Der Tag mit Thea Dorn, Jagoda Marinić, Ingo Schulze und Jan Fleischhauer

Am runden Tisch von Dlf Kultur: Sprechen wir noch die gleiche Sprache?

54:09 Minuten
Ein Teil des Runden Tischs, wie er heute im Keller der Bundesakademie für Sicherheitspolitk steht, die im früheren Gästehaus der DDR-Regierung residiert.
Mit der Gesprächsreihe "Der Runde Tisch" will Deutschlandfunk Kultur an die Tradition der Runden Tische während der friedlichen Revolution in der DDR anknüpfen. © Claudia van Laak
Moderation: Korbinian Frenzel |
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Die Philosophin Thea Dorn, die Schriftstellerin Jagoda Marinić, der Autor Ingo Schulze und der Kolumnist Jan Fleischhauer - das waren die Gäste des ersten Runden Tisches von Deutschlandfunk Kultur. In loser Folge wird die Gesprächsreihe gesellschaftliche Debatten bündeln.
Ob es um Migration geht, um Genderthemen oder um Demokratie: Viele Diskussionen sind derzeit festgefahren, so unversöhnlich erscheinen die Gegensätze zwischen Links und Rechts, Ost und West, Stadt und Land. Eine schrille Verständnislosigkeit durchzieht die Debatten, sodass sich die Frage aufdrängt: Sprechen wir überhaupt noch dieselbe Sprache? Was muss geschehen, damit wir wieder ins Gespräch kommen: konstruktiv, sachlich, lösungsorientiert? Und wo gibt es noch einen gemeinsamen Grund, auf dem sich alle in der Gesellschaft wiederfinden können?

Ingo Schulze: "Wir müssen über das 'Wir' sprechen"

Man müsse auch darüber sprechen, wer eigentlich "Wir" ist, meint der 1962 geborene Schriftsteller Ingo Schulze und verweist auf seine Erfahrungen mit der DDR. "Mein 'Wir' war immer so, dass ich dachte, wenn einer die Wahrheit sagt und hätte die Möglichkeit, die laut zu sagen, dann wäre die Mehrheit hinter ihm und 'wir' würden das machen", so der Schriftsteller am Runden Tisch von Deutschlandfunk Kultur.
"Diese Illusion hat großen Zulauf bekommen im Herbst '89, da spielte sich alles so ab, wie ich dachte, dass Weltgeschichte funktioniert: man sagt die Wahrheit und alle folgen einem. Und dann kippte das. Und ich merkte: Mein 'Wir' schrumpfte – ich will jetzt nicht sagen, auf 2,9 Prozent zusammen wie das Neue Forum bei der Wahl – aber da merkte ich, das war schon eine Illusion, die ich gehabt habe."
Der Schriftsteller Ingo Schulze
Der Schriftsteller Ingo Schulze© imago/Galuschka
Jetzt sei es für ihn "eigentlich eine Voraussetzung, dass 'Wir' sehr differenziert ist", sagt der Autor. Insofern sprächen natürlich nicht alle dieselbe Sprache. Aber: "Nazis rein, Nazis raus – das ist doch nicht die eigentliche Bruchstelle unserer Gesellschaft!", so Schulze. Sondern es gehe um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Fragen. "Wie müssen über dieses Ungleichgewicht in dieser Welt reden!"

Jagoda Marinić: "Wie produzieren wir wieder gute Nachrichten?"

Auch die Autorin und Kulturmanagerin Jagoda Marinić vermisst die größeren Themen und Erzählungen, die die Gesellschaft als ein "Wir" zusammenbringen könnten: "Nämlich, wie können wir in dieser heutigen Zeit als ein Wir zusammenleben? Wo sind die Probleme, die viele von uns betreffen und über die ich dann auch einen gemeinsamen Nenner finden kann?"
Dazu gehören für sie Fragen wie: "Welchen Wohlstand haben wir? Wie können wir den teilen? Wie kann man die Schere zwischen Ost und West… wie kann man diese Spaltung, finanziell vor allem, geringer machen, dass die Menschen sich wieder als Teil eines Landes sehen?" Und es gehe auch darum, wieder gute Nachrichten zu produzieren, "wo die Menschen wieder Mut haben, sich in diesem Land für etwas einzusetzen", sagt Marinić. "Im Moment haben wir die totale Dagegen-Stimmung. Alle sind jetzt gegen etwas. Alle haben Angst. Brexit, Europa, alles wird jetzt rückwärts abgerollt. Wie komme ich aus diesem Gefühl des Backlashs, auch durch Diskurse, wieder heraus?"

Thea Dorn übt Selbstkritik

Einen kritischen Blick auf die gegenwärtigen Debatte wirft auch die Philosophin Thea Dorn. Sie verweist auf die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte: "Jemand, der in den 1960er-Jahren sagte, wenn zwei Männer miteinander Sex haben, ist das Unzucht und gehört bestraft, stand auf dem Boden des deutschen Gesetzes, war ein gesetzestreuer Bürger. Heute ist das jemand, wo eben schon die Fragezeichen losgehen: Rede ich überhaupt noch mit so jemandem, der so eine Position vertritt?"
Die Schriftstellerin und Literaturkritikerin Thea Dorn während der Sendung "Das literarische Quartett"
Die Schriftstellerin und Literaturkritikerin Thea Dorn während der Sendung "Das literarische Quartett"© dpa picture alliance/ Svea Pietschmann
Sie persönlich begrüße diese Emanzipationsfortschritte. Aber die Haltung, diese Fortschritte gleichsam wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu behandeln, sei "ganz, ganz schwierig und kontraproduktiv", so Dorn auch mit Blick auf die eigene Position.
"Wenn ich mir überlege, damals, 2006, als Eva Herman ihre Thesen zum Apfelkuchen hatte und Frauen sollten doch lieber zuhause bleiben, gehörte ich zu denen, die sich wahnsinnig aufgeregt haben." Bei einer Diskussion sei sie gewissermaßen mit dem "Bulldozer" an Herman ran: "Mein Gott, wie kann man im Jahre 2006 einen solchen Stuss verzapfen!" Heute würde sie sagen, das sei ein Fehler gewesen. Obwohl sie Hermans Position immer noch für "Stuss" hält. Dennoch: "Ich glaube, dass diese Aggressivität, zu sagen: der andere ist so bekloppt, dass er legitimerweise überhaupt keinen Platz mehr in der Diskussion hat, dass das unsere Gesellschaft spaltet."

Jan Fleischhauer: Die Gesellschaft hat sich bewegt

Was Emanzipationsfortschritte angeht, sieht Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer keinen großen Dissens in der Gesellschaft:
"Mein Eindruck ist, die meisten Leute sind ja gutwillig, und man sieht, dass das, worüber Thea Dorn spricht, nämlich diese Emanzipationsfortschritte, von einer großen Mehrheit der Bevölkerung geteilt werden. Das ist ihnen nicht aufgestülpt, sondern die meisten Leute sagen: Ja, das ist schon okay heute, dass auch Schwule heiraten dürfen. Da hat sich die Gesellschaft bewegt."
Für Fleischhauer liegt das Problem im Diskurs: "Was nach meiner Erfahrung die Leute kirre macht, ist, wenn man sozusagen ständig ihnen das Bekenntnis dazu abverlangt, dass sie auch ganz fortschrittlich denken - und man immer auch versucht, ihnen nachzuweisen, dass da irgendwo noch eine Ecke ist, wo sie noch nicht so ganz fortschrittlich angekommen sind. Und das wird meist an der Sprache festgemacht."
"Spiegel"-Redakteur Jan Fleischhauer.
"Spiegel"-Redakteur Jan Fleischhauer.© Deutschlandradio - Andreas Buron
(uko)
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