer. Und Anna Sauerbrey rät der Politik etwas, das sie als Vegetarierin selbst überrascht: "Fleischverzicht trägt relativ wenig zur Klimaschonung bei. Konzentriert euch auf die Industrie, die Kohle, den Verkehr und lasst den Leuten ihre Wurst!"
Regulierung von Facebook notwendig?
Klimakrise, Migration - diese Themen haben die Gesellschaft im vergangenen Jahrzehnt polarisiert. Damit der aufgewühlte politische Diskurs wieder zur Ruhe kommt, brauche es eine stärkere Regulierung von den Betreiberfirmen sozialer Netzwerke, ist Organisationspsychologe Meyer überzeugt: "Die Abgrenzung von Populismus wird immer schwieriger, weil die radikalen Positionen und deren Emotionalität eine viel stärkere Bindekraft haben im Zeitalter der sozialen Medien. Ich denke, man kann das Erstarken des Populismus nicht ohne den Aufstieg der sozialen Medien denken."
Meyer: "Dass die Debatte auf den sozialen Netzwerken so verroht ist, ist keine unangenehme Nebenwirkung, sondern das ist eine logische Konsequenz aus den marktwirtschaftlichen Verwertungsstrukturen. Das ist das Geschäftsmodell."
Der Comedyautor Schlecky Silberstein, der gerade mit einer Kampagne und einer "Gesellschaft für digitale Ethik" für mehr Regulierung der Plattformbetreiber wirbt, zeichnet ein dystopisches Bild: "Bis 2030 werden soziale Unruhen in der gesamten vernetzten Welt zum Normalfall werden. Die Automatisierung wird dank fantastischer KI-Lösungen immer mehr Sektoren menschlicher Arbeitskraft überflüssig machen. Was den Arbeitnehmern von früher fehlt, fließt auf die Konten der zwei bis drei erfolgreichsten KI-Unternehmen. Mutmaßlich: Facebook, Google, Amazon. Fast das gesamte Kapital der Welt wird im Silicon Valley gesammelt. Die Politik könnte diese Oligopole regulieren. Daher werden besagte Unternehmen aktiv Wahlen beeinflussen und die politischen Strömungen unterstützen, die ihnen die größte Freiheit versprechen."
Sauerbrey: "Es geht darum, wahr und falsch zu filtern. Da haben wir eher ein Durchsetzungsproblem, als dass wir ein Problem damit haben, was wir da nicht lesen wollen. Die heute schon gegen den Volksverhetzungsparagraf verstoßen. Dazu braucht es kein neues Gesetz, es muss nur ordentlich durchgesetzt werden." Dazu brauche es auch höhere Strafzahlungen, um die Plattformbetreiber zum Handeln zu zwingen.
Parteienspektrum differenziert sich weiter aus
Wie entwickelt sich die Parteilandschaft? Was wird aus den ehemaligen Volksparteien, welche Rolle spielen die Grünen und die Parteien am politischen Rand? Werden sich die Reste der SPD irgendwann den Grünen anschließen, um überhaupt noch eine Aussicht auf Mitbestimmung zu haben?
Dass die ehemals großen Volksparteien an Bindekraft verloren haben, sieht der Soziologe Armin Nassehi mit Sorge: "Mann muss sehen, ob es den etablierten politische Spieler gelingen wird, so etwas wie Bindungskraft zurückzubekommen, weil ein eingeführter politischer Konflikt für die Stabilität eines politischen Systems außerordentlich wichtig ist. Links der Mitte und Rechts der Mitte zwei legitime Formen zu haben, die sich aneinander abarbeiten können, davon haben Demokratien immer profitiert. Ich hoffe, dass das in den nächsten Jahren wieder ein wenig stabiler wird."
Anna Sauerbrey: "Es gibt keine große Mehrheit für die radikalen migrationspolitischen Positionen, die wir bei den Populisten sehen. Es ist weiterhin die Aufgabe der größeren Mitteparteien, diese Positionen soweit zu integrieren, wie es mit der Verfassung vereinbar ist, und sich von den radikalen Positionen weiterhin auch radikal abzugrenzen."
Europas Rolle im Konflikt zwischen den USA und China
Der prägende Konflikt der Zukunft wird der zwischen der aufstrebenden Technologienation China und der alten Supermacht USA sein, analysiert Daniela Schwarzer, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik: "China strebt nach einer Vorherrschaft in der Welt." Im zunehmenden Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Polen wird Europa eine Position finden müssen.
"Die Ziele hat die jetzige chinesische Regierung ganz klar definiert. Wenn die umgesetzt werden, heißt das, dass Europa deutlich an Einfluss verliert. Die Frage ist, ob Europa da genug gegenstellen kann." Wie die zukünftige Weltordnung aussehen wird, welche Supermacht sich durchsetzen wird und sich tendenziell eine bipolare Logik wie zu Zeiten des Kalten Krieges ausbreitet, lässt sich aber noch nicht absehen: "China ist auch im Inneren von Risiken geprägt. Es kann auch dort zu sozialen Verwerfungen kommen, die Wirtschaftsentwicklung kann einbrechen - und wenn das so ist, dann ist die Frage, ob China mit der gleichen Kraft seine eigene Entwicklung vorantreiben kann." Anna Sauerbrey ist skeptisch: "Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Demokratien am Ende das stabilste System sind. Und es gab schon viele Thesen über China, die nicht aufgegangen sind."
Werden wir im Kino bald nur noch tote Menschen sehen?
"Deutschlandfunk Kultur"-Filmkritiker Patrick Wellinski glaubt, dass sich der Trend zu digital animierten Auftritten bereits verstorbener Stars fortsetzen wird. Erleben wir in den 20ern also ein "posthumanes Kino"? Anna Sauerbrey glaubt, dass es eine Gegenbewegung geben wird: "Gerade das Altern hat auch im Kino seinen Reiz. Hollywoodschauspieler, denen man seit Jahrzehnten dabei zuguckt, wie sie älter werden, und manche ganz spät im Alter noch mal ganz tolle Charakter spielen, durch die Lebenserfahrung und die veränderten Gesichter, das wird nicht ganz verschwinden, auch wenn durch Instagram und Photoshop eine gewisse Künstlichkeit in die Ästhetik einzieht. Ich hoffe, dass es eine humane Gegenbewegung gibt, wo man es wieder schön findet, wenn ein alternder Schauspieler erscheint – auf der Bühne, im Fernsehen oder auf Netflix." Auch als "Deutschlandfunk Kultur"-Literaturredakteurin Wiebke Porombka das Ende des E-Books voraussagt, sind sich unsere Studiogäste nicht einig.
Trotz vieler besorgniserregender Aussichten gibt es auch positive Trends: Gutschmeckende Ersatzprodukte werden den klimaschädlichen Fleischkonsum reduzieren. Über Crowdfunding können Künstlerinnen und Künstler ihre Musik produzieren, ohne auf das Wohlwollen der Musikindustrie angewiesen zu sein. Und die Digitalisierung der Arbeit und der demografische Wandel können zu neuen Freiräumen für die Arbeitnehmer in Deutschland führen.
Organisationspsychologe Bertolt Meyer hat Hoffnung: "In meiner Wahrnehmung waren 20er des letzten Jahrhunderts eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs, der Chancen und das ist die Hoffnung, dass wir das jetzt nochmal erleben."