Der teilnehmende Beobachter
Viele Zeitgenossen haben ihn zunächst nicht recht ernst genommen: In seiner Habilitationsschrift berichtete der vor 150 Jahren geborene Anthropologe und Ethnologe Franz Boas von einem Aufenthalt bei den Eskimos auf Baffin Island im Norden von Kanada. Doch das Habilitationsgutachten stellte Boas' wissenschaftlichen Beobachtungen auf eine Ebene mit banalen Reiseberichten. Kritisch wurde angemerkt, es handle sich um eine dermaßen entlegene Weltgegend, dass sich dafür wohl kaum jemand interessieren würde. Boas ließ sich davon nicht entmutigen. Irene Meichsner erinnert im Kalenderblatt an den Anthropologen und Ethnologen, der heute vor 150 Jahren geboren wurde.
Michi Knecht: "Allgemein, in intellektuellen Kreisen Deutschlands, wird er nicht angemessen erinnert. Ich würde behaupten, er ist eine der ganz wichtigen Wissenschaftlerpersönlichkeiten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und diesem Status ist das Erinnern, das wir hier haben, nicht angemessen."
Michi Knecht ist Ethnologin an der Humboldt-Universität in Berlin, dort wo Franz Boas sich 1886 habilitierte. Er begründete die ethnologische Feldforschung und ebnete den Weg zur modernen "Kulturanthropologie", doch hierzulande kennt man sein Lebenswerk kaum. Schon als 13-jähriger Junge träumte Boas von Reisen in ferne Länder.
"Neue Völker und deren Sitte und Gewohnheiten möchte ich kennen lernen, auch die schon bekannten Galla-, Kaffern- und Hottentotten-Völker!"
Franz Boas, am 9. Juli 1858 in Minden in Westfalen geboren, stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Mit 25 Jahren, nach seinem Studium der Physik und Geographie, stürzte er sich in ein Abenteuer. Begleitet von Wilhelm Weike, den seine Eltern als Diener beschäftigten, reiste Boas mit der "Germania", dem Forschungsschiff der Deutschen Polar-Kommission, in die arktische Inselwelt. Binnen eines Jahres erkundete er auf
Zwölf Schlittentouren fast den gesamten Südosten von Baffin Island im Norden von Kanada. Einmal verirrten sich Boas und Weike; halberfroren erreichten sie eine Ansiedlung der Eskimos. Von deren Gastfreundschaft überwältigt, schrieb Boas in sein Tagebuch:
"Ich frage mich oft, inwieweit unsere 'gute Gesellschaft' den sogenannten 'Wilden' eigentlich überlegen ist. Und ich finde, je mehr ich von deren Gebräuchen kennen lerne, dass wir kein Recht haben, auf sie herabzusehen."
Boas lebte bei den Inuit, ging mit den Männern auf die Jagd. Diese Erfahrung machte ihn zum Anthropologen, zum "Menschenforscher". Er war von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Kulturen überzeugt - eine Position, die man später als "Kulturrelativismus" bezeichnete.
Michi Knecht: "Was man mit Boas assoziiert, dieser moderne Kulturbegriff - Kultur als etwas, was alle Menschen gleichwertig haben, das war ja sozusagen ein Gegenentwurf zu Stufenmodellen des 'Evolutionismus', so hieß das damals, wo man annahm, alle Gesellschaften, alle Kulturen auf der Erde, würden sukzessive die gleichen Stufen durchlaufen."
Seine neue Methode der "teilnehmenden Beobachtung" machte Boas zum akademischen Außenseiter. Er emigrierte, auch wegen antisemitischer Anfeindungen, 1886 nach Amerika und entdeckte dort seine Liebe zu den Indianern an der Nordwestküste der USA und Kanadas. Vor allem die Kwakiutl im Norden von Vancouver Island besuchte er immer wieder. Er sammelte Alltagsgegenstände der Indianer, dokumentierte ihre Traditionen, zeichnete ihre Gesänge mit einem Phonographen auf. Auf einer Wachswalze hört man, ganz kurz, sogar seine eigene Stimme. Boas singt ein Lied, um das Vertrauen der Indianer zu gewinnen.
Von 1899 bis 1936 war Boas Professor für Anthropologie an der Columbia Universität in New York. Er hatte prominente Schüler, darunter Ruth Benedict und Margaret Mead. Mit Boas bekam die Ethnologie auch eine tagesaktuelle Dimension. Er protestierte gegen jede Form von Rassismus; nach Hitlers Machtergreifung schrieb er in einem Offenen Brief an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg.
"Wenn Unfläterei, Gemeinheit, Unduldsamkeit, Ungerechtigkeit, Lüge heutzutage als deutsch angesehen werden, wer mag dann noch ein Deutscher sein. Ich habe mich immer mit Stolz einen Deutschen genannt, heute ist es fast so gekommen, dass ich sagen muss, ich schäme mich, ein Deutscher zu sein."
Franz Boas, dessen Bücher von den Nazis verbrannt wurden, unterstützte die politisch Verfolgten. Am 21. Dezember 1942 erlitt er in New York während eines Festessens zu Ehren des - vor den Nazis geflohenen - französischen Ethnologen Paul Rivet einen Schlaganfall. Sein Tischnachbar, der damals 34-jährige, ebenfalls in die USA geflüchtete Philosoph und Ethnologe Claude Lévy-Strauss, schilderte die Szene.
"Es herrschte klirrende Kälte, und Boas trug eine alte Pelzmütze auf dem Kopf, die von seinen Expeditionen zu den Eskimos stammen musste, also vor 60 Jahren. Boas war sehr vergnügt. Mitten in der Unterhaltung stieß er plötzlich den Tisch zurück und fiel nach hinten um. Rivet, der seine Laufbahn als Militärarzt begonnen hatte, bemühte sich vergeblich, ihn wiederzubeleben: Boas war tot."
Eine umfassende Dokumentation zum Lebenswerk des Anthropologen Franz Boas mit den Stimmen zahlreicher Zeitzeugen finden Sie in dem Feature:
Der Menschenforscher- Vor 150 Jahren wurde der amerikanische Kulturwissenschaftler Franz Boas in Minden geboren, von Wera Reusch und Jürgen Salm, WDR 5, Scala - Aktuelles aus der Kultur, Sdg. vom 12.05.2008
Michi Knecht ist Ethnologin an der Humboldt-Universität in Berlin, dort wo Franz Boas sich 1886 habilitierte. Er begründete die ethnologische Feldforschung und ebnete den Weg zur modernen "Kulturanthropologie", doch hierzulande kennt man sein Lebenswerk kaum. Schon als 13-jähriger Junge träumte Boas von Reisen in ferne Länder.
"Neue Völker und deren Sitte und Gewohnheiten möchte ich kennen lernen, auch die schon bekannten Galla-, Kaffern- und Hottentotten-Völker!"
Franz Boas, am 9. Juli 1858 in Minden in Westfalen geboren, stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Mit 25 Jahren, nach seinem Studium der Physik und Geographie, stürzte er sich in ein Abenteuer. Begleitet von Wilhelm Weike, den seine Eltern als Diener beschäftigten, reiste Boas mit der "Germania", dem Forschungsschiff der Deutschen Polar-Kommission, in die arktische Inselwelt. Binnen eines Jahres erkundete er auf
Zwölf Schlittentouren fast den gesamten Südosten von Baffin Island im Norden von Kanada. Einmal verirrten sich Boas und Weike; halberfroren erreichten sie eine Ansiedlung der Eskimos. Von deren Gastfreundschaft überwältigt, schrieb Boas in sein Tagebuch:
"Ich frage mich oft, inwieweit unsere 'gute Gesellschaft' den sogenannten 'Wilden' eigentlich überlegen ist. Und ich finde, je mehr ich von deren Gebräuchen kennen lerne, dass wir kein Recht haben, auf sie herabzusehen."
Boas lebte bei den Inuit, ging mit den Männern auf die Jagd. Diese Erfahrung machte ihn zum Anthropologen, zum "Menschenforscher". Er war von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Kulturen überzeugt - eine Position, die man später als "Kulturrelativismus" bezeichnete.
Michi Knecht: "Was man mit Boas assoziiert, dieser moderne Kulturbegriff - Kultur als etwas, was alle Menschen gleichwertig haben, das war ja sozusagen ein Gegenentwurf zu Stufenmodellen des 'Evolutionismus', so hieß das damals, wo man annahm, alle Gesellschaften, alle Kulturen auf der Erde, würden sukzessive die gleichen Stufen durchlaufen."
Seine neue Methode der "teilnehmenden Beobachtung" machte Boas zum akademischen Außenseiter. Er emigrierte, auch wegen antisemitischer Anfeindungen, 1886 nach Amerika und entdeckte dort seine Liebe zu den Indianern an der Nordwestküste der USA und Kanadas. Vor allem die Kwakiutl im Norden von Vancouver Island besuchte er immer wieder. Er sammelte Alltagsgegenstände der Indianer, dokumentierte ihre Traditionen, zeichnete ihre Gesänge mit einem Phonographen auf. Auf einer Wachswalze hört man, ganz kurz, sogar seine eigene Stimme. Boas singt ein Lied, um das Vertrauen der Indianer zu gewinnen.
Von 1899 bis 1936 war Boas Professor für Anthropologie an der Columbia Universität in New York. Er hatte prominente Schüler, darunter Ruth Benedict und Margaret Mead. Mit Boas bekam die Ethnologie auch eine tagesaktuelle Dimension. Er protestierte gegen jede Form von Rassismus; nach Hitlers Machtergreifung schrieb er in einem Offenen Brief an den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg.
"Wenn Unfläterei, Gemeinheit, Unduldsamkeit, Ungerechtigkeit, Lüge heutzutage als deutsch angesehen werden, wer mag dann noch ein Deutscher sein. Ich habe mich immer mit Stolz einen Deutschen genannt, heute ist es fast so gekommen, dass ich sagen muss, ich schäme mich, ein Deutscher zu sein."
Franz Boas, dessen Bücher von den Nazis verbrannt wurden, unterstützte die politisch Verfolgten. Am 21. Dezember 1942 erlitt er in New York während eines Festessens zu Ehren des - vor den Nazis geflohenen - französischen Ethnologen Paul Rivet einen Schlaganfall. Sein Tischnachbar, der damals 34-jährige, ebenfalls in die USA geflüchtete Philosoph und Ethnologe Claude Lévy-Strauss, schilderte die Szene.
"Es herrschte klirrende Kälte, und Boas trug eine alte Pelzmütze auf dem Kopf, die von seinen Expeditionen zu den Eskimos stammen musste, also vor 60 Jahren. Boas war sehr vergnügt. Mitten in der Unterhaltung stieß er plötzlich den Tisch zurück und fiel nach hinten um. Rivet, der seine Laufbahn als Militärarzt begonnen hatte, bemühte sich vergeblich, ihn wiederzubeleben: Boas war tot."
Eine umfassende Dokumentation zum Lebenswerk des Anthropologen Franz Boas mit den Stimmen zahlreicher Zeitzeugen finden Sie in dem Feature:
Der Menschenforscher- Vor 150 Jahren wurde der amerikanische Kulturwissenschaftler Franz Boas in Minden geboren, von Wera Reusch und Jürgen Salm, WDR 5, Scala - Aktuelles aus der Kultur, Sdg. vom 12.05.2008